Raum

Spätestens seit der Oscar-Verleihung dürfte das preisgekrönte Entführungsdrama RAUM den Meisten ein Begriff sein. Darin erzählt Lenny Abrahamson die Geschichte einer bedingungslosen Liebe zwischen Mutter und Sohn, die ihr Leben in einem neun Quadratmeter großen Reim verbringen müssen. Mehr dazu in meiner Kritik.
Der Plot
Ein Leben zu zweit auf neun Quadratmetern: „Raum“ erzählt die außergewöhnliche Geschichte von Jack (Jacob Tremblay), einem lebhaften Fünfjährigen, um den sich seine liebende Mutter Ma (Brie Larson) kümmert. Wie jede Mutter will sie, dass Jack glücklich und sicher ist. Sie zieht ihn liebevoll auf, spielt mit ihm, erzählt ihm Geschichten – doch ihr beider Leben ist alles andere als normal. Sie sind gefangen in diesem Raum. Ma hat daher ein ganzes Universum innerhalb des Raums für Jack erschaffen und wird vor nichts Halt machen, um sicherzugehen, dass Jack auch in dieser tückischen Umgebung in der Lage ist, ein vollkommenes und erfülltes Leben zu führen. Aber als Jack immer mehr Fragen über ihre Situation stellt und Ma an die Grenzen ihrer Belastbarkeit stößt, beschließen sie eine riskante Flucht. Erfolg oder Misserfolg hängen nun von Jack ab…
Kritik
Ganz gleich, wie sehr die internationale Presse in der 26-jährigen Schauspielerin Brie Larson („21 Jump Street“) eine Newcomerin sieht, eines hat sie mit ihrem Oscargewinn als „Beste Hauptdarstellerin“ für ihre Performance in „Raum“ allemal erreicht: die Dominanz über die Schlagzeilen der großen Boulevardblätter. Die in den letzten Jahren hauptsächlich im US-amerikanischen Independent-Kino tätige Kalifornierin konnte sich in diesem Jahr sowohl gegen Schauspielgrößen wie Cate Blanchett oder Charlotte Rampling, als auch gegen den aufstrebenden Nachwuchs in Form von Jennifer Lawrence und Saoirse Ronan durchsetzen und beweist damit, dass sich bei den Academy Awards eben nicht bloß Name und Prestige einer nominierten Aktrice durchsetzen, sondern in erster Linie das Schauspiel. An der Seite ihres heranwachsenden Kollegen Jacob Tremblay („Die Schlümpfe 2“) trägt sie das auf dem gleichnamigen Roman von Emma Donoghue basierende Entführungsdrama „Raum“ vollständig auf ihren Schultern. Dabei spielt ihr in der ersten Hälfte noch die Konzentration auf die beengte Wohnsituation in die Hände, während Larson im zweiten Abschnitt noch mehr gefragt ist, die emotionale Spannung innerhalb der neun Quadratmeter mit hinaus in die weite Welt zu tragen. Dank eines hervorragenden Skripts, einem Nachwuchsdarsteller, bei dem man sich fragt, weshalb ihm die Oscar-Nominierung verwehrt blieb, und der peniblen Beobachtungsgabe des Regisseurs erzählt „Raum“ zwei Geschichten unterschiedlichen Kalibers, die aufgrund der unerschütterlichen Liebe zwischen Mutter und Kund zusammengehalten werden.
Regisseur Lenny Abrahamson („Frank“) gelingt mit „Raum“ das Kunststück, ein und dasselbe Thema anhand der gleich bleibenden Figurenkonstellation aus zwei völlig unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. Es geht um die bedingungslose Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die wir zu Beginn ausschließlich innerhalb der vier Wände des Raumes beobachten dürfen. Erst nach und nach erfährt der Zuschauer von den Umständen, welche die beiden in diese Lage brachten. Er wird Zeuge, wie Ma für sich und ihren Sohn eine ganz eigene Realität geschaffen hat, wie sie alles versucht, das Böse von Jack fernzuhalten und gleichzeitig die immerwährenden Fluchtgedanken unterdrücken muss. Wie auch die Figur beginnt das Publikum selbst schon bald, abzuwägen, welcher Schritt in welcher Situation der Richtige ist. Durch die buchstäbliche Nähe zu den Figuren leiden wir mit, wir quälen uns mit dem Gedanken, was wäre, wenn wir uns aus dem Raum befreien könnten und stehen doch vor der Frage, wie wir unserem eigenen Kind beibringen würden, dass sein ganzes Leben auf einer Lüge fußt.
