Tod auf dem Nil

Lange hat es gedauert, aber nun kommt Kenneth Branaghs zweite Agatha-Christie-Adaption nach „Mord im Orient Express“ in die Kinos. Ob TOD AUF DEM NIL mit dem gemischt aufgenommenen Vorgänger mithalten kann, verraten wir in unserer Kritik.

OT: Death on the Nile (USA/UK 2022)

Der Plot

Millionenerbin Linnet Ridgeway (Gal Gadot) stößt ihrer einzigen Freundin, Jacqueline de Bellefort (Emma Mackey), vor den Kopf: Im Eiltempo verliebt sie sich in Jacqueline Verlobten, Simon Doyle (Armie Hammer). Bald darauf laden Linnet und Simon zu einer dekadenten Hochzeitsreise auf dem Nil, obwohl sich die Braut in Anwesenheit ihrer Bekannten, Verwandten und Geschäftspartner denkbar unwohl fühlt. Also bittet sie Meisterdetektiv Hercule Poirot (Kenneth Branagh), auf sie aufzupassen. Trotz Poirots Einsatz kommt es auf der Ägypten durchkreuzenden S.S. Karnak zu einem Mord – und die gesamte Hochzeitsgesellschaft steht in Verdacht…

Kritik

Bei einem Budget von 55 Millionen Dollar spielte Kenneth Branaghs Leinwandadaption des Kriminalromanklassikers „Mord im Orient Express“ von Agatha Christie über 350 Millionen Dollar an den Kinokassen ein. Ein zweiter Film rund um Spitzendetektiv Hercule Poirot wurde bereits in dem bildhübsch ausgestatteten Kriminalfilm von 2017 angedeutet – und angesichts dieses Kinoeinspiels war dieser alsbald abgemachte Sache: Mit „Tod auf dem Nil“ nahmen sich Hauptdarsteller, Produzent und Regisseur Kenneth Branagh („Artemis Fowl“) sowie Drehbuchautor Michael Green („Blade Runner 2049“) den wohl zweitberühmtesten Fall mit dem schnauzbärtigen Belgier vor, für den sich erneut ein namhaftes Ensemble versammelte. Dann kam die Corona-Pandemie dazwischen, die den für Herbst 2020 anvisierten Kinostart unattraktiv machte. Zunächst wurde die Romanadaption auf 2021 verschoben, doch dann wurden Vorwürfe gegen Cast-Mitglied Armie Hammer („Call Me By Your Name“) laut: Er habe seine Affären mit Psychoterror sowie Kannibalismus-Fantasien verängstigt und sexuelle Gewalt an ihnen ausgeübt. Im März 2021 begannen gar polizeiliche Untersuchungen gegen Hammer, die einer Anschuldigung der Vergewaltigung nachgingen. Hammers Anwälte wiesen zwar sämtliche Vorwürfe von sich, für die Verantwortlichen hinter „Tod auf dem Nil“ bedeutete es trotzdem einen PR-Albtraum. Nachdrehs, wie sie der als Produzent agierende Ridley Scott bei seiner Regiearbeit „Alles Geld der Welt“ unternahm, um Kevin Spacey gegen Christopher Plummer auszutauschen, wurden dennoch nicht in Betracht gezogen: Spacey wurde in Scotts Thrillerdrama als abgeschieden lebender Misanthrop besetzt, der sich nur wenige Szenen mit anderen Figuren teilt. Nachdrehs waren daher anstrengend, aber vergleichsweise leicht machbar.

Regisseur Kenneth Branagh ist erneut in der Hauptrolle des Privatdetektivs Hercule Poirot zu sehen.

Hammer dagegen tritt in „Tod auf dem Nil“ in vielen Szenen auf, in denen er sich mitten im großen Star-Ensemble tummelt – Nachdrehs wären logistisch kompliziert sowie immens teuer geworden. Also blieb der Film unangetastet und der Kinostart verschob sich auf Frühjahr 2022 – wohl mit der unausgesprochenen Hoffnung, dass sich das Publikum nicht weiter an die Berichte erinnert und/oder die Fachpresse ein anderes Narrativ sucht. Und doch fällt es einfach, sich auf diese Vorgeschichte einzuschießen. Denn im Gegensatz zu Branaghs runder, eindrucksvoller „Mord im Orient Express“-Adaption ist „Tod auf dem Nil“ gerade noch solide, weshalb sich aus filmexternen Themen die spannenderen Aufhänger ziehen lassen. Vor allem optisch ist „Tod auf dem Nil“ trotz 90-Millionen-Dollar-Budget ein Abstieg. Das ist teils dem Produktionsdesign geschuldet: Die S.S. Karnak ist kein derart charaktervoller, detaillierter Schauplatz, sondern ziemlich blank, sodass die diversen Verhörgespräche zwischen Poirot und den Verdächtigen monoton anzuschauen sind. Zwar versuchen Branagh und Kameramann Haris Zambarloukos („Cinderella“), die Dialogpassagen aufzupeppen, indem sie gelegentlich die Figuren durch Fenster filmen, was zu Spiegelungen, Lichtbrechungen und ähnlichen Effekten führt. Trotzdem bleibt der visuelle Charme Branaghs erster Christie-Adaption aus, zumal der Regisseur abseits des Prologs und Epilogs auf eine Überbelichtung setzt, die an TV-Krimis erinnert. Im Zusammenspiel mit halbgaren Digitaltricks, die die echten Drehorte alles andere als nahtlos ergänzen, wird diese Poirot-Mission endgültig zu einer bildästhetischen Enttäuschung – da helfen die schmucken Kostüme nur wenig.

