Nightmare Alley

Wenn Schauerlegende Guillermo del Toro einen Film ankündigt, der NIGHTMARE ALLEY heißt, vermuten dahinter sicherlich nicht wenige einen waschechten Horrorfilm. Nun, in einer gewissen Weise ist die im Film erzählte Story tatsächlich „Horror“. Doch wer die gleichnamige Vorlage aus den Vierzigerjahren sowie die dazugehörige, erste Verfilmung kennt, der weiß: Unbehagen generiert sich hier nicht aus Monstern und Dämonen, sondern aus den Abgründen der menschlichen Existenz. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Amerika in einer nicht näher definierten Vergangenheit. Zu Zeiten, als Jahrmärkte noch mit der Zurschaustellung von „Freaks“ ihr Publikum zu begeistern versuchten. Genau zu dieser Zeit zieht es den ehrgeizigen Stanton Carlisle (Bradley Cooper) zu einer Gruppe von Schaustellerinnen und Schaustellern, angeführt von dem rigorosen Clem Hoatley (Willem Dafoe). Dieser präsentiert seinem neuesten Mitglied ganz stolz einen gefangenen, halb verhungerten Mann, der sich tagtäglich dafür begaffen und beklatschen lassen muss, dass er infolge immensen Hungers lebendige Hühner verspeist und dadurch als eine Art „menschliches Monster“ beworben wird. Viel interessanter als diese menschenunwürdige „Attraktion“ findet Stanton allerdings die charmante Molly (Rooney Mara). Genauso wie die „Mentalistin“ Zeena (Toni Collette), in deren Fußstapfen er nach einem tragischen Schicksalsschlag tritt. Doch die Auftritte mit dem Jahrmarkt genügen ihm nicht. Gemeinsam mit Molly zieht er in die Großstadt und macht sich dort als Mentalist einen Namen. Daraufhin wird die resolute Psychiaterin Dr. Lilith Ritter (Cate Blanchett) auf ihn aufmerksam. Und diese hat ganz spezielle Pläne mit ihrem gutaussehenden, neuen Patienten…
Kritik
Im Jahr 1946 veröffentlichte der Schriftsteller William Lindsay Gresham seinen Debütroman „Nightmare Alley“, der im Deutschen unter dem Titel „Der Scharlatan“ erschient. Nicht einmal ein Jahr später inszenierte der zum damaligen Zeitpunkt für Filme wie „Love“ (1927) und „Grand Hotel“ (1932) bekannte Regisseur Edmund Goulding einen gleichnamigen Film Noir, basierend auf ebendieser Geschichte, in der Superstar Tyrone Power die Hauptrolle des Stanton Carlisle übernahm. Auch Guillermo del Toro („Pans Labyrinth“) präsentiert im Zentrum seines neuesten Films einen absoluten Hollywood-A-Ligisten; noch dazu einen verdammt gutaussehenden. Bradley Cooper („A Star is Born“) verkörpert „seinen“ Stanton Carlisle noch mehr als sein Vorgänger als verführerischen, gleichermaßen aber auch selbst verführten Scharlatan, der, angezogen vom schnellen Ruhm, in düstere Gefilde eintaucht, eigene Prinzipien über Bord schmeißt und am Ende zu jener Art Mensch wird, die er zuvor noch verachtet hat. „Nightmare Alley“ ist eine rückwärts aufgezogene „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Geschichte und erzählt unter Zuhilfenahme diverser Gruselfilm-Motive von einem radikalen Absturz, der letztlich viel interessanter ist, als die vielen inszenatorischen Sperenzchen, mit denen del Toro eigentlich nur Effekthascherei betreibt.
„Nightmare Alley“ ist deutlich näher an jüngeren Del-Toro-Filmen wie „Crimson Peak“ oder „Shape of Water – Das Flüstern des Wassers“ zu verorten, als an seinem früheren Schaffen wie „Das Rückgrat des Teufels“. Zwar war Del Toro selbst bei seinen Horrorstücken nie der Mann für den schnellen Jumpscare, doch trotz einer allgegenwertigen, düsteren Atmosphäre geht es ihm in „Nightmare Alley“ nie darum, gezielt Angst zu schüren. Stattdessen stehen zu jedem Zeitpunkt die Menschen und ihre Beweggründe im Vordergrund, ein Vagabundenleben zu leben sowie mit Scharlatanerie ihr Geld zu verdienen. Und dass auch Stanton Carlisle seines Charmes zum Trotz ein ebensolcher Scharlatan ist, steht schon allein aufgrund des dem Film zugrundeliegenden Romantitels nie außer Zweifel. Bradley Cooper hat die Zwielichtigkeit seiner Figur von Grund auf verinnerlicht. So bedarf es gar keiner gezielten dramaturgischen Kniffe, um das Publikum in permanenter Unsicherheit zu wiegen. Stattdessen ist es Coopers Spiel selbst, durch das er sich nicht durchschauen lässt, sodass es bis weit in die zweite Filmhälfte braucht, bis man sich als Zuschauer:in ein genaues Bild von diesem zweifelhaften Charakter gemacht hat. „Nightmare Alley“ erzählt nicht nur vom „Schönen Schein“, er ist dieser „schöne Schein“ durch und durch. Und so manövriert man sich an der Seite dieses undurchdringbaren Protagonisten und ohne jedweden Haltegriff durch eine erste Filmhälfte, an deren Ende die vermeintliche Erkenntnis steht, wie hier wohl der sprichwörtliche Hase läuft. Doch erst dann will „Nightmare Alley“ so richtig in die Vollen gehen, was allerdings nur bedingt funktioniert.
