Killers of the Flower Moon

Die Banalität des Bösen, kongenial veranschaulicht in dreieinhalb Stunden Spielfilm: Martin Scorseses epischer Krimiwestern KILLERS OF THE FLOWER MOON ist die detailgetreue Aufarbeitung einer der schockierendsten Mordserien der USA – und dabei alles andere als ein klassischer Whodunit-Thriller.

OT: Killers of the Flower Moon (USA 2023)

Darum geht’s

Oklahoma, Anfang des 20. Jahrhunderts. Als eine Ölquelle im Reservat der Native Americans gefunden wird, werden die Mitglieder des Osage-Stammes über Nacht zu den reichsten Menschen der Welt. Doch der Reichtum der amerikanischen Ureinwohner zieht weiße Eindringlinge an, die das Geld der Osages für sich beanspruchen. Um nach und nach die Kontrolle über das Gebiet und die Reichtümer zu übernehmen, schrecken diese auch vor rabiaten Methoden nicht zurück – bis hin zu Mord. Inmitten dieser Zeit verliebt sich der Kriegsheimkehrer Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) in die Osage-Angehörige Mollie Kyle (Lily Gladstone). Doch die Liebe steht unter keinem guten Stern, als Mollies Familienmitglieder nach und nach rätselhaften Krankheiten und brutalen Vorfällen zum Opfer fallen, in die auch der Rinderbaron und Ernests Onkel William Hale (Robert De Niro) verwickelt scheint…

Kritik

„Kill your Darlings“ ist eine bekannte Redewendung unter Autorinnen und Autoren. Sie gilt als eine Art Ratschlag, sich von Inhalten zu trennen, selbst wenn sie einem längst ans Herz gewachsen sind. Und vor allem: Egal wie gut sie sind! Da Autorinnen und Autoren in der Regel nicht allein an einem Buch arbeiten, haben auch die Agent:innen, das Lektorat und der Verlag ein Wörtchen am Endergebnis mitzureden. Beim Film sind es mit Produzent:innen, Verleih und Co. andere Gremien, aber das Prinzip ist dasselbe: Am Ende blicken mehrere Augen auf ein fertiges Produkt, um es so publikumsfreundlich wie möglich zu machen. Dass für Streamingdienste tätige Filmemacher:innen noch am ehesten die Chance haben, ihre Darlings nicht killen zu müssen, hat man in den letzten Jahren vermehrt miterleben dürfen. Es wirkt wie eine Art Lockangebot, wenn Netflix seinen Kreativen größtmögliche, kreative Freiheiten verspricht. Das können ihnen viele Filmstudios aufgrund wirtschaftlicher Interessen einfach nicht gewähren. Martin Scorsese („The Wolf of Wall Street“) kam mit seinem „The Irishman“ bereits in den Genuss einer solchen Carte Blanche und inszenierte entgegen jeder aktueller Sehgewohnheiten einen dreieinhalbstündigen Abgesang auf das Mafiabusiness, für das er im Vorfeld – je nach Quelle – zwischen 159 und 250 Millionen (!) US-Dollar erhielt. So viel kostete nicht einmal der jüngste Marvel-Film… Unter diesen Umständen ist es irgendwie kein Wunder, dass ausgerechnet einer der großen Verfechter des Kinos erst einmal beim Streaming bleibt. Wenn doch reguläre Produktionsstudios nicht gewillt sind, ihm so viel Geld für einen Kinofilm zu geben. Sein auf wahren historischen Ereignissen (und einem Buch darüber) basierendes Kriminaldrama „Killers of the Flower Moon“ erhält zwar, genauso wie „The Irishman“, einen prestigegetriebenen, jedoch limitierten Kinostart. Ohne diese wären Filmpreisnominierungen ausgeschlossen. Die Hauptauswertung findet indes bei Apple TV+ statt.

Zwischen Mollie Kyle (Lily Gladstone) und Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) entwickelt sich eine zarte Liebe…

Im Internet gibt es mittlerweile Guides, wie man „The Irishman“ am besten als Miniserie in drei Teilen schaut. Ob das für „Killers of the Flower Moon“ später auch geben wird – schließlich sind beide Filme nahezu identisch lang – steht aktuell noch in den Sternen. Die Dringlichkeit hinter einer solchen Anleitung ist bei Scorseses neuestem Film allerdings weitaus geringer. Der antiklimatisch erzählte „The Irishman“ verzichtet bewusst auf dramaturgische Highlights, was zur inhaltlichen Auslegung des Filmes durchaus passt. Scorsese trägt die Mafia sowie das schillernde Bild von ihr angemessen trocken zu Grabe. Das kann sich über 210 Minuten schon mal ziehen. Eine Aufteilung in drei Teile kann da helfen, das Interesse über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. „Killers of the Flower Moon“ setzt ebenfalls nur bedingt auf dramaturgische Peaks, sondert ist die meiste Zeit über die zielgenaue Beobachtung gesellschaftlicher Missstände in den USA Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts; Auch wenn diese ihre Aktualität bedauerlicherweise nie so recht verloren haben. Scorsese besinnt sich dieses Mal jedoch wieder mehr seiner unvergleichlichen Fähigkeit, mit einfachsten Mitteln einen rauschhaften Sog zu entwickeln. Dabei fährt er nicht in jenem Hau drauf!-Gang wie etwa in „The Wolf of Wall Street“. Dafür sind die der Filmhandlung zugrunde liegenden, wahren Ereignissen in „Killers of the Flower Moon“ auch einfach viel zu niederschmetternd. Doch wenn Scorsese bereits in den ersten fünf Minuten zeigt, wie ein Ureinwohnerstamm ungeahnt eine sprudelnde Ölquelle entdeckt und im Zuge des bevorstehenden Reichtums unter der Fontäne tanzt – im Hintergrund ein gleißender Sonnenuntergang – dann gibt Scorsese mit dieser Ekstase den Rhythmus vor, deren Versiegen im Anbetracht der zahlreichen Todesfälle umso zermürbender sind.