„Im Gegensatz zu Branaghs runder, eindrucksvoller ‚Mord im Orient Express‘-Adaption ist ‚Tod auf dem Nil‘ gerade noch solide, weshalb sich aus filmexternen Themen die spannenderen Aufhänger ziehen lassen. Vor allem optisch ist ‚Tod auf dem Nil‘ trotz 90-Millionen-Dollar-Budget ein Abstieg.“

Erschwerend kommt hinzu, dass „Tod auf dem Nil“ deutlich stärker von einem eindrucksvollen Look abhängig ist als der „Mord im Orient Express“. Denn in Agatha Christies „Tod auf dem Nil“ vergeht sehr viel Erzählzeit, bevor es überhaupt zum obligatorischen Mord kommt. Die Wartezeit auf den Moment, der die genregemäß vom Publikum herbeigesehnten (und von Christie raffiniert geschriebenen) Ermittlungen lostritt, gerät in der Buchvorlage atmosphärisch, spannend und kurzweilig. Christie bezirzt mit Reiselust weckenden Beschreibungen Ägyptens, unterhält mit Dialogen und Charakterisierungen, die sie mit spitzer Feder schrieb, und sie versteht es, die Erwartungen ihrer Leserschaft für sich auszunutzen, indem sie schon lange vor dem Mord immer wieder verdächtiges Verhalten schildert. In der komprimierten Filmlaufzeit fällt es schwer, diesen Balanceakt zu wiederholen. Der „Tod auf dem Nil“-Kinofilm von 1978 vermag es, bis zum unvermeidlichen Mord spaßig und dank der berückenden Aufnahmen von Originalschauplätzen auch atmosphärisch zu sein, sowie voller Reisefieber zu stecken. Nur das Schüren von Verdächtigungen ist im 140 Minuten langen Film etwas holprig – Poirot sitzt oder steht unglaubwürdig oft genau in dem Moment in Hörweite, in dem sich ein paar Figuren über dubiose Dinge unterhalten.

Ägypten gibt einen eindruchsvollen Schauplatz ab.

Branagh und Green versuchen nicht nur, dasselbe in kürzerer Laufzeit zu bewerkstelligen, sodass die Charakterisierung der meisten Verdächtigen noch dünner ausfallen. Ihnen geht während der ersten Filmhälfte auch weitestgehend das Urlaubsfeeling abhanden. Was aber richtig schade ist: Green und Branagh beweisen, dass sie eine originelle Idee haben, wie sie sich von der berühmten ersten Leinwandadaption des Stoffes abheben und die Herausforderungen, den Roman kinoreif zu komprimieren, umgehen. Jedoch bleiben sie ihrem Gedanken nicht treu, sondern greifen im Stop-and-Go-Verfahren nur sporadisch darauf zurück: Phasenweise verlegen sie den erzählerischen Schwerpunkt von der Hochzeitsgesellschaft und den Ermittlungen hin zu Poirots Persönlichkeit. Sie legen den Detektiv als verbissene Person an, die den Drang verspürt, Indizien kombinieren und damit seinen Mitmenschen helfen zu müssen. Wenn in seiner Nähe ein Unglück geschieht, gibt er sich unweigerlich die Schuld. Branaghs klasse gespielter Poirot ist in der zweiten Filmhälfte daher kurz davor, dass er seine stoisch-professionelle Fassade verliert. Bedauerlicherweise hadern Green und Branagh damit, alles auf diesen erzählerischen Einfall zu setzen – weder packen sie Poirot konsequent in den Vordergrund, noch bemühen sie sich um eine ständige Balance zwischen Poirot und den Ermittlungen. Stattdessen verschwindet der intimere Ansatz wiederholt, während sich pflichtgemäß die Verhöre mit den grob skizzierten Verdächtigen ausbreiten.

