2020 – Die Plätze 30 bis 21

Es ist vorbei! Das Krisenjahr 2020 schließt seine Pforten und hinterlässt Erinnerungen an zwölf außergewöhnliche Monate. In petto hatte es neben einer Pandemie und einer absurden US-Wahl auch jede Menge neue Filme. Die ärgerlichsten, nervigsten und anstrengendsten Vertreter habe ich bereits in meinen Flops abgefrühstückt. Doch ich kann den Jahreswechsel nicht guten Gewissens antreten, ehe nicht auch all jene Filme ausführlich gewürdigt wurden, die mir in diesem Jahr ganz besonders am Herzen lagen. Entsprechend folgen an dieser Stelle und in den kommenden Tagen meine 30 Lieblingsfilme des Jahres 2020. Und weil das in den letzten Jahren ja immer schon so gut geklappt hat, weise ich nun noch einmal auf Folgendes hin: Hierbei handelt es sich nicht um die aus Kritikersicht besten Filme des Jahres, sondern ausschließlich um meine ganz persönlichen, vollkommen subjektiv ausgewählten Lieblingsfilme! Doch genug der Theorie! Hier kommen also meine ersten zehn Lieblingsfilme aus knapp 200, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember hierzulande im Kino, auf Blu-ray, als VOD-Titel oder auf einem Festival in Deutschland erschienen sind. Viel Spaß!

30

Meine Topfilme des Jahres 2020 eröffnet mit HORSE GIRL ein Netflix-Original. Regisseur und Drehbuchautor Jeff Baena inszeniert den hier sehr zerbrechlich auftretenden „Community“-Star Alison Brie in der Hauptrolle der Sarah als pferdeliebende Träumerin, die Nacht für Nacht von merkwürdigen Visionen heimgesucht wird, bis sie irgendwann realisiert, dass ebendiese Visionen Aufschluss über ihre Zukunft geben. Infolgedessen versucht Sarah, hinter das Geheimnis ihrer Träume zu gelangen und darf dabei einen Film bestreiten, für den die Werke des Surrealisten David Lynch sichtbar Pate gestanden haben. Zu den avantgardistischen Klängen von Josiah Steinbrick und Jeremy Zuckerman traumwandelt Alison Brie durch diese reizvolle Mischung aus Coming-of-Age-Film, Charakterdrama und Fantasythriller – kaum greifbar, aber zu jeder Sekunde faszinierend. Seine diffuse Spannung macht „Horse Girl“ tonal zu einem Film, den es in den vergangenen zwölf Monaten kein zweites Mal gab. Man sollte allerdings dafür bereit sein, sich auf das zurückgenommene Tempo und die mit vielen Leerstellen versehene Story einzulassen.

29

Die #MeToo-Kampagne hat vor einigen Jahren angefangen, deutliche Spuren im Entertainmentbetrieb Hollywood zu hinterlassen. Immer mehr Kreative sorgen dafür, dass ein Bewusstsein für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Filmgeschäft geschaffen wird. Kitty Greens THE ASSISTANT, der hierzulande vereinzelt auf Filmfestivals gezeigt wurde und im Herbst schließlich einen Direct-to-DVD-Start erhielt, entstand ebenfalls im Fahrwasser des Aufschreis – und kommentiert die diesem zugrunde liegende Ursache auf subtile Weise sehr direkt. Julia Garner mimt Jane, die Mitarbeiterin einer Filmproduktion. Der Film folgt ihr auf einem einzelnen Arbeitstag: Sie ist morgen als erstes im Büro und verlässt es abends als Letzte. Alles was dazwischen passiert, ist inspiriert von Erlebnissen, die Frauen in Janes Position widerfahren ist. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass es in dem Drama um den Fall Harvey Weinstein geht. „The Assistant“ ist eine präzise beobachtende Studie über das Arbeiten in toxischer Atmosphäre, die enorm viel Aufschluss über die Machtverhältnisse hinter den Kulissen Hollywoods gibt.

28

Oh, what a Ride! Sam Mendes‘ Kriegsepos 1917 startete am 16. Januar dieses Jahres und behielt seinen Status als einer der besten Filme des Jahres bis zum Schluss bei. Es ist aber auch einfach verdammt spektakulär, was dem „American Beauty“-Regisseur hier gelungen ist. Im Ersten Weltkrieg müssen sich die beiden Soldaten Schofield und Blake im Zuge einer lebensgefährlichen Mission tief in Feindesgebiet vorwagen. Inszeniert hat Mendes das ganze als fingierten One-Shot: Rund zwei Stunden lang scheint es so, als würde die Kamera (bis auf eine Ausnahme) nie absetzen, sondern ohne Schnitt den Hauptfiguren folgen. Dadurch gelingt es den Machern, eine Intimität und Menschlichkeit in den Krieg zu transportieren, die das Grauen um die Figuren herum dadurch noch viel bedrückender erscheinen lässt. Das ist auf so vielen Ebenen brillant, dass man viele Aufnahmen aus „1917“ lange Zeit nicht vergisst. Und die beiden Hollywood-Newcomer George Mackay und Dean-Charles Chapman machen ihre Aufgabe ganz hervorragend – sie tragen einen Film auf ihren Schultern, dessen beeindruckendstes Element nicht die Schauspieler sind.

