The Irishman

Regisseur Martin Scorsese hatte für THE IRISHMAN Schauspiel-Titanen wie Robert De Niro, Al Pacino und Joe Pesci vor der Kamera. Die Namen der vier Oscar-Gewinner allein lassen auf ganz großes Kino hoffen. Ob das Mafia-Drama dieses Versprechen wirklich halten kann, verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Der gut 80-jährige Weltkriegs-Veteran und Ex-Lastwagenfahrer Frank Sheeran (Robert De Niro) blickt auf sein Leben zurück. Das geht eigentlich erst richtig los, als er in den 1960ern beginnt als Geldeintreiber, Schläger und Killer für Russell Bufalino (Joe Pesci) zu arbeiten. Obwohl Frank „nur“ irischer und nicht italienischer Abstammung ist, findet der Cosa-Nostra-Boss aufgrund seiner gewissenlosen Effizienz und absoluten Loyalität großen Gefallen an dem jungen Mann. Eines Tages stellt Bufalino ihn dann dem mit dem organisierten Verbrechen verbandelten Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa (Al Pacino) als Vertrauten und Leibwächter zur Seite. Zwischen den Männern entwickelt sich schnell eine enge Freundschaft, die auch bestehen bleibt, als der Funktionär wegen Korruption und Betrugs für Jahre ins Gefängnis einfährt. Nach seiner Entlassung will der machtsüchtige Hoffa sofort zurück an die Spitze seiner Vereinigung. Bufalino hat allerdings längst andere Pläne für ihn, die Frank nun in die Tat umsetzen soll…
Kritik
Martin Scorsese hat im Laufe seiner in den Sixties gestarteten Karriere hintergründige Tragikomödien, intensive Charakterdramen, nervenzerreißende Psycho-Thriller, stylische Literatur-Adaptionen, religiöse Epen, faszinierende Bio-Pics, Maßstäbe setzende Konzertfilme, diverse hochinteressante, engagierte Dokumentationen, eine historische Lovestory, ein Film-Noir-Musical, perfiden schwarzen Humor und sogar einen zu Tränen rührenden, familientauglichen Zeichentrick inszeniert. Dennoch ist der Name des New Yorkers für die meisten Kinofans synonym mit Geschichten um und über das organisierte Verbrechen. Kein Wunder, ist er doch der Schöpfer solch unvergesslicher, das Genre (mit)definierender Monumente wie „Hexenkessel“, „Good Fellas“, „Casino“, „Gangs Of New York“ und „Departed“. 13 Jahre nach letzterem reiht sich „The Irishman“ in diese Parade ein. Und das obwohl der Film auf reichlich andere, deutlich unkonventionellere Weise gemacht ist als die genannten Meisterwerke.
2004 erschien „I Heard You Paint Houses“, ein True-Crime-Buch des amerikanischen Ex-Anwalts und privaten Ermittlers Charles Brandt. Oscar-Preisträger Robert De Niro („Taxi Driver“, „Der Pate II“) las den Band und war sofort fasziniert von Protagonist Frank Sheeran und seinem umfassenden Geständnis bezüglich einer einmaligen Laufbahn als Auftragskiller für die Mafia im Nordosten Pennsylvanias. Sheeran scheint eine Art realer Forrest Gump der Unterwelt vor den Toren New Yorks gewesen zu sein. Jedenfalls waren er und seine Spießgesellen laut eigener Aussage nicht nur für das „Verschwinden“ Jimmy Hoffas verantwortlich, sondern außerdem für die Wahl und spätere Ermordung John F. Kennedys, Richard Nixons Präsidentschaft, Attentatsversuche auf Fidel Castro sowie diverse weitere historische Großereignisse. De Niro kontaktierte seinen engen Freund und vielfachen Kollaborateur Scorsese, um ihm über das Buch zu berichten. Der Regisseur teilte die Begeisterung für den Stoff, erwarb die Verwertungsrechte fürs Kino und begann 2007 damit, Vorbereitungen für eine Verfilmung zu treffen. Aufgrund langwieriger Recherchen, haufenweiser Skript-Überarbeitungen und Warten auf weitere Fortschritte im CGI-Bereich dauerte es allerdings zehn Jahre, bis Autor Steve Zaillian (Oscar-Gewinner für „Schindlers Liste“) Scorsese und dem zusätzlich als Produzent tätigen De Niro ein fertiges Drehbuch präsentierte und es endlich losgehen konnte.
Auf die Verbesserung der CGI-Technologie zu warten war essenziell, denn Scorsese plante seinen Film in Rückblicken erzählen: Ein im Altersheim sitzender Sheeran spricht, während das Publikum Flashbacks zu diversen Punkten in seinem Leben sieht. Der Regisseur wollte, dass alle wichtigen Figuren durchgehend von den gleichen Darstellern gespielt würden, ohne dabei auf allzu offensichtliche und somit der Glaubwürdigkeit abträgliche Make-Up-Effekte zurückgreifen zu müssen. Das sogenannte digitale „De-Aging“ wurde zuvor bereits u. a. in Superhelden-Streifen wie „Aquaman“, „Avengers: Endgame“ oder „Captain Marvel“ benutzt. Auch De Niro wurde schon einmal auf diese Weise verjüngt, als er und Sylvester Stallone in der Sport-Dramedy „Zwei vom alten Schlag“ gegeneinander antraten. Doch nie zuvor waren die Sequenzen so lang, umfangreich, vielfältig und für das Endergebnis elementar, wie Scorsese sie sich vorstellte und schließlich realisierte.
