Are You Lonesome Tonight?

Das chinesische Kriminaldrama ARE YOU LONESOME TONIGHT? handelt von unverhofft auf sich geladener Schuld, moralischer Korruption und der Suche nach Vergebung. Wie fesselnd dies geraten ist, verraten wir in unserer Kritik zum Film.
Der Plot
In einer stockfinsteren Nacht muss Xueming (Eddie Peng) Umwege fahren – und überfährt in einem Moment kurzer Unachtsamkeit einen Fußgänger. Statt dem verletzten Mann zu helfen, begeht er Fahrerflucht. Später erfährt er zufällig, dass der von ihm überrollte Passant verstorben ist. Von Schuldgefühlen übermannt, beschließt Xueming, der Witwe des Mannes, Liang Ma (Sylvia Chang), in ihrem Alltag auszuhelfen. Stets hat er eine Beichte auf der Zunge, aber sie kommt ihm einfach nicht von den Lippen. Währenddessen nimmt sich Detektiv Chen (Yanhui Wang) dem Fall an – und findet brenzlige Indizien…
Kritik
2021 stand in der chinesischen Popkultur vor allem im Zeichen der Feierlichkeiten rund um den 100. Jahrestag der Kommunistischen Partei. Im Kino gipfelte dieses Jubiläum in den Start des monumentalen Kriegsfilms „The Battle at Lake Changjin“. Beauftragt durch die Nationale Radio- und Fernsehbehörde, die Zentrale Militärkommission und die Kommunistische Partei Chinas wurde die 200-Millionen-Dollar-Produktion zum erfolgreichsten chinesischen Film der bisherigen Kinogeschichte und zum weltweit zweitgrößten Kassenschlager des Jahres 2021. Darüber, ob der umgerechnet 911,6 Millionen Dollar schwere Kassenschlager diesen Erfolg weitestgehend aus eigener Kraft geschafft hat, oder die chinesischen Behörden unter anderem damit nachgeholfen haben, 2021 ungewöhnlich wenige Hollywood-Filme zu importieren und somit die Konkurrenz „auszuschalten“, streiten die Box-Office-Expert:innen. Doch ganz gleich, wo man sich in dieser Debatte einordnet: Offensichtlich ist, dass das chinesische Kinojahr auch abseits dieser Materialschlacht geprägt war von aufmunternden, patriotischen Produktionen geprägt.
Unken würden rufen, dass die Volksrepublik ganz nach US-amerikanischer Erfolgsformel operiert. Doch während es in der US-Filmwelt an pessimistischeren Produktionen nicht mangelt, wenn man erst einmal die größten Eskapismushits bei Seite geschoben hat, sticht das chinesische Thrillerdrama „Are You Lonesome Tonight?“ enorm aus seinem filmischen Umfeld heraus. Chinas Regierung ist schließlich alles andere als dafür bekannt, kritische, unvorteilhafte Schilderungen des etwa 1.412.600.000 Menschen umfassenden Landes zu dulden. Dass also ein Film daherkommt, der in dreckigen, grobkörnigen Aufnahmen das Bild eines Landes zeichnet, in dem ein ebenso überfordertes wie unmenschliches Rechtssystem herrscht und ganze Landstriche völlig verarmt sind… Tja, dann ist das zwar nicht einzigartig, hat allerdings Seltenheitswert – noch dazu im großen Jubiläumsjahr zwischen zahlreichen Hurrastimmung-Spektakelfilmen, Das allein ist Grund genug, den Filmschaffenden eine ordentliche Schippe Respekt zu zollen. Jedoch ruhen sich Regisseur Shipei Wen und die gemeinsam mit ihm für das Drehbuch verantwortlichen Noé Dodson, Yinuo Wang und Binghao Zhao nicht allein darauf aus, sondern versehen „Are You Lonesome Tonight?“ mit Charakteristika, die auch jene abholen dürften, denen „Gesellschaftskritik aus China, die in China spielt“ allein nicht genügt.
