Titane

Bereits mit ihrem Regiedebüt „Raw“ sorgte die französische Regisseurin Julia Docournau für Furore. Ihr Folgewerk TITANE gewann in diesem Jahr dann sogar die Goldene Palme in Cannes, als wesentlich runderer Film erweist sich allerdings ihr Erstling. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.

OT: Titane (FR/BEL 2021)

Der Plot

Seit die smarte, hübsche Tänzerin Alexia (Agatha Rousselle) in Kindheitstagen einen schweren Autounfall hatte, trägt sie eine Titanplatte in ihrem Kopf. Diese schränkt sie mittlerweile zwar nicht mehr ein, ihre Faszination für harte Metalle hat sie allerdings nicht verloren. Diese Leidenschaft gipfelt eines Tages in einem wüsten, sexuellen Akt; Und Alexia wird schwanger. Doch nicht nur das. Die junge Frau hat ein finsteres Doppelleben, das sie eines Tages dazu zwingt, ihre eigene Identität aufzugeben und unterzutauchen. Der verzweifelte Vincent (Vincent Lindon) nimmt sie unwissend bei sich auf. Doch je länger die beiden unter einem Dach wohnen, desto schwieriger wird es für Alexia, ihre wahre Identität geheim zu halten. Auch, weil ihr Bauch im Zuge der Schwangerschaft immer größer und größer wird…

Kritik

Die Verschmelzung von Mensch und Maschine ist so alt wie das Science-Fiction-Kino selbst. Häufig geht es dabei um die Frage, ob, beziehungsweise ab wann ein technologisches Konstrukt menschliche Empfindungen in sich trägt und daraufhin wie ein menschliches Wesen behandelt werden sollte. Aber auch darum, zu hinterfragen, wo hier die Grenze verläuft. „Raw“-Regisseurin Julia Docournau geht in ihrem in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Fantasy-Thriller (sofern man den Film denn überhaupt in ein Genre einordnen kann) „Titane“ nochmal weiter. Ihre Geschichte hat zwar nichts mit Künstlicher Intelligenz zu tun, um einen Hybriden aus etwas Menschlichem und etwas nicht Menschlichem geht es trotzdem. Subtil geht die auch für das Skript verantwortliche Docournau in „Titane“ nicht vor, um hieraus größtmögliche Faszination zu schaffen. Direkt zu Beginn sehen wir die Protagonistin Alexia als Kind dabei, wie ihr eine riesige Titanplatte in den Kopf implantiert wird. Kurze Zeit später hat sie Sex mit einem Auto (!). Ja, richtig gelesen: Auf diesen Plot wären eine ganze Reihe Bodyhorror-Filmer und der französische Regie-Weirdo Quentin Dupieux sicherlich mächtig stolz. Ließe sich eine solche Prämisse doch hervorragend ins allzu Absurde, explizite Schockerkino (oder, wie im Falle von „Rubber“, ins Satirische) drehen. Docournau nutzt die Ausgangslage dagegen als Veranschaulichung der ultimativen, weiblichen Objektifizierung, vergisst bei ihrer Fetisch-Dekonstruktion allerdings das wohl Wichtigste: ihre Hauptfigur.

Alexia (Agathe Rousselle) ist von Autos fasziniert… 

Direkt in den ersten zehn Minuten erfüllt Julia Docournau eine nicht seltene Männerfantasie, wenn sie ihre hier ihr Langfilmdebüt gebende Hauptdarstellerin Agatha Rouselle in ultrasexy Posen bei einer Autoshow einen aufgetunten Sportwagen regelrecht besteigen lässt. Hier von einem sexuellen Akt zu sprechen, ist nicht weit hergeholt; Und wenn man so ins Publikum schaut, dann sieht Jman es den zahlreichen, ausschließlich männlichen Zuschauern in ihren geiernden Blicken an, dass für sie hier gerade ein feuchter Traum in Erfüllung geht. Und selbst als unbeteiligte Person kommt man nicht umher, eine gewisse Erotik in Rouselles Bewegungen auszumachen; Umso härter ist schließlich der Bruch, wenn Alexia nach der Show ganz offensichtlich Sex mit ebenjenem Sportwagen hat, auf dem sie vorhin noch so fantasieanregend getanzt hat. In so einem Moment funktioniert Docournaus Intention vortrefflich: Während Mann eben noch nicht wusste, wohin mit seinen Gefühlen, wenn da gerade eine knapp bekleidete, attraktive Frau ein genauso attraktives Vehikel „begattet“, fühlt sich der nächstkonsequente Schritt schon „schmuddeliger“ an (ein Close-Up auf Alexias Hintern, an dem Rußspuren erahnen lassen, was da gerade – lediglich angedeutet – zwischen ihr und dem Auto abging, erstickt jedwede Erotik im Keim). Manche Sachen sollte man eben nicht auf ihren Realismus abklopfen… Visuell allzu drastisch wird es derweil erst ab jenem Moment, ab dem sich Alexias wahre Hintergründe auftun. Eingeleitet von einer Szene, wie sie ins Kinojahr 2021, in dem unter anderem Filme wie „Promising Young Woman“ und „Last Night in Soho“ erschienen sind respektive noch erscheinen werden, kaum besser passen könnte.

