À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen

Frei nach wahren Begebenheiten: À LA CARTE! FREIHEIT GEHT DURCH DEN MAGEN erzählt von der Entstehung der Restaurants – und somit von der Entstehung eines wichtigen Stücks französischer Identität. Wie sehr das mundet, verraten wir in unserer Kritik.

OT: Délicieux (FR/BEL 2021)

Der Plot

Frankreich im 18. Jahrhundert: Der schnöselige Herzog von Chamfort (Benjamin Lavernhe) prahlt vor weiteren Adeligen sowie vor Vertretern der Kirche mit seinem erfahrenen Koch Manceron (Grégory Gadebois). Der hält sich jedoch nicht an vorherige Absprachen, sondern ergänzt das fürstliche Mahl um eine neue, kleine und feine Köstlichkeit. Dass sich in der Zutaten wie Kartoffeln und Trüffel befinden, sorgt bei den Anwesenden für Hohn und Spott. In einem Anflug von Stolz und Selbstwertgefühl weigert sich Manceron, die eingeforderte Entschuldigung auszusprechen – und muss daher den Hof verlassen. Nun bewirtet er einen als Haltepunkt für Durchreisende dienenden Bauernhof, wo gemäß der Gewohnheit nur spärliche Kost serviert wird. Als die rätselhafte, emsige Louise (Isabelle Carré) Manceron darum bittet, bei ihm in die Lehre zu gehen, spornen sich die Zwei gegenseitig an, größer zu denken. Das erste Restaurant entsteht…

Kritik

2016 gelang dem französischen Regisseur und Autor Éric Besnard an den deutschen Kinokassen ein Achtungserfolg: Seine Dramödie „Birnenkuchen mit Lavendel“ lockte über 700.000 Menschen in die hiesigen Lichtspielhäuser – damit überbot sie unter anderem Denis Villeneuves Sci-Fi-Geniestreich „Arrival“, den zeitgeistigen Horror-Thriller „The Purge – Election Year“ und Fede Alvarez‘ „Don’t Breathe“. Seine nächste Regiearbeit, die dezent schräge Komödie „Meine geistreiche Familie“ über einen Schriftsteller mit Schreibblockade, erschien hierzulande dennoch nur im Heimkino. Aber schon wenige Wochen nach der DVD- und Blu-ray-Premiere von Besnards Film über Schriftstellerei kommt bereits ein weiteres Projekt des Filmschaffenden nach Deutschland – und dieses Mal gelingt dem Franzosen wieder der Sprung auf die große Leinwand.

Der sture Meisterkoch Manceron (Grégory Gadebois) präsentiert dem Herzog erneut Pasteten.

Was für ein Glück! Denn Besnards „À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen“ ist eine köstliche Verneigung vor einer der wichtigsten Zutaten der Seele Frankreichs, die ins Kino gehört. Gemeint ist das französische Gastronomieverständnis: In Restaurants gemeinsam entschleunigen und (nicht nur) kulinarische Erfahrungen teilen. Diese Vorstellung ist derart urfranzösisch, dass der Begriff „Restaurant“, nun ja, halt eine französische Vokabel ist. Doch obwohl sich alles, was mit einem entspannten, gepflegten Besuch in einem guten Restaurant verbunden ist, nicht länger aus der Identität unseres Nachbarsland wegdenken lässt, ist all dies „bloß“ ein paar Jahrhunderte alt. Denn das, was wir heute unter einem Restaurant verstehen, wurde erst im Zuge der französischen Revolution innerhalb eines 15-jährigen Zeitraums entwickelt. In Zusammenarbeit mit seinem Schreibpartner Nicolas Boukhrief („Assassin(s)“) verdichtete Besnard die „Zubereitung“ der in Frankreich geformten, geliebten und gelebten Gastronomie mitsamt der mit gustatorischen Genüssen verbundenen Gastlichkeit zu einer Art Wohlfühl-Beinahemärchen. Ihre Geschichte beginnt 1789, während der Duft der Revolution bereits in der Luft lag, sich aber der Tatendrang, dem spöttischen Adel ein Ende zu bereiten, noch nicht mit dem Messer schneiden ließ. Von dort aus erstreckt sie sich über wenige Monate und dichtet einer kleinen, gemeinsam agierenden Gruppe die vielen Einfälle an, die in Wahrheit von zahlreichen unabhängig voneinander handelnden Personen erbracht wurden. Es ist eine mit Liebe getätigte Verdichtung und Verkürzung, ganz getreu dem Kochbuch, das der Protagonist von „À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen“ verfassen würde.