Wie Ma ihre eigene kleine Welt für ihren Sohn geschaffen hat, ist im Detail ebenso liebevoll wie tragisch. Das Skript zeichnet Ma als feinfühlige, über ihre Grenzen der Belastbarkeit gehende und damit durch und durch aufopferungsvolle Mutter, ohne sie dadurch automatisch zu einer Heldin hochzustilisieren. Es ist gerade die Fehlbarkeit ihrer Figur, die sie derart menschlich macht, dass jeder sich im Publikum mit ihr identifizieren kann. Das Skript lässt sie durchdrehen, verzweifeln, leiden und zum Ende des ersten Teils auch absolut verantwortungslos handelt. Und doch lässt das Drehbuch nie einen Zweifel daran, wofür – oder besser: für wen – sie all das auf sich nimmt. So wollen wir im Publikum stets nur das Beste für sie und ihren Sohn, den Jacob Trembley so nah an der Realität eines Fünfjährigen verkörpert, dass wir uns kaum vorstellen könnten, dass Tremblay in Wirklichkeit schon fast doppelt so alt ist. Der Jungdarsteller schafft es hervorragend, seine kindlich-naive Attitüde zwischen den Zeilen mit einer spürbaren Cleverness anzureichern, was auch ein Grund dafür ist, dass „Raum“ so authentisch wirkt. Hinzu kommt die Beeinflussung der Autoren von wahren Begebenheiten ähnlichen Kalibers, wie etwa dem Entführungsfall Natascha Kampusch. Hier stellt sich die immerwährende Frage nach Opfer und Täter allerdings nicht. „Raum“ konfrontiert den Zuschauer ohne Hintergedanken mit der Situation und legt offen, was sie mit dem Menschen macht, ohne dabei mit dem Zeigefinger auf die Täter zu zeigen. Abrahamson geht sogar so weit, ihn zunächst gar nicht zu zeigen und in den wenigen Momenten seines Auftritts fast beiläufig innerhalb des Gefängnisses zu platzieren. Damit nimmt er ihm den Status als Hassobjekt – und damit all seine Macht.
Nach der eindringlichen ersten Hälfte innerhalb des Raumes begibt sich das Skript (ganz nach der Romanvorlage) hinaus aus den vier Wänden. Der Moment der Flucht gehört zu den spannendsten Kinoerlebnissen jüngerer Vergangenheit, ist so punktgenau inszeniert und von vorn bis hinten durchdacht, dass es nicht wundert, dass man selbst für einen Moment vergisst, zu atmen. „Raum“ verkauft sich von Beginn an unberechenbar und bleibt es bis zum Schluss. Dagegen wirkt die anschließende Thematisierung der Opfer-Wiedereingliederung in die Gesellschaft und das damit einhergehende Medieninteresse fast schon standardisiert. Doch Lenny Abrahamson findet auch in alltäglichen Situationen das Besondere. Während ein Interview mit Ma, die sich vor laufender Kamera zu ihrem Martyrium äußert, ein wenig an die medienkritischen Untertöne von David Finchers „Gone Girl“ erinnert, bleibt „Raum“ auch in diesem Teil seiner Inszenierung ganz nah an den Figuren. Wie sich der Medienrummel ertragen lässt oder wie mit dem Täter verfahren wird, erscheinen unter den wachsamen Augen des Regisseurs nur wie kaum erwähnenswerte Randnotizen. Das Hauptaugenmerk liegt auf der zwischenmenschlichen Interaktion innerhalb der Familie, die sich mit der Zeit ebenso verändert hat, wie die Welt an sich.
Fazit: Regisseur Lenny Abrahamson gelingt mit seinem Entführungsdrama „Raum“ eine intime Auseinandersetzung mit einer bedingungslosen Liebe zwischen Mutter und Sohn, die vollkommen ohne die Betrachtung von Täter und Opfer auskommt und den Fokus ganz auf die Emotionen legt. Brillant!
„Raum“ ist ab dem 17. März bundesweit in den Kinos zu sehen.
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