27

Auf geht’s nach Spanien. Von dort kam 2020 nämlich ein besonders ausgefallener Topfilmeanwärter. DIE OBSKUREN GESCHICHTEN EINES ZUGREISENDEN ist genau das, was der Titel verspricht: obskur. Und das gleichermaßen im besten wie auch schlimmsten Sinne, denn für so einen Film wie diesen muss man gewappnet sein. Nicht, weil die episodenhafte Groteske ab 18 freigegeben ist und entsprechend mit einigen drastischen Aufnahmen nicht geizt. Nicht, weil die einzelnen Episoden so verschwurbelt sind, dass man mehr als einmal droht, den Überblick zu verlieren. Nicht, weil es die Zuschauer:innen hier gleich mehrfach mit äußerst skurrilen Zeitgenoss:innen zu tun bekommen. Und auch nicht, weil durch die surrealistische Inszenierung alsbald jedwedes Gespür für Zeit und Raum verloren geht. Nein, die wahre Mutprobe liegt darin, im Mittelteil – dann nämlich, wenn Regisseur Aritz Moreno eine spektakulär toxische Beziehung bebildert – nicht die Fassung zu verlieren. „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ ist Kino, das man so schnell nicht vergisst – wirklich!

26

Gute Biopics sind in der Lage, Interesse für eine Person zu schaffen, selbst wenn man zuvor keine Berührungspunkte mit ihr hatte. „The Voices“-Regisseurin Marjane Satrapi ist das mit ihrem Porträt über die weltberühmte Chemikerin Marie Curie gelungen. MARIE CURIE – ELEMENTE DES LEBENS blickt der beeindruckenden Persönlichkeit bei der Entdeckung der Radioaktivität über die Schulter und stellt diese ihren Auswirkungen auf die Gegenwart und Zukunft gegenüber. Die dafür zwischendrin eingeschobenen Traumsequenzen und Visionen könnten auch aus Musikvideos stammen, verleihen dem im Original „Radioactive“ betitelten Film allerdings eine ungeahnte Dynamik. Doch es geht Satrapi nicht nur um diese Entdeckung, sondern darum, die Gesamtheit Marie Curies zu begreifen. Auch dank der einmal mehr hervorragend aufgelegten Rosamund Pike, die aufgrund ihrer Intelligenz (!) für die Rolle gecastet wurde, hat man das Gefühl, die Wissenschaftlerin als nahbare Frau mit Schwächen, aber eben auch Unmengen von Stärken begreifen zu können. Am Ende möchte man sich vor Film und Person verneigen.

25

Diese Platzierung ist das Ergebnis der wohl größten Überraschung 2020. Als Ende des vergangenen Jahres der erste Trailer zu Wolfgang Grooses Rentnerkomödie ENKEL FÜR ANFÄNGER veröffentlicht wurde, wirkte der Zusammenschnitt nur bedingt reizvoll auf mich. Manche Gags und Pointen wirkten zwar gelungen, die meisten von ihnen allerdings angestaubt – und das Thema selbst wirkte auch nur bedingt spannend. Doch dann ereignete sich einer der schönsten Kinobesuche der vergangenen zwölf Monate. Dem Regisseur ist nicht einfach nur ein bemerkenswert kurzweiliger Generationenclash, den seine toll aufgelegten Hauptdarsteller:innen Maren Kroymann, Heiner Lauterbach und Barbara Sukowa zum Leben erwecken. „Enkel für Anfänger“ ist obendrein ein aufrichtiger Kommentar auf die mannigfaltigen Formen der Familie. Egal ob Patchwork, alleinerziehend oder das einst traditionelle Vater-Mutter-Kind-Modell: Am Ende ist wichtig, dass es den in ihr lebenden Menschen gut geht. Eine simple Botschaft, berührend und ehrlich vorgetragen – ich ziehe meinen Hut.

