Lamb

Ein in Abgeschiedenheit lebendes Paar zieht ein niedlich-groteskes Wesen wie sein eigenes Kind auf. Die Prämisse von LAMB klingt auf den ersten Blick wie ein Arthouse-Horrorfilm, ist aber eine berührende, einfühlsame Analogie. Mehr dazu in unserer Kritik.

OT: Lamb (ISL/POL/SWE 2021)

Der Plot

Das fernab von der nächsten Stadt lebende Paar Maria (Noomi Rapace) und Ingvar (Hilmir Snær Guðnason) züchtet Schafe. Als es während der Weihnachtszeit im Stall eine ungewöhnliche Entdeckung macht, glaubt es, ein Geschenk des Himmels erhalten zu haben: Ein Schaf-Neugeborenes hat menschliche Statur, auch einige Körperteile sind menschlich. Also zieht es das kuriose Wesen wie das eigene, gesunde Kind auf, das sich das Paar schon lange wünschte. Doch der skurrile Familiensegen bleibt nicht unhinterfragt…

Kritik

Es ist durchaus ein wenig beschämend, dass es selbst in Kreisen filminteressierter Menschen, die einen internationalen Blick zu bewahren versuchen, doch immer wieder US-Verleiher sind, die bestimmten Filmen erst zu Aufmerksamkeit verhelfen. In den 1990er-Jahren beispielsweise war das vor allem Miramax‘ Ding: Filme wie „Das Leben ist schön“, „Cinema Paradiso“ oder das tschechische Drama „Kolya“ mit „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“-Hauptdarstellerin Libuše Šafránková erlangten erst dann abseits des Festivalzirkus und ihres Heimatmarktes nennenswertes Echo, als sich das Studio die US-Rechte sicherte. Seither hat Miramax mehrfach den Besitzer gewechselt und hält längst nicht mehr die Marktmacht inne, die es früher hatte. Dafür füllt A24 nun einen ähnlichen Platz in der Filmwelt aus: Das Studio hinter smartem Horror wie „Midsommar“ und „Der Leuchtturm“ sowie morbiden Komödien wie „Under the Silver Lake“ und „The Killing of a Sacred Deer“ genießt große Achtung unter Indiefilm-Gourmets. Und mit „Lamb“ hat es vor wenigen Monaten bewiesen, selbst Filmen zu Achtung verhelfen zu können, mit denen es kaum etwas zu tun hat:

Ein Paar, ein „Kind“ und ein Mysterium… 

Die Entstehung von „Lamb“ schlug überschaubare Wellen. Dann veröffentlichte A24 den US-Trailer zu dem Film, an dem das Studio einzig und allein die nordamerikanischen Verleihrechte hält. Und plötzlich war nicht nur in den USA, sondern auch international beim anvisierten, indiefreundlichen Klientel vom aufregend aussehenden, clever-schrägen „neuen A24-Film“ die Rede. So sehr diese Beobachtung die blinden Flecken aufzeigen mag, die viele von uns noch immer in der Filmwahrnehmung haben: Die isländischen Filmverantwortlichen werden sich wohl kaum grämen, dass ihr Film dank des US-Verleihs an Profil gewonnen hat – Hauptsache ist, dass er ins Auge sticht. Und das ist auf kuriose Weise doch eine ganz schöne Hinleitung zu „Lamb“, ist es doch ein Film, in dem ein trauerndes Paar beschließt, sich über Umwegen zu Familienglück zu verhelfen. Regisseur Valdimar Jóhannsson inszeniert das von ihm und Björk-Kollaborateur Sjón geschriebene Drehbuch in langen, ruhenden Kameraeinstellungen, die mal so nah an die Figuren rückt, dass man ihnen fast schon jeden Gedanken von der Stirn, den Lippen und den Wimpern ablesen kann. Und andere Male hält die von Eli Arenson geführte Kamera einen respektvollen Abstand zu den gerade trauernden, grübelnden oder bittersüß ihr sonderbares Elternglück genießenden Figuren. So, als wäre die Kamera eine stille Beobachterin, ein befreundeter Besucher, der sich in diesen intimen Momenten zurückzieht. Jóhannsson wechselt so natürlich zwischen Nähe und Abstand zu Maria und Ingvar, dass er sehr effektiv ein emotionales Involvement in das Befinden dieses Paares begünstigt: Durch die eng verfolgten Augenblicke eindeutiger Emotionen fühlen wir uns den Beiden vertraut. So vertraut sogar, dass wir uns glatt anmaßen, selbst dann ihre Gedanken und Gefühle deuten zu können, wenn sie durch komplexe Situationen und räumliche Distanz an Unklarheit gewinnen.