„‚Nightmare Alley“ erzählt nicht nur vom „Schönen Schein“, er ist dieser ’schöne Schein‘ durch und durch. Und so manövriert man sich an der Seite dieses undurchdringbaren Protagonisten und ohne jedweden Haltegriff durch eine erste Filmhälfte, an deren Ende die vermeintliche Erkenntnis steht, wie hier wohl der sprichwörtliche Hase läuft.“
Insbesondere vor dem Hintergrund des Jahrmarktes, oder besser: der Freakshow, in der Menschen mit körperlichen Anomalien als Attraktion ausgestellt werden, kommt der Kontrast zwischen dem verführerischen Stanton, der Großes vorhat und schon allen äußerlich auch dazu imstande ist, und seinem heruntergekommenen Umfeld besonders zur Geltung. Daher ist auch die erste Hälfte von „Nightmare Alley“ klar die Bessere der äußerst üppig bemessenen zweieinhalb Filmstunden. Sobald Stanton und seine Geliebte nämlich beginnen, sich in der Großstadt allein durchzuschlagen und schließlich auch auf die attraktive Psychologin Dr. Lilith Ritter treffen, ist ein wenig die Luft raus. Auf der einen Seite ist es spannend anzusehen, wie sich in „Nightmare Alley“ plötzlich die Machtverhältnisse verschieben, was auch spürbare Auswirkungen auf das Seherlebnis nach sich zieht. War es bisher vor allem Stanton Carlisle, der seine Zuschauer:innen (vielleicht?) an der Nase herumgeführt hat, wird er plötzlich selbst zum Opfer von Manipulation und Einflussnahme von außen. Cooper übergibt das Irritations-Zepter an Cate Blanchett, die die Doppelbödigkeit ihrer Figur ganz hervorragend transportiert. Doch leider wendet Del Toro wie schon bei „Crimson Peak“ zu viel Zeit für Nebensächlichkeiten auf, streut immer wieder Details ein, die für das große Ganze jedoch kaum von Bedeutung sind, während sehr wohl relevante Dinge wiederum bloß angerissen werden. „Nightmare Alley“ springt dadurch zwischen langatmig und gehetzt hin und her, was sich insbesondere im sehr zügig vonstattengehenden Finale bemerkbar macht. Hier bleiben weitaus mehr Fragen unbeantwortet als beabsichtigt…
In der rauschhaften Inszenierung schwelgen, lässt es sich trotzdem ganz ausgezeichnet. Wie kaum ein anderer Filmemacher schafft es Del Toro, sein Publikum immer wieder in neue fantastische Welten zu entführen, ohne eine eigene Handschrift mit reinem Selbstzitat zu verwechseln. „Nightmare Alley“ erkennt man als ein Werk des gebürtigen Mexikaners, das bis oben hin mit Exzess und Exzentrik vollgestopft ist. Die verspielt-pompösen Sets sind bis ins kleinste Detail mit gleichermaßen zeitgemäßem wie schrecklich-schönem Equipment versehen. Dunkle, warme Töne dominieren die Ausstattung. Del Toros Stamm-Kameramann Dan Laustsen („Crimson Peak“) schleicht durch die authentisch heruntergekommenen Sets wie ein staunender Jahrmarktbesucher und bleibt immer erst ein paar Sekunden nach einer Entdeckung am Objekt haften. Ganz so, als solle das Publikum erst das große Ganze in sich aufsaugen und im Anschluss daran darauf aufmerksam gemacht werden, auf was für bittere Elemente hier alles fußt. Der Score von Nathan Johnson („Knives Out“) schlägt in dieselbe Kerbe. Die Tonabfolgen im Gesamten wirken minimalistisch und unauffällig. Erst wenn sich einzelne Score-Elemente kontinuierlich wiederholen, lauter werden und sich somit sukzessive in die Wahrnehmung des Publikums bohren, wird auch akustisch die allgegenwärtige Bedrohung spürbar. Dass diese wirklich die kompletten 150 Filmminuten präsent ist, offenbart sich schließlich darin, wie konsequent sich der erzählerische Kreis schließt. „Nightmare Alley“ ist eine Achterbahnfahrt ins Verderben…
„In der rauschhaften Inszenierung schwelgen, lässt es sich ganz ausgezeichnet. Wie kaum ein anderer Filmemacher schafft es Del Toro, sein Publikum immer wieder in neue fantastische Welten zu entführen, ohne eine eigene Handschrift mit reinem Selbstzitat zu verwechseln.“
Fazit: Guillermo del Toros Version von „Nightmare Alley“ ist optisch auffälliger als erzählerisch, funktioniert im Gesamten aber trotzdem auf beiden Ebenen. Wann immer die Geschichte sich zieht, schwelgt man einfach noch intensiver in der berauschenden Ausstattung. Und trotz einiger erzählerischer Versäumnisse haut der Schlussakkord einem ordentlich in die Magengrube. Darüber hinaus lohnt sich ein Kinoticket schon allein für einen lange nicht mehr so starken Bradley Cooper als zwielichtiger Scharlatan.
„Nightmare Alley“ ist ab dem 20. Januar 2022 in den deutschen Kinos zu sehen.