24

Im Falle des Anfang des Jahres bei Netflix erschienen Films DER SCHWARZE DIAMANT (im Original: „Uncut Gems“) gibt es ein Prädikat, das ihm so ziemlich jeder verlieh, der ihn gesehen hat: anstrengend. Den Safdie-Brüdern ist hier eine Milieustudie gelungen, die zum Klang des Geldes das Porträt eines Getriebenen beschreibt. Im Mittelpunkt der Geschehnisse: Adam Sandler, der nie besser war als hier und einmal mehr beweist, das in ihm weitaus mehr steckt, als er ohnehin regelmäßig in seinen mal mehr, mal weniger gelungenen Komödien unter Beweis stellt: Nämlich ein richtig guter Schauspieler! „Der schwarze Diamant“ ist ein gleichermaßen virtuoser wie atemloser Trip durch das New Yorker Diamond District, der audiovisuell begeistert die Zuschauer:innen in eine Welt entführt, die ihnen im Kino lange vorenthalten blieb. Weshalb der Film so anstrengend ist? Weil er eine Hektik zelebriert, die sich vom Rhythmus her dem Pulsschlag des Protagonisten anpasst. Und der gibt sich einer solchen Raserei hin, dass es kaum möglich ist, zwischendurch auch mal durchzuatmen. Ich will „Der schwarze Diamant“ vielleicht nicht nochmal sehen, aber ich bin froh darum, es getan zu haben.

23

Der Film auf meinem Platz Nummer 23 ist von einem gänzlich anderen Kaliber. Denn er macht richtig Spaß, entlässt einen mit einem sehr positiven Gefühl und lässt dennoch eine gewisse Bissigkeit durchscheinen. Die Rede ist von der auf wahren Ereignissen basierenden Politkomödie IRRESISTIBLE – UNWIDERSTEHLICH, in der Steve Carell den Parteiberater Gary Zimmer verkörpert. Dieser soll der Demokratischen Partei wieder zu mehr Zuspruch in der ländlichen Bevölkerung verhelfen, indem er den pensionierten Veteran Colonel Jack Hastings bei dessen Wahlkampf um das Bürgermeisteramt der Kleinstadt Deerlaken unterstützt, nachdem dieser mit einer flammenden Rede für die Einwandererbevölkerung einen viralen Hit gelandet war. Jon Stewart gelingt mit seiner Satire „Irresistible“ ein gleichermaßen komischer wie smart beobachtender Blick auf die bisweilen absurden Abläufe innerhalb des US-amerikanischen Politsystems. An vorderster Front: Steve Carell und Rose Byrne, die zusammen zwei herrlich leidenschaftliche Erzfeinde abgeben.

22

Tonal könnten meine Jahrescharts 2020 kaum abwehslungsreicher sein. Nach dramatischen Biopics, spitzfindigen Politsatiren und surrealistischen Episodenmonstren findet ihr auf Platz 22 einen Film, den ich nach dem ersten Schauen nicht sofort ins Herz geschlossen habe. Oder besser gesagt: Ich konnte es nicht. Denn Charlie Kaufmans Romanverfilmung I’M THINKING OF ENDING THINGS kriegt man wie schon „Horse Girl“ auf Platz 30 kaum richtig zu fassen. Man muss sich ganz einfach einlassen auf diese verquere, melancholische Welt, in die uns der „Vergiss mein nicht“- und „Anomalisa“-Autor entführt. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, gespielt von Jessie Buckley, die mit ihrem neuen Freund, verkörpert von Jesse Plemons, erstmals bei den Schwiegereltern aufschlägt. Die Fahrt dorthin, das Essen vor Ort und die abschließende Rückkehr nach Hause erzählen auf kongenial-philosophische Weise vom Missverständnis der Liebe. „I’m thinking of Ending Things“ ist eine inszenatorische Wundertüte vor, in der Horror- und Musicalmotive gleichermaßen auftreten. Ein Film zum mehrmaligen Entdecken.

 

21

Ich war nie ein Fan des von Ruben Östlund inszenierten, hochgelobten Beziehungsdramas „Höhere Gewalt“. Zu sehr verlässt sich der Film darauf, dass die Figuren nicht miteinander sprechen und dadurch Missverständnisse entstehen. Zu altbacken und einfältig sind die darin heraufbeschworenen Geschlechterbilder von der toughen Frau und dem Mann, der generell ein Weichei ist. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit Genderklischees sieht anders aus – und gelingt dem von Nat Faxon und Jim Rash inszenierten Remake DOWNHILL deutlich besser. Ihr Film ist keine trockene Satire, sondern eine grelle Groteske, die immer genug Bodenhaftung hat, um als ernster Kommentar auf Übersprungshandlungen und zwischenmenschliche Missverständnisse zu funktionieren. Will Ferrell und Julia Louis-Dreyfus mimen ein Ehepaar, dem man stundenlang beim Streiten zuschauen könnte – viel spannender wird es aber, wenn sich beide in der Versöhnung abmühen. „Downhill“ seziert menschliche Verhaltensweisen mit scharfer Zunge und bleibt dabei trotzdem durch und durch Komödie. Mag ich!

In den nächsten Tagen geht es hier weiter mit den Plätzen 20 bis 11…

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