„Valdimar Jóhannsson wechselt so natürlich zwischen Nähe und Abstand zu Maria und Ingvar, dass er sehr effektiv ein emotionales Involvement in das Befinden dieses Paares begünstigt: Durch die eng verfolgten Augenblicke eindeutiger Emotionen fühlen wir uns den Beiden vertraut.“

Diese unterschwellig erzeugte „Ich habe die Lage schon erfasst“-Verblendung ist ein wichtiges Element in „Lamb“. Denn bereits zu Filmbeginn üben sich Maria und Ingvar in Leugnung: Sie geben einander vor, über einem zuvor ereigneten Schicksalsschlag zu stehen. Doch früh wird klar, dass sie den vor den in „Lamb“ gezeigten Ereignissen erfolgten Kindsverlust noch längst nicht überwunden haben und ihren Kummer darin kanalisieren, ein Lamm wie ihr eigenes Kind großzuziehen. Doch emotionaler Schmerz lässt sich nicht beliebig lang ausblenden – das zeigt nicht nur der in Noomi Rapaces und Hilmir Snær Guðnasons Spiel mitschwingende, bleierne Kummer der selbst spielerisch-leichten Glücksmomenten einen Beigeschmack verleiht. Auch auf Handlungsebene werden Löcher in die Selbstleugnung des Paares gepiekst, etwa durch den Besuch von Ingvars Bruder Pétur. Björn Hlynur Haraldsson begeistert in dieser Rolle mit einem gekonnten Balanceakt zwischen Sprachlosigkeit, sich selbst unterhaltendem Sarkasmus, mit dem er die Situation seines Bruders und seiner Schwägerin durch den Kakao zieht, und einer dem Familienfrieden zum Wohle ausgelebten Freundlichkeit, wenn er sich auf die Illusion einlässt.

Es sind eindrucksvolle Bildgewalten, die Kameramann Eli Arenson in „Lamb“ präsentiert.

Noch stärker spielen aber Guðnason und Rapace auf, die „Lamb“ wie ein geradliniges, feinfühlig beobachtetes Ehedrama über ein Paar spielen, das sich nach dem Verlust eines Kindes wieder zu fangen versucht, jedoch dadurch immer wieder ins Stolpern gerät, weil sich Mann und Frau nur schwerlich gegenseitig stützen können. Denn sie haben so sehr mit ihrem eigenen emotionalen Ballast zu kämpfen, dass sie nur in raren, lichten Momenten die Kraft haben, sich dem geliebten Gegenüber zu widmen. Und in genau diesen lichten Momenten will man dann ja doch lieber einfach munter sein, statt sich durch gegenseitiges Stützen daran zu erinnern, dass man Grund hat, sich stützen zu wollen… Es ist eine einfühlsame, nuancierte Auseinandersetzung mit Verdrängung, Kummer und dem Versuch, nach vorne zu blicken. Dadurch, dass Guðnason und Rapace ihre Rollen so eingelebt und natürlich spielen, entsteht dazwischen gelegentlich spröder Witz, wenn sich diese aus dem Leben gegriffene Authentizität mit dem Anblick des Lammmenschleins reibt. Aber eben dieser spröde Witz lässt „Lamb“ letztlich auch auf emotionaler Ebene, echter wirken als manch stringentes Beziehungsdrama. Denn während sich manche Filmschaffende darauf versteifen, tragische Beziehungsgeschichten möglichst bleiern zu erzählen, versteht Jóhannsson die vertrackte Realität dessen, dass selbst zutiefst niedergeschlagene Menschen immer wieder einen Augenblick der Leichtigkeit erleben. Dies ist der Grund, weshalb ihr Umfeld zum oberflächlichen Urteil verleitet wird, dass ja wohl alles halb so wild sein wird – was wiederum den emotionalen Teufelskreis weiter in Gang hält…

„Es ist eine einfühlsame, nuancierte Auseinandersetzung mit Verdrängung, Kummer und dem Versuch, nach vorne zu blicken. Dadurch, dass Guðnason und Rapace ihre Rollen so eingelebt und natürlich spielen, entsteht dazwischen gelegentlich spröder Witz, wenn sich diese aus dem Leben gegriffene Authentizität mit dem Anblick des Lammmenschleins reibt.“

„Lamb“ macht dies wundervoll und auf kreative Weise deutlich. Hinzu kommen ja noch die derart ausdrucksstark in Szene gesetzten Schafe, dass man beinahe auch die normalen Tiere vermenschlichen könnte, und die filmsprachliche Selbstverständlichkeit, mit der das knuffig-wuschelige Mensch-Schaf-Wesen Ada auf die Leinwand gebracht wird. Wann immer Unheil in diese trügerische Idylle herbei gestapft kommt, oder sich das Idyll unmissverständlich als Einsamkeit enttarnt, schmerzt das umso mehr.

Fazit: Was auf dem allerersten Blick vielleicht wie eine Parodie auf A24-Kunsthorror wirkt, ist dank der lebensechten Dialoge und der feinfühligen Performances ein sensibles Drama über Verlust, Verarbeitung und Verdrängung.

„Lamb“ ist ab dem 6. Januar 2021 in den deutschen Kinos zu sehen.

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