Das Warten hat sich gelohnt, denn die Illusion funktioniert hervorragend. Die Gesichter von De Niro, Pesci, Pacino & Co. schauen aus wie in ihren alten Rollen; geradewegs so, als hätten die Legenden die Sequenzen tatsächlich bereits zwei, drei oder vier Dekaden zuvor gedreht. Kleinere Probleme gibt es lediglich, wenn der komplette Körper im Bild ist und sich die Figur schnell bewegt. An diesen Stellen merkt man dann leider schon ein wenig, dass das Ganze manipuliert ist. Zum Beispiel in der Sequenz, während der, knapp 40-jähriger Sheeran eine andere Person verprügelt. De Niro war zum Zeitpunkt der Dreharbeiten immerhin schon Mitte 70 und das ist unübersehbar. Er bewegt sich nun mal seinem Alter entsprechend und seine Motorik ist nachvollziehbarerweise längst nicht mehr so geschmeidig wie damals, als er 1980 den Boxer Jake LaMotta in „Wie ein wilder Stier“ gab.
„The Irishman“ ist dennoch rundum empfehlenswert. Auch weil Martin Scorsese mit fast 80 Jahren weiterhin für Überraschungen gut ist. Das beweist er mit einem für ihn erfrischend anderen Film auf erstaunliche, zum Ende gar emotional immens berührende Weise. Er lässt sich viel Zeit, setzt bewusst auf die Entwicklung dichter Atmosphäre mit Hilfe stark gedrosselten Tempos. Es gibt kaum Schießereien, die meisten Gewalttaten werden „kurz und schmerzlos“, fast im Vorbeigehen, verübt oder passieren sogar jenseits des Blickfelds des Publikums. Im Gegensatz zu „Good Fellas“ oder „Casino“ wird das Gangsterdasein hier alles andere als romantisiert beziehungsweise glamourisiert. Das erkennen wir schon daran, dass Frank offenbar einsam und allein in einem schäbigen Altersheim endet. Zudem wird jede neu in die Handlung eingeführte Person mit einem eingeblendeten Untertitel bedacht, in dem das Datum und die Art ihres zu geschätzten 95 % nicht natürlichen Todes detailliert werden. Diese für Scorseses Œuvre ungewohnten Elemente tragen viel dazu bei, die satten 210 (!) Minuten erstaunlich zügig vergehen zu lassen. Ein weiterer Grund für die Kurzweiligkeit sind herrlich trockene, niemals unpassend eingestreute humoristische Momente. Etwa wenn sich in den Dialogen über absurde Gangster-Spitznamen lustig gemacht wird, die gefürchteten Mafioso es nicht schaffen, ihren Frauen das Zigarettenrauchen im Auto zu untersagen oder Hoffa bei einer Anhörung mit Justizminister Robert F. Kennedy (Jack Huston, „Ben-Hur“) auf köstlich kreative Weise die Aussage verweigert.
Die Hauptattraktion von „The Irishman“ sind letztlich weder die erstaunliche Computer-Technik noch die ungeheuerlichen, möglicherweise der Wahrheit entsprechenden, vielleicht aber auch nur vom 2003 verstorbenen Sheeran dreist erfundenen oder ausgeschmückten Plot-Punkte, sondern die Darsteller. Es ist schlichtweg ein Genuss De Niro, Pacino („Der Duft der Frauen“, „An jedem verdammten Sonntag“) und – nach viel zu langer Auszeit – endlich einmal wieder Pesci („Mein Vetter Winnie“, „Lethal Weapon 4“) interagieren, ihre perfekt getimten Dialoge sprechen und dabei die Handlung elegant vorantreiben zu sehen. Ob digital auf jung getrimmt oder als reife Männer – das Trio dominiert gemeinsam die Leinwand und zieht den Zuschauer komplett in seinen Bann. Unterstützt werden sie durch nicht immer besonders umfangreiche, dafür aber starke und unbedingt in Erinnerung bleibende Auftritte von Nebenakteuren wie Ray Romano („Alle lieben Raymond“), Anna Paquin („Das Piano“), Bobby Cannavale („Jumanji: Willkommen im Dschungel“), Jesse Plemons („Breaking Bad“) und Harvey Keitel („Pulp Fiction“).
Fazit: Dank der ebenso souveränen wie virtuos einfallsreichen Arbeit eines der größten Regisseure der Kinohistorie, seines atemberaubend aufspielenden Casts, brillanter Dialoge und erstaunlicher, moderner Technik vergehen die dreieinhalb Stunden dieses außergewöhnlichen Gangster-Dramas fast wie im Flug.
„The Irishman“ ist ab dem 14. November in ausgewählten deutschen Kinos und ab 27. November 2019 weltweit per Video-on-Demand via Netflix zu sehen.
Servus Antje, nach dem letzten Kino+ bin ich erstaunt eine positive Kritik zu einem Martin-Scorsese-Film auf dieser Website zu lesen. Erstaunt und erfreut. Hoffentlich wird The Irishman in Wien gezeigt, denn Netflix habe ich nicht. Obschon man vielleicht einen Gratis-Monat riskieren könnte?
Habe die Ehre // Marian