Manceron ist körperlich ein Bär von einem Mann, doch wie sein kummervolles Gesicht, seine sanfte Mimik und die zarte, gepflegte Haut an seinen trainierten Händen verraten: Er ist liebevoller, umsichtiger und einfühlsamer – und daher verletzlicher als seine Statur denken ließe. Der von Grégory Gadebois zu gleichen Teilen mit Stolz, Selbstmitleid und gesellschaftlich antrainierter Statushörigkeit verkörperte Koch beherrscht genau das, was Herzog von Chamfort („Birnenkuchen mit Lavendel“-Mime Benjamin Lavernhe in einer Gastrolle) verlangt. Also prachtvoll hergerichtete, üppige Speisen, die dem von Geistlichen propagierten Glauben folgen: Je näher am Himmel eine Zutat zu finden ist, umso besser – je näher an der Hölle, desto widerlicher. Und je ferner die Herkunft eines Gewürzes, desto mehr betont es den Status des Gastgebers. Jedoch will Manceron aus diesem Denken ausbrechen. Wenigstens ein Stückchen weit. Also weicht er immer wieder von der abgesprochenen Speisenwahl aus – bis ihm und dem Herzog ein kleines, mit Trüffeln und Kartoffeln gefülltes Teigstück den Hohn der Gäste des Hauses einbringt. Manceron ist stolz genug, sich dafür nicht entschuldigen zu wollen, allerdings zu bescheiden und perspektivlos, um danach irgendwelche größeren Aussichten auf’s restliche Leben zu haben. Bis ihm die von einer mysteriösen Motivation angetriebene Louise begegnet und ihn dazu bringt, sein Können weiterhin zur Schau zu stellen – dieses Mal nach seinen eigenen Vorstellungen!

„Es ist eine mit Liebe getätigte Verdichtung und Verkürzung, ganz getreu dem Kochbuch, das der Protagonist von ‚À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen‘ verfassen würde.“

Aus einem Bauernhof, der Durchreisenden die denkbar spärlichste Kost feilbietet, so wie es sich damals gebührte, wird ein Restaurant, das gute, aufwändige, jedoch auf den Geschmack und regionale Zutaten bedachte Speisen anbietet. Manceron und Louise bewegen somit Großes, indem sie kleiner und konzentrierter denken. Es ist ein Paradoxon, das Boukhrief und Besnard mit Passion erzählen. Mit einer sich durch die Szenen ziehenden, unterschwellig brodelnden Sinnlichkeit (ganz gleich, ob zwischenmenschlich oder zwischen genießender Person und Genussmittel). Und mit einem beiläufigen, charmanten Witz, wann immer aus einer spontanen Eingebung heraus das anfänglich noch so grobe Restaurantkonzept immer weiter voranschreitet.

Vor dem Gericht ist nach dem Gericht: Noch applaudiert die dekadente Gesellschaft dem Koch…

Louise und Manceron geben dabei ein anspronendes, ungleiches Duo ab. Ihre von der Hof-Zutatenschlacht heruntergebrochene, für alle Hungrigen zubereitete Küche, bei der die Liebe zu den Zutaten und der Komposition vor der Prahlerei steht, bricht gleichzeitig mit einer anderen Essenstradition: Dem rein funktionalen „Es muss halt satt machen, alles andere ist egal“-Denken jener, die weit unter dem Adel stehen. In der Mitte zwischen diese Extremen bietet ihr Restaurant einen Hort der Ruhe, Zusammenkunft und des Antriebs für Leib und Seele zugleich. Und er bringt auch diese beiden Figuren dazu, sich in der Mitte zu treffen: Manceron ist fähig und hinsichtlich seines Kochtalents selbstbewusst, aber eingangs antriebslos, weil er dem Status quo zu hörig ist. Louise, die sich nicht in die Karten blicken lässt, verfolgt verbissen eine Motivation, die sie mit Manceron nicht zu teilen gewillt ist – und muss dringend seine diplomatischere, konstruktivere Art erlernen. Gadebois und Carré harmonieren hervorragend, und die prächtige Bildsprache von „À la Carte!“, dank der Mancerons Bauernhof einladend-rustikal erscheint und die Speisen zum Anbeißen aussehen, verstärkt diese Wärme, die die Figuren ausstrahlen. Hinzu kommt sozusagen als die gewisse Prise Etwas ein erstaunlich satter Soundmix, der uns immer wieder mitten in die Szenerie versetzt, und fertig ist der filmische Leckerbissen.

Fazit: Französisches Flair pur, spürbare Passion für gute Küche und eine köstliche Wohlfühl-Erzählhaltung: „À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen“ ist ein wahrlich genüsslicher Film.

„À la Carte! Freiheit geht durch den Magen“ ist ab dem 25. November 2021 in den deutschen Kinos zu sehen.

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