„[…] Umso härter ist schließlich der Bruch, wenn Alexia nach der Show ganz offensichtlich Sex mit ebenjenem Sportwagen hat, auf dem sie vorhin noch so fantasieanregend getanzt hat.“

Auch in „Titane“ geht es um das Thema weibliche Selbstbestimmung sowie die Betrachtung der Frau durch eine patriarchalisch geprägte Gesellschaft. Insofern ist ein Teil der Story gewissermaßen auch als Julia Docournaus Antwort auf das Rape-and-Revenge-Kino zu verstehen, wenn Alexia sich als Initialzündung für ihr Mörderinnendasein im letzten Moment aus den Händen eines potenziellen Missetäters befreien kann, der der Tänzerin im Anschluss an ihre Show allzu aufdringlich nachstellt. Und wie das auch im Rape-and-Revenge-Kino so ist (hier geht es weniger um die Rache an einer bestimmten Person als vielmehr um die Vergeltung an den Männern an sich), sind die Grenzen zwischen dem Gedanken, dass nichts davon richtig ist und jenem, dass es die Opfer ja irgendwie auch verdient haben, fließend. Schade ist, dass Docournau diese Ansätze erst nur halbherzig verfolgt (und im Anbetracht von Alexias Opfer nie ganz ersichtlich wird, inwiefern es sich bei diesen um gezielt oder zufällig ausgesuchte handelt) und im weiteren Handlungsverlauf von „Titane“ sogar vollends fallen lässt. Nachdem dieser Plotabschnitt für zwei besonders radikale Momente gesorgt hat – einmal steht eine Haarnadel, ein anderes Mal ein Stuhl im Zentrum – wendet sich Docournau dem eigentlichen Schwerpunkt ihrer Story zu. Dass sich „Titane“ in zwei Hälften teilen lässt, ist hier nicht Auslegungssache, sondern gezielt intendiert – und der wohl größte Schwachpunkt am Film.

Alexia hat fast ihr Leben lang eine Titanplatte im Kopf.

Während das in Alexias Körper heranwachsende Ergebnis aus ihrem Techtelmechtel mit dem Auto als reißerischer, auf einen Twist hinschielender (diese Erwartungen aber nicht einlösender) Plotmotor fungiert, da man im Anbetracht einiger martialischer Bodyhorrormomente schlicht wissen will, was da eigentlich in ihr schlummert, konzentriert sich der zweite Teil des Drehbuchs deutlich mehr auf Identitätsfindung und das sukzessive Zusammenwachsen einer familienähnlichen Lebenssituation. Nicht nur inszenatorisch fährt Docournau hier drei Nummern zurück, wechselt die Farbpalette von grell und akzentuiert hin zu einem braun-gräulichen Mischmasch und ist in ihrer Bildauswahl wesentlich versierter als noch in der bisweilen hektischen ersten Hälfte. Das passt zur Story, die fortan weniger prämissen- denn vielmehr charaktergetrieben ist. Die Hintergründe ob der Beziehung zwischen Alexia und Vincent (sehr intensiv gespielt von „Der Wert des Menschen“-Schauspieler Vincent Lindon) sollen aus Spoilergründen an dieser Stelle nicht detaillierter ausgeführt werden. Doch auch ohne das Vorwegnehmen wichtiger Kleinigkeiten lässt sich das Urteil fällen, dass „Titane“ seine Zweiteilung nicht guttut. Seine unterschiedlichen Inszenierungsstile sind zwar reizvoll, können aber nicht kaschieren, dass beide Hälften nicht zu einer inhaltlichen Form finden. Beide Parts schauen sich wie gänzlich unterschiedliche Geschichten, wodurch Alexias Charakterentwicklung zu keinem Zeitpunkt greifbar ist. Es fühlt sich schlicht so an, als sähe man in der ersten Stunde einer völlig anderen Figur zu als in der zweiten. Ein emotionaler Punch infolge von Alexias Charakterreise bleibt somit aus.

„Während das in Alexias Körper heranwachsende Ergebnis aus ihrem Techtelmechtel mit dem Auto als reißerischer, auf einen Twist hinschielender Plotmotor fungiert, konzentriert sich der zweite Teil des Drehbuchs deutlich mehr auf Identitätsfindung und das sukzessive Zusammenwachsen einer familienähnlichen Lebenssituation.“

Das bedeutet jedoch längst nicht, dass „Titane“ mit fortschreitender Laufzeit uninteressant wird. Einige der intensivsten, zwischenmenschlichen Filmmomente finden sich in seiner zweiten Hälfte, was vor allem auf die Interaktion zwischen Agatha Rousselle und Vincent Lindon zurückzuführen ist. Die zwischen hart und zart changierende Bande, die diese beiden grundverschiedenen Menschen im Laufe der Zeit knüpfen, wird immer wieder von konsequenten Bodyhorrormomenten durchbrochen, die im Anbetracht der Prämisse jedoch längst nicht so kurios ausfallen, wie man es erwarten würde. Und auch das Ende ist eher ein Understatement, wenn es die vermutlich krassen Erwartungen seines fantasierenden Publikums einfach unterläuft – und den Film auf einer ungeahnt warmherzigen Note enden lässt.

Fazit: Julia Docournau gelingt mit ihrem Genremix „Titane“ definitiv ein Unikat. Doch da ihr Film in zwei Teile zerfällt, dessen Parts jeder für sich überzeugen, bleibt der emotionale Punch am Ende aus. Die Geschichte über eine Serienkillerin, die vom Sex mit einem Auto schwanger wird, ist obendrein längst nicht so weird und abgefuckt, wie es die Prämisse anklingen lässt.

„Titane“ ist ab dem 7. Oktober 2021 in den deutschen Kinos zu sehen.

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