„Scorsese besinnt sich dieses Mal jedoch wieder mehr seiner unvergleichlichen Fähigkeit, mit einfachsten Mitteln einen rauschhaften Sog zu entwickeln. Dabei fährt er nicht in jenem ‚Hau drauf!‘-Gang wie etwa in ‚The Wolf of Wall Street‘. Dafür sind die der Filmhandlung zugrunde liegenden, wahren Ereignissen in ‚Killers of the Flower Moon‘ auch einfach viel zu niederschmetternd.“

Anders als in David Granns Buch „Das Verbrechen: Die wahre Geschichte hinter der spektakulärsten Mordserie Amerikas“ (mittlerweile vielfach neu aufgelegt, teilweise unter anderen Titeln) verlagert sich der erzählerische Schwerpunkt hier von Mollie, dem für die Handlung wichtigsten Mitglied des Osage-Stammes, auf den von Leonardo DiCaprio („Once Upon a Time in Hollywood“) verkörperten Ernest Burkhart. Dieser kehrt zu Beginn des Films aus dem Krieg zurück und arbeitet zunächst als Chauffeur, bevor er für seinen Onkel William Hale (Robert De Niro) immer zwielichtigere Jobs erledigt – und sich vor allem in Mollie verliebt. Der zweite, im Roman besonders wichtige Charakter: FBI-Agent Tom White, der von J. Edgar Hoover höchstpersönlich nach Oklahoma geschickt wird, um hier den Morden an den zahlreichen Ureinwohner:innen auf den Grund zu gehen. Ursprünglich war die Rolle von White mal für DiCaprio vorgesehen. Dass ihn nach ersten Planungen jedoch Jesse Plemons („Game Night“) beerbte, dürfte auch mit der Screentime seiner Rolle zusammenhängen. Tom White ist nämlich nicht bloß kaum zu sehen, sondern erhält vom Skript (Martin Scorsese und Eric Roth, „Dune“) auch längst nicht die Aufmerksamkeit, wie es seine Rolle eigentlich hergegeben hätte. Nicht umsonst trägt die Vorlage im Original den Nachsatz „The Osage Murders and the Birth of the FBI“ – die „Geburt des FBI“ spielt in „Killers of the Flower Moon“ keine Rolle…

Mollie erzählt ihren Freundinnen von den Qualitäten ihres Mannes…

… was der Geschichte auch zu ihrem Reiz einer dramaturgisch recht gleichförmigen, dabei stets unterschwellig brodelnden Inszenierung verhilft. Scorsese liefert keinen typischen Whodunit-Krimi. Im Gegenteil: Die sukzessive Offenlegung der mordenden Person(en) spielt sich hier noch beiläufiger ab als der verquere Rassismus, der in „Killers of the Flower Moon“ primär porträtiert wird. Hier läuft nichts auf eine überraschende „Was, der war’s!?“-Erkenntnis hinaus. Stattdessen setzt Scorsese mithilfe punktgenau platzierter Flashbacks, beiläufig fallengelassener Kommentare und kleinen Andeutungen, die nach und nach konkreteren Beobachtungen weichen, ganz langsam das Puzzle zusammen, auf dem nach etwa zwei Drittel des Films bereits die Auflösung abgebildet ist. Thrill und Suspense ziehen die Macher:innen stattdessen aus den Charakteren selbst. „Killers of the Flower Moon“ ist ein komplexes Porträt verschiedener Persönlichkeiten, die allesamt mit Machtstreben, Gier, aber auch inneren Dämonen zu tun haben. Ihre unterschiedliche Herangehensweise an die Lebensumstände sorgen für zahlreiche Reibungspunkte und Konflikte, die sich mit fortlaufender Dauer immer mehr miteinander verstricken. Damit am Ende auch zur Geltung kommt, wie weitläufig und -reichend die Ereignisse in „Killers of the Flower Moon“ sind, bleibt es nicht aus, dass die Erzählung hier und da ausfranst. Das eingangs erwähnte Kill your Darlings-Prinzip schien hier im Vorfeld nicht zu greifen; Martin Scorsese musste sich augenscheinlich von keinem Nebenhandlungsstrang, keiner Kamerafahrt, keinen (zu langen) Dialogen trennen. In manchen Szenen ist es allein dem Ensemble und der hocheleganten Inszenierung zu verdanken, dass man sich an den Leinwandereignissen trotzdem nicht sattsehen kann. Doch manchmal muss eine Aussprache zwischen Ernest und seiner Ehefrau Mollie auch tatsächlich mal fünfzehn Minuten andauern, nur damit am Ende des Gesprächs ein winziger Ausdruck in Ernests Mimik die vorausgegangenen Worte in ein ganz neues Licht rückt.

