Sonne und Beton

Regisseur David Wnendt macht aus Felix Lobrechts Bestseller SONNE UND BETON einen der besten deutschen Filme seit vielen Jahren – vor allem, weil beide die Sprache jener sprechen, die sie hier porträtieren.

OT: Sonne und Beton (DE 2023)

Darum geht’s

Berlin-Gropiusstadt im Rekordsommer 2003. In den Parks stinkt es nach Hundescheiße, überall Scherben, in den Ecken stehen Dealer. Wer hier lebt, ist Gangster oder Opfer. Lukas (Levy Rico Arcos), Gino (Rafael Luis Klein-Heßling) und Julius (Vincent Wiemer) sind solche Opfer. Kein Geld fürs Schwimmbad, kein Glück in der Liebe und nur Stress zu Hause. Als sie im Park Gras kaufen wollen, geraten sie zwischen rivalisierende Dealer. Die verprügeln Lukas und wollen 500 Euro Schutzgeld. Wie soll Lukas das Geld auftreiben? Sein neuer Klassenkamerad Sanchez (Aaron Maldonado-Morales) hat eine Idee: Einfach in die Schule einbrechen, die neuen Computer aus dem Lager schleppen und verkaufen. Dann sind sie alle Geldsorgen los. Der Plan gelingt. Fast.

Kritik

In Lenny Abrahamsons mehrfach oscarnominierten und -prämierten Drama „Raum“ aus dem Jahr 2015 gibt es eine Szene, die es wie kaum eine andere in den letzten Jahren vermocht hat, das Publikum im Kollektiv in eine Schockstarre zu versetzen: In dieser sehen wir einen kleinen Jungen, dem es nach einem mehrjährigen Gefangenschaftsmartyrium gelingen konnte, sich auf der Ladefläche eines Trucks zu verstecken und dadurch möglicherweise seinem Kidnapper zu entkommen. Wenn… ja, wenn es ihm denn gelingt, an der Ampel vom Auto herunterzuspringen und sich in Sicherheit zu bringen, noch bevor sein Entführer etwas davon mitbekommt. Diese Szene markiert nicht nur den emotionalen Höhepunkt von „Raum“, sondern zeigt auch, mit welch minimalen Mitteln Spannung eingesetzt und damit einhergehend wirken kann. Und dass das Empfinden derselben – audiovisuelle Möglichkeiten der Publikumsmanipulation mal außen vorgelassen – nicht allein von der Situation abhängig, sondern auch stark an die darin agierenden Figuren gekoppelt ist.

Weshalb ein Text zu David Wnendts Verfilmung des gefeierten Berliner-Milieu-Romans „Sonne und Beton“ mit dieser ikonischen Szene aus „Raum“ beginnt, hat einen guten Grund: Auch dieser Film des Regisseurs von „Feuchtgebiete“ und „Er ist wieder da“, zwei ebenfalls sowohl umstrittenen als auch die Essenz der ihnen zugrunde liegenden Romane vollends aufgesaugten Buchverfilmungen, besitzt ebenfalls eine solch Szene; Es ist vielleicht die intensivste, die das deutsche Kino in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat, weil sie aller stilistischer Entscheidungen zum Trotz (dazu gehören etwa die Anwendung von Slow Motion sowie das kontinuierliche Anschwellen des Scores) einen puren und ungeschönten Adrenalinschub darstellt, der zu seiner vollen Entfaltung genau jenes menschlich-emotionale Umfeld bedarf wie es eben auch das Schicksal des jungen Jack in „Raum“ benötigte, damit der „Junge-springt-an-einer-roten-Ampel-von-einer-Ladefläche“-Moment eben auch seine volle Wirkung entfaltet.

Julius (Vincent Wiemer), Lukas (Levy Rico Arcos), Gino (Rafael Klein-Heßling) und Sanchez (Aaron Maldonado-Morales) wachsen gemeinsam in Gropiusstadt auf.

