Mein Sohn

Die wohl größte Aufmerksamkeit auf Lena Stahls Langfilmdebüt MEIN SOHN dürfte die Hauptdarstellerin Anke Engelke auf sich ziehen. Die bislang vorwiegend für ihre Comedy- und Synchronrollen bekannte Komikerin zeigt sich in dem dramatischen Roadmovie von einer Seite, wie wir sie bislang nur selten sehen durften. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.

OT: Mein Sohn (DE 2021)

Der Plot

Eine Sekunde der Unachtsamkeit, ein Knall und Jasons Leben als angehender Profisportler ist Geschichte. Ein Autounfall wirft den hoffnungsvollen Skateboarder völlig aus der Bahn. Infolgedessen empfehlen ihm die Ärzte einen Aufenthalt in einer Reha-Klinik. Seine Mutter Marlene (Anke Engelke) bemüht sich rasch um einen Platz in der Schweiz. Hier sollen die Genesungschancen besonders gut sein. Doch Jason (Jonas Dassler) ist alles andere als begeistert von der Idee, dorthin zu reisen und noch dazu mit seiner Mutter zusammen. Die beiden haben sich auf dem Weg zu Jonas‘ Erwachsenwerden irgendwann aus den Augen verloren, schwimmen auf unterschiedlichen Wellen, kommen nicht mehr aneinander heran. Dabei will eigentlich jeder nur das Beste für den jeweils anderen. Ob dieser Roadtrip wider Willen die beiden wieder zusammenführt?

Kritik

Die oben angegebene Inhaltsangabe spiegelt eins zu eins den Film wider. Die Erwartungen, die das Publikum dadurch an den Film stellen dürfte, kann dieser Plot trotzdem nicht erfüllen. Und das meinen wir in diesem Fall ausschließlich positiv, denn „Mein Sohn“, das Langfilmdebüt von Regisseurin und Autorin Lena Stahl, ist keiner dieser Filme über zwei grundverschiedene, sich nicht (mehr) verstehende Parteien, die im Zuge eines Schicksalsschlages wieder zusammenwachsen, weil es ihnen schlicht nicht möglich ist, einander aus dem Weg zu gehen. Wie es während eines Roadtrips in der Regel üblich ist. Es geht nicht um das Aufeinanderprallen größtmöglicher Unterschiede. Es gibt nicht das eine, sämtliche Vorkommnisse und Missverständnisse der Vergangenheit aus dem Weg schaffende Gespräch, nachdem beide wieder miteinander harmonieren. Denn Lena Stahl, die mit ihrer Arbeit Lust auf Karoline Herfurths dritten Spielfilm „Wunderschön“ macht, für den sie ebenfalls das Skript verfasste, fokussiert keinen klassischen Konflikt, sondern ein Gefühl; Nämlich das, in seinem eigenen Leben verloren neben sich zu stehen und dabei zuzusehen, wie man eigentlich alles richtig macht und trotzdem scheitert.

Ihrem Sohn (Jonas Dassler) zuliebe, nimmt Marlene (Anke Engelke) auf dem Weg in die Schweiz sogar Anhalter (hier: Daniel Zillmann) mit.

Anke Engelke („Das schönste Mädchen der Welt“) ist schon nach wenigen Sekunden vollständig mit ihrer Rolle der sorgenvollen Mutter verschmolzen. „Mein Sohn“ ist nicht ihre erste ernste Schauspielrolle, aber definitiv ihre bislang persönlichste. Und noch dazu ist sie entgegen des ersten Eindrucks längst nicht so eindimensional geschrieben, wie man vielleicht befürchten könnte. Ihre Marlene ist nicht die klassische „Helicopter-Mum“ (im US-amerikanischen Sprachgebrauch hat sich dieser Begriff für Mütter etabliert, deren Aufmerksamkeit wie ein Hubschrauber permanent um ihre Kinder kreist), wie es der Plot anklingen lässt. Sie ist fürsorglich, aber nicht überfürsorglich. Und will im Grunde wirklich nur das Beste für ihren Sohn, ohne sich ihm aufzudrängen. Dass ihr zwanzigjähriger Sprössling Jason sie dennoch als eine solche wahrnimmt, liegt in seinem rebellischen Charakter begründet; in seinem Drang, es sich und seinem Umfeld jeden Tag selbst beweisen zu müssen und dafür jedwedes Gefühl für Risiken auszuschalten. Da hat seine Mutter einfach keinen Platz (mehr). Mit seiner gleichermaßen sehr ich-bezogenen Attitüde stößt er die um engen Kontakt bemühte Marlene zwar vor den Kopf, ein konkretes Fehlverhalten lässt sich ihm dadurch aber kaum anlasten. Genauso wenig wie Marlene ihres. Und so begehen weder Mutter noch Sohn klassische Kommunikationsfehler. Sie befinden sich zum Zeitpunkt des Films einfach nur auf unterschiedlichen Wellenlängen. Den angestrebten Idealzustand im Anschluss an das einander Annähern, wenn sich die Persönlichkeiten der Figuren doch endlich überschneiden, bringt übrigens auch das deutsche Filmplakat mit simplen Mitteln schön zur Geltung.