„Dass hiermit ein Film daherkommt, der in dreckigen, grobkörnigen Aufnahmen das Bild eines Landes zeichnet, in dem ein ebenso überfordertes wie unmenschliches Rechtssystem herrscht und ganze Landstriche völlig verarmt sind, ist zwar nicht einzigartig, hat allerdings Seltenheitswert.“
Eddie Peng verkörpert seinen Xueming auf spannende Weise als ausgemergelten, von einer Hitzewelle und seinem schlechten Gewissen geschundenen Mann, und die verwaschenen Bilder unterstreichen dieses Gefühl des Erschöpftseins gekonnt. Obendrein spielt Wen mit der Unzuverlässigkeit der Erinnerung: Eingangs wiederholen sich Rückblicke, jedoch mit variierenden Perspektiven und voneinander abweichenden Details. Damit intensiviert sich das Gefühl der Unsicherheit. Ausbrüche ins Komödiantische, etwa wenn eine Parade ausgerechnet dann an Xueming und Liang Ma vorbeiläuft, als sich ein Zwiegespräch zum Guten wendet, oder eine sketchartige Szene, in der ein eitler Waffenhändler pointiert als Großmaul enttarnt wird, streuen wiederum Unsicherheit diesbezüglich, ob es in dieser Geschichte ein Licht am Ende des Tunnels gibt oder nicht.
Leider hängt die suggestive Atmosphäre von „Are You Lonesome Tonight?“ stark vom Skript ab. Der von vier (!) verschiedenen Kameraleuten gedrehte Thriller hat nämlich keinen derart messerscharf ausgefeilten Look, dass er allein das Projekt stemmen kann. Und eben dieses Skript ist halbgar: Die zweite Hälfte verliert sowohl den „Kann ich meiner Erinnerung trauen?“-Aspekt aus den Augen als auch die emotional vertrackte Beziehung zwischen Xueming und Liang Ma. Das, was an die Stelle dieser Elemente tritt, ist erzählerisch und inszenatorisch weit weniger komplex und ambitioniert: Mehr und mehr entwickelt sich der Film zu einem geradlinig erzählten Neo-Noir-Thriller über einen Mann, der vor Korruption und Gier flieht – bloß, dass Langfilm-Regiedebütant Wen die zunehmend schnörkellosere Handlung voller Thriller-Konventionen auf plätschernde Weise erzählt. Dramatik könnte sich daraus nähren, wie der Protagonist und sein Jäger auf die neu geordneten Umstände reagieren, allerdings ist der Antagonist ein wandelndes Klischee, während sich Xueming, ist sein moralisches Dilemma erst einmal aus dem Fokus gerückt, als weitestgehend unbeschriebenes Blatt offenbart. Das letzte Drittel von „Are You Lonesome Tonight?“ verkommt daher zu einem eher unmotivierten Schachspiel, in dem die Figuren so lange ihre Positionen verändern, bis das unweigerliche Schachmatt folgt. Die verschwommen-ausgeblichene Bildästhetik greift in diesem Part nicht weiter derart mit der Story und ihrer Stimmung ineinander wie in den ersten beiden Dritteln, der stakkatoartige Score gibt dem Geschehen aber die nötige Dringlichkeit.
„Mehr und mehr entwickelt sich der Film zu einem geradlinig erzählten Neo-Noir-Thriller über einen Mann, der vor Korruption und Gier flieht – bloß, dass Langfilm-Regiedebütant Shipei Wen die zunehmend schnörkellosere Handlung voller Thriller-Konventionen auf plätschernde Weise erzählt.“
Fazit: „Are You Lonesome Tonight?“ beginnt stark, lässt jedoch im Finale ordentlich nach. Was bleibt, ist ein allein schon aufgrund seiner Tonalität durchaus mutiger Beitrag zum chinesischen Kino, der vor desolaten Hintergründen von Schuld und Sühne berichtet.
„Are You Lonesome Tonight?“ ist ab dem 27. Januar 2022 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.