Allzu viel sei an dieser Stelle gar nicht über ebenjene Szene in „Sonne und Beton“ verraten. Im Mittelpunkt steht indes ein Wecker, dessen unaufhaltsames Ticken etwas ankündigt, von dem jeder und jede im Publikum weiß, dass es in eine Eskalation münden muss. Es ist nur noch nicht klar, wie diese aussieht und vor allem, welche Folgen sie für die zentralen Figuren der Geschichte haben wird. Bei ebenjenen handelt es sich vorrangig um Lukas (Levy Rico Arcos) sowie um seine Freunde Gino (Rafael Luis Klein-Hessling), Julius (Vincent Wiemer) und Sanchez (Aaron Maldonado-Morales). Sie alle wachsen Anfang der Zweitausenderjahre im Berliner Problembezirk Neukölln auf. Zu einer Zeit also, in der Thilo Sarrazin vermutlich gerade dabei war, sich seinen Stoff für sein bis heute höchstumstrittenes Buch „Deutschland schafft sich ab“ zusammenzusammeln (der Buchtitel fällt als Satz so auch einmal wortwörtlich im Film), in der Deutschlands Problemkieze rund um gewaltbereite Jugendliche regelmäßig in den Schlagzeilen waren, bei Sendungen wie Spiegel TV und Co. thematisiert wurden und dadurch irgendwie Aufklärung betrieben werden sollte, die Probleme des großen Ganzen aber nie aufrichtig angegangen wurden. In einem – im wahrsten Sinne des Wortes –  hitzigen Strudel aus Gewalt und Gegengewalt, aus daraus resultierender Perspektivlosigkeit und eingebettet in familiäre Umfelder, die mindestens genauso zu dieser trostlosen Jugendmisere beizutragen hatten, wie die Zustände auf dem Schulhof oder im Drogenpark, versuchen sich diese vier Freunde zurechtzufinden. Doch wenn man in solch einem kriminalitätsgeprägten Umfeld wie Neukölln 2003 aufwächst, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man sich selbst ebenso schnell darin verliert…

„Frauen sind Bitches. Mütter sind Götter!“

In einem, im Vergleich zum Rest ausnahmsweise mal etwas ruhiger vorgetragenen Dialog unter den Jungs fällt der Satz: „Frauen sind Bitches. Aber Mütter sind Götter!“. Man könnte diesen Ausruf auch als die Quintessenz von „Sonne und Beton“ verstehen, denn in ihm spiegelt sich all die Widersprüchlichkeit der jungen Männer wider, wie sie sich dem Publikum in den knapp zwei Stunden Laufzeit präsentiert. Es dürfte nicht lange dauern, bis die Ersten ohnehin aufgegeben haben werden, die Beweggründe von Lukas und seinen Freunden zu verstehen. Der von Felix Lobrecht schon im Roman so kongenial eingefangene „Ghettoslang“ hält sein Publikum auf Abstand. Kaum ein Satz kommt ohne schiefe Grammatik, ein Schimpfwort oder irgendeinen Insider aus, den eh nur versteht, wer selbst in Neukölln wohnt – oder zumindest Anfang der Nullerjahre in einem Bezirk mit ähnlicher demographischer Zusammensetzung aufgewachsen ist. Die Protagonisten aus „Sonne und Beton“ erwecken immer wieder den Anschein, ihr ganzes Leben sei ein einziges Rapbattle (im Laufe des Films fallen auch Namen wie Aggro Berlin, sogar die erste Strophe eines bis heute fälschlicherweise oft als indiziert in Erinnerung bleibenden Songs des damaligen Skandalrappers Sido hat es in den Film geschafft), nur das am Ende eben keiner applaudiert, sondern sich das Proletengetue als verbaler Panzer herausstellt; den man vielleicht nie vollends knacken, aber es zumindest versuchen kann.

Lukas ist in seiner Schule einer der wenigen deutschstämmigen Schüler, was die Dinge nicht immer einfach macht für ihn.

All dem kann man unterschiedlich begegnen. Während deutsche Nachrichtenmagazine von der einschüchternden Attitüde stets direkt auf die Charaktere schlossen, nutzte Bora Dagtekin die damit oft einhergehende Bildungsferne der Unterschichten für Gags, die in erster Linie daraus resultierten, sich über jene lustig zu machen, die solche Verbalpanzer aus unterschiedlichen Gründen benötigen. Die „Fack ju Göhte“-Trilogie gehört nach wie vor zu den erfolgreichsten Filmreihen der deutschen Kinogeschichte. Doch im Vergleich zu der Aufrichtigkeit, mit der die Macher von „Sonne und Beton“ ihren Figuren begegnen, möchte man sich nach Filmende fast schämen, den quietschbunten Pennälercomedies auch nur irgendwas abgewonnen zu haben. Während Dagtekin erst im dritten Teil alibihaft so etwas wie Empathie für die schwierigen Lebensumfelder seiner bis dato längst zu Witzfiguren verkommenen Protagonistinnen und Protagonisten aufbrachte, begegnen die Autoren Felix Lobrecht und David Wnendt ihren Figuren mit einem solch ehrlichen Interesse an den Lebenswegen der Jungs, dass die erste Prügelei im Film noch nicht einmal vorbei sein muss, damit sich herauskristallisiert, worin die ganz großen Stärken von „Sonne und Beton“ liegen: Wie zuletzt schon Fatih Akin in seinem Xatar-Biopic „Rheingold“ so hervorragend gelungen, wägen Wnendt und Lobrecht mit einem ungeheuren Fingerspitzengefühl ab, in welchen Momenten sie die Geschehnisse in eine kommentierende oder aber bloß in eine dokumentierende Richtung auslegen. In den meisten Fällen herrscht ein „Wir zeigen einfach, was ist und ihr zieht eure eigenen Schlüsse daraus“-Gedanke vor, was auch dazu führt, dass „Sonne und Beton“ klar trennt zwischen den Taten der handelnden Figuren selbst und den diesen zugrunde liegenden Beweggründen. Und Lukas, Gino, Julius und Sanchez stolpern eben nicht einfach nur von einem Faux Pas in den nächsten, sondern bauen im Hitzerekordsommer 2003 eine fette Scheiße nach der anderen und stoßen das Publikum damit immer wieder konsequent vor den Kopf.