„Damit am Ende auch zur Geltung kommt, wie weitläufig und -reichend die Ereignisse in ‚Killers of the Flower Moon‘ sind, bleibt es nicht aus, dass die Erzählung hier und da ausfranst.“

Ohne einen einmal mehr überragenden Cast wäre ein Film in der Art, wie „Killers of the Flower Moon“ nun einer geworden ist, kaum möglich. Wenngleich Scorsese erneut nicht damit hinterm Berg halten kann, wie verschossen er in seinen Hauptdarsteller Leonardo DiCaprio ist, ist der eigentliche Star des Filmes jemand ganz Anderes. Ja, DiCaprio darf aufdrehen, besoffen sein, manisch umherlaufen, einen Nervenzusammenbruch haben und euphorisch verliebt sein. Doch die ihm zur Seite gestellte Lily Gladstone („Certain Women“) benötigt viel kleinere Gesten, um mit ihrem Auftreten jeden Raum einzunehmen. Ihr ausdrucksstarkes Gesicht muss nicht einmal Worte von sich geben, um den Schmerz ihres Lebens auf das Publikum zu transportieren. Dass ihr zu Beginn eingestreuter Voice Over über die Zeit verloren geht, ist allerdings bedauerlich. Ihre wenigen Momente des Off-Kommentars verleihen „Killers of the Flower Moon“ von Anfang an eine immense Gravitas. Kaum Jemandem dürfte die Oscarnominierung 2024 so sicher sein wie Gladstone, die selbst Hollywood-Urgestein Robert De Niro („Joker“) an die Wand spielt. Dieser bietet eine gewohnt starke Leistung, die sich allerdings nicht als eine besonders denkwürdige hervorhebt. Dafür kann sein William Hale die Beweggründe seines vordergründig gönnerhaften, hintergründig durch und durch selbstbezogenen Handelns einfach zu wenig zurückhalten. Hätte das Drehbuch die Facetten seiner Figur nicht so früh offengelegt und noch weiter ausgelotet, hätte De Niro vermutlich noch mehr aus ihr herausholen können als diese zweifelsohne sehenswerte Business as usual-Performance.

Der direkt vom FBI gesandte Ermittler Tom White (Jesse Plemons) befragt den verdächtigen Rinderbaron William Hale (Robert De Niro) nach den Morden…

Gar nicht business as usual fällt die stilsichere Inszenierung aus. Kameramann Rodrigo Prieto („Barbie“) nutzt die weitläufigen Settings der Drehorte in Oklahoma, Osage County und Washington County voll aus. Scorseses vorab akribische Auseinandersetzung mit dem Stoff merkt man nicht nur an dem teilweise absurd detailreichen und realistischen Abbild der Originalschauplätze. Hilfe und Ratschläge holte sich der Regisseur und Drehbuchautor im Vorfeld auch von Native Americans, die ihm bei der Aufarbeitung des Falles zur Seite standen. So tragen etwa auch die handelnden Figuren allesamt Originalnamen, gen Ende des Films greift Scorsese auf die Zitate echter Nachrichtenschnipsel zurück, bis er „Killers of the Flower Moon“ schließlich mit einem waschechten Understatement enden lässt. Mit diesem Entschluss unterstreicht Scorsese den Schwerpunkt seines Films als Veranschaulichung der „Banalität des Bösen“ (oder besser: der Banalisierung des Bösen). Sein Werk ist permanent von Tod und Verderben umgeben. Nur in wenigen Momenten bahnt es sich seinen Weg an die Oberfläche, wenn blutige Schüsse fallen oder gar in Nahaufnahme Schädeldecken aufgesägt werden. „Killers of the Flower Moon“ ist ein einziger, dumpfer Schlag in die Magengrube.

Fazit: Trotz seiner üppigen Lauflänge von rund dreieinhalb Stunden entpuppt sich Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“ als nachdrückliche Veranschaulichung der Banalisierung des Bösen, die trotz ihrer ruhigen, dramaturgisch gleichförmigen Erzählweise einen regelrechten Rausch entwickelt. Dafür verantwortlich zeichnen das überragende Ensemble, die detailgetreue Inszenierung und die sich kontinuierlich zuspitzende Intensität, jenseits klassischer Thrillerschemata.

„Killers of the Flower Moon“ ist ab dem 19. Oktober 2023 in den deutschen Kinos zu sehen und erscheint Ende des Jahres auf dem Streamingdienst Apple TV+.

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