„In ‚Mein Sohn‘ weder Mutter noch Sohn klassische Kommunikationsfehler. Sie befinden sich zum Zeitpunkt des Films einfach nur auf unterschiedlichen Wellenlängen.“

Das Gefühl, dabei zuzusehen, wie sich zwei gegensätzliche Figuren in verschiedenen Grauzonen aufeinander zu bewegen, hat von Beginn an einen viel größeren Reiz als das zur Genüge heraufbeschworene Erzählmotiv zwei gegensätzlicher Pole, die sich irgendwann trotzdem zusammenraufen. Entsprechend wenig ist „Mein Sohn“ eine Tragikomödie („Gott, du kannst ein Arsch sein“ und Co. würden hier unter anderer Regie- und Autor:innenhand vermutlich grüßen), sondern ein klassisches Drama, das vor allem von Selbstfindung erzählt. Beiden Hauptfiguren ermöglicht die Reise in die Schweiz die Rückbesinnung auf sich selbst; Erst dann können sie sich auch wieder gegenseitig aufeinander einlassen. Da kommt einem automatisch der Ratgebertipp „Erst, wenn du dich selbst liebst, können dich auch andere lieben.“ in den Sinn. Doch auch auf solch simple Sprichworte lässt sich die Beziehung des hier porträtierten Mutter-Sohn-Gespannes nicht herunterbrechen. Immer wieder laufen Gespräche selbst dann in die falsche Richtung, wenn eigentlich überhaupt kein Konfliktpotenzial (etwa durch unterschiedliche Sichtweisen auf ein Thema) gegeben ist. Darüber hinaus arbeitet Lena Stahl Momente für ihre Charaktere heraus, in denen sich die Gemeinsamkeiten nicht in der Meinung, sondern in der Art der Kommunikation wiederfinden; und Mutter und Sohn einander wieder näherbringen. In „Mein Sohn“ steht nie die Bewältigung bestimmter Konflikte im Fokus, sondern das Aneignen einer gemeinsamen Sprache, mit der man so ziemlich jeden Streitpunkt aus der Welt schaffen kann.

Jason hadert sehr mit seiner Situation…

Ein klein wenig dem Charme gängiger Roadmovies erlegen ist Lena Stahl dann aber doch. Und vielleicht ist das auch das größte Zugeständnis an ein nach „Vincent will Meer“-Stoff dürstendem Publikum. Doch egal, welcher Motivation diese Entscheidung entsprungen ist, dass Lena Stahl Marlene und Jason auf ihrer Fahrt gen Schweiz mit einigen außergewöhnlichen („skurril“ wäre hier eine zu krasse Beschreibung) Figuren konfrontiert: Die Stationen bringen Mutter und Sohn vielleicht nicht automatisch näher zusammen, aber in ihrem geistigen Reifeprozess weiter. Etwa wenn sich Marlene beim Treffen mit einer schwangeren Jugendfreundin plötzlich nochmal ganz bewusst an ihr Dasein als junge Mutter erinnert, oder ein draufgängerischer Punk-Anhalter (sehr amüsant gespielt von Daniel Zillmann) in den beiden ungeahnte Gemeinsamkeiten freikitzelt. Auch die obligatorische Autopanne bleibt nicht aus. Immerhin hat Stahl zu Beginn bereits etabliert, in was für eine Schrottkarre die beiden da unterwegs sind. Dass all das trotzdem so hervorragend funktioniert und „Mein Sohn“ zu einem der besten deutschen Filme des Jahres wird, liegt auch an den beeindruckend authentischen Dialogen. Hier dürfen die Schauspielerinnen und Schauspieler abkürzen, Silben verschlucken, einander unterbrechen und in unterschiedlichen Lautstärken durcheinanderreden. Da merkt man plötzlich, wie statisch viele Dialoge in hiesigen Kinogefilden nach wie vor sind.

„Ein klein wenig dem Charme gängiger Roadmovies erlegen ist Lena Stahl dann aber doch. Und vielleicht ist das auch das größte Zugeständnis an ein nach ‚Vincent will Meer‘-Stoff dürstendem Publikum.“

Einen Moment, in dem Marlene und Jason endlich anfangen, in dieselbe Richtung zu blicken, deutet „Mein Sohn“ an, doch kaum tritt er ein, ist der Film auch schon vorbei. Ohne die große Aussprache, ohne die mit herzzerreißender Musik eingeläutete Versöhnungsumarmung. Trotzdem fühlt man das Happy End, denn was Mutter und Sohn hier über sich lernen, lernen sie letztlich für den jeweils anderen. Anke Engelke und Jonas Dassler („Der goldene Handschuh“) sind in ihrer dysfunktionalen Verbindung das perfekte Duo, das sich ganz in den Dienst des Films stellt und sich nie in den Vordergrund drängt. Obwohl „Mein Sohn“ ein von Anfang an sehr präsenter Film ist, ist er bis zuletzt einer der sehr, sehr leisen Töne.

Fazit: Lena Stahl gelingt mit ihrem Roadmovie-Drama „Mein Sohn“ ein fabelhaftes Langfilmdebüt und lotet vollends ohne Klischees die Unterschiede und Gemeinsamkeiten eines Mutter-Sohn-Gespannes aus. Kleine Gesten, zwei hervorragende Hauptdarsteller:innen und durch und durch lebensechte Dialoge machen den Film zu einem der besten deutschen Film des Jahres.

„Mein Sohn“ ist ab dem 18. November 2021 in den deutschen Kinos zu sehen.

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