„Ey, lass‘ mal Abitur machen!“

Wenn Julius nach einer Taxifahrt Pfefferspray herausholt, um damit den Taxifahrer anzugreifen, können dieser Szene noch so viele kleine, wichtige Momente der Not und Selbsterkenntnis vorausgegangen sein: Plötzlich bricht einmal mehr eine Welle der Gewalt über den Kinosaal herein. Und diese besteht nun mal zu gleichen Teilen aus prügelnden, alkoholkranken Vätern und alleinerziehenden Müttern in Armut als auch aus Drogengewalt und höchst abschätziger Behandlung von Frauen – die in „Sonne und Beton“ übrigens mindestens genauso gut austeilen können wie die pubertierenden Boys. Teil für Teil legen Wnendt und Lobrecht das Puzzle eines Hexenkessels auf der Leinwand aus. Da ist die Bigotterie des „Alle jammern, aber keiner will anfangen, etwas zu ändern, weil allein das Finden der Quelle ein enormer Aufwand wäre“-Problems auf der einen Seite – mit einem Vertrauenslehrer, der vorgaukelt, alles besser machen zu wollen, sich aber in Wirklichkeit längst die „die Ausländer sind schuld“-Karte zurechtgelegt hat als trauriger Höhepunkt. Und da ist diese Freundschaft der vier Jungen auf der anderen Seite. Und sie ist das Herz von „Sonne und Beton“, der in seinem audiovisuellen Erscheinungsbild so rau, so ruppig und so brutal daherkommt, dass man oft vergisst, dass die Hauptfiguren noch nicht einmal volljährig sind – in einem Alter, in dem man sie von der schiefen Bahn nur zu gern wieder herunterholen möchte; heraus aus den versifften, viel zu kleinen Wohnungen ihrer gewalttätigen Eltern, irgendwohin, wo das Gesetz der Straße ursprüngliche Wertevorstellungen nicht immer direkt mit dem Schlagring erschlägt.

Julius ist unsterblich in Denise (Elisabeth Albin) verliebt.

„Sonne und Beton“ ist, wie schon Serien à la „4 Blocks“, Filme der Marke „Nur Gott kann mich richten“ oder eben auch „Rheingold“ als sehr aktuelles Beispiel auf der einen Seite eine ungeschönte Milieustudie. Zur Authentizität ebendieser trägt neben den auf den Punkt verfassten Dialogen vor allem das Ensemble bei. Gecastet wurde ein Großteil der Schauspielerinnen und Schauspieler direkt von der Straße; ihrem Element sozusagen, in dem sie sich auch vor der Kamera weiterhin selbstsicher bewegen dürfen. Darunter Levy Rico Arcos, Rafael Luis Klein-Hessling, Vincent Wiemer und Aaron Maldonado-Morales, die allesamt nicht weniger als Glücksgriffe für ihre Rollen sind. Ihnen gelingt ein bisweilen im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubender Tanz auf der Rasierklinge. Sie prügeln, betrügen, stehlen und beleidigen (wenn nicht gar noch Schlimmeres) und sind im Herzen doch noch Kinder, die ihren Welpenschutz trotzdem längst verspielt haben. Doch wir sollen nicht darüber urteilen, was sie tun. Sollen ihnen nicht verzeihen, müssen sie nicht zwingend in den Arm nehmen und bekehren wollen, denn sie haben sich schon auch alle mit ihrem Platz im Leben arrangiert. Doch wir sollen mitfiebern. Mit dieser Freundschaft, ohne die diese Gruppe von Abgehängten in Neukölln vermutlich nicht überleben würde. Am Ende liegen sie sich in den Armen. Sie alle tragen wahlweise Narben, Gipse, Beatmungsgeräte oder auch „nur“ ein blaues Auge. Sie alle werden vermutlich weder das Abitur machen (der Ausruf „Ey, lass Abitur machen!“ steht derweil symptomatisch für einen Galgenhumor, der immer auch ein Stückweit in „Sonne und Beton“ mitschwingt) noch einen legalen Berufsweg einschlagen (können). Auf manch einen wartet das Gefängnis. Doch für diesen einen Moment haben sie sich. Es ist der schönste Kinomoment des Jahres!

„Sonne und Beton“ ist ab dem 2. März 2023 in den deutschen Kinos zu sehen.

Ein Kommentar

  • Hallo Antje, war auf der suche nach Filmreviews als ich auf deine Seite gestolpert bin. Akzeptierst du auch Gastartikel? LG, Elem

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