„Green und Branagh beweisen, dass sie eine originelle Idee haben, wie sie sich von der berühmten ersten Leinwandadaption des Stoffes abheben und die Herausforderungen, den Roman kinoreif zu komprimieren, umgehen. Jedoch bleiben sie ihrem Gedanken nicht treu, sondern greifen im Stop-and-Go-Verfahren nur sporadisch darauf zurück.“

Das ist keineswegs eine Katastrophe: Der Fall ist aus gutem Grund ein Klassiker, und auch wenn abseits Emma Mackey („Eiffel in Love“) als ebenso aufgebrachte wie aufgewühlte Ex und Sophie Okonedo („After Earth“) als kesse Diva niemand im Nebencast seiner Rolle einen positiv-denkwürdigen Stempel aufdrücktt, so spielt das Ensemble nahezu durchweg solide auf. Allein Gal Gadot („Wonder Woman 1984“) kracht ungalant durch einige augenzwinkernd gemeinte Dialogpassagen. Unterhaltung lässt sich also durch „Tod auf dem Nil“ ziehen – nur ist es frustrierend, die baumelnden Fäden zu sehen, die diesen Krimi qualitativ nahtlos an „Mord im Orient-Express“ hätten anschließen lassen können, wären die Verantwortlichen eine Spur konsequenter gewesen.

Fazit: Kenneth Branagh vertieft seine Interpretation des legendären Hercule Poirot – und ackert sich währenddessen durch eine weniger inspirierte Adaption von Agatha Christies Urlaubsflair-Mordfall „Tod auf dem Nil“. Aufgrund eines Charme missen lassenden Looks und eines recht wenig Eindruck hinterlassenden Casts an Nebendarsteller:innen bleibt dieser Fall trotz einiger starker Ideen hinter Branaghs „Mord im Orient Express“ zurück. Genrefans gehen dennoch ins Kino.

„Tod auf dem Nil“ ist ab dem 10. Februar 2022 in den deutschen Kinos zu sehen.

3 Kommentare

  • >>Wer „Mord im Orient Express“ mochte, der wird „Tod auf dem Nil“ enttäuschend finden…<<

    Und was ist mit denen, die damals von „Mord im Orient Express“ schon enttäuscht waren?

    • Sagen wir es so: Es gibt auch welche, die vom Orient-Express enttäuscht waren und diesen Film nun besser fanden.

      Besser, weil Branagh hier der Figur des Poirot eine neue Dimension hinzufügt, die sie vorher nicht hatte. In keiner anderen Verfilmung.

      Das ist ganz gewisst nicht der ganz große Wurf. Aber solide Unterhaltung ist es schon, uns hat der Film Freude gemacht.

  • Roland Jankowsky

    Die Frage ist, ob Poirot überhaupt eine „neue Dimension“ braucht? Anfangs dachte ich, ich wäre in einem Trailer für „Im Westen nichts neues“ gelandet, aber nein, es sollte wohl der Versuch einer „neuen Dimension“ sein. Wofür?

    Seine Genialität liegt in seinen „kleinen grauen Zellen“, oft genug und sicher nicht ohne Absicht erwähnt, die mit etwas Exzentrik und Getue seinen Charakter ausmachen. Er ist eben nicht James Bond, Ethan Hunt, Jason Bourne oder der revolverschwingende Frank aus Spiel mir das Lied vom Tod. Branagh erfindet einen neuen Poirot, der im Orientexpress auf der Brücke eine Verfolgungsjagd hinlegt wie einer der oben genannten Actionhelden. Der Wunsch nach dem perfekten Ei wird nicht augenzwinkernd en passant gestreift, sondern gerät zur überkanditelten, gar unsympathischen „plat principal“ eines kleinen Diktators, der damit ein ganzes Hotel auf den Kopf stellt. Sein Poirot hantiert auf dem Nil mit Waffen wie der Revolverheld Frank. Dessen „graue Zellen“ eigentlich nur noch Beiwerk zu einem bunten Hollywood-Brimborium sind und nicht mehr zentraler, autorengewollter Anker. Warum schreibt und verfilmt Branagh nicht eine eigene Detektivgeschichte? Weil er damit nur einen Bruchteil verdienen würde. Neben einer gewissen multiplen Könnerschaft, die man ihm nicht absprechen kann, ist er bei seinen Christie-Verfilmungen für mich nur ein eitler Pfau, der sich stets über die Figur(en) erhebt und sich selbst in den Mittelpunkt stellt. Banal.

    Die Millionen, die Branagh mit „Agatha Christie & Poirot“ verdient, scheinen ihm Recht zu geben. Aber er kann einem Peter Ustinov auch nicht ansatzweise das Wasser reichen.

Und was sagst Du dazu?