Last Night in Soho

Regisseur Edgar Wright hat sich nach „Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt“, der Cornetto-Trilogie sowie dem beatgetriebenen Actionspektakel „Baby Driver“ vor allem mit leichtfüßiger Kost hervorgetan. Für LAST NIGHT IN SOHO wagt er sich nun erstmals in reine Horrorfilmgefilde vor – doch das ist in diesem Fall völlig anders gemeint als es der bisweilen etwas reißerische Trailer vermuten lässt…

OT: Last Night in Soho (UK 2021)

Der Plot

Eloise (Thomasin McKenzie) ist eine ehrgeizige Modedesignstudentin, die es für ihr Studium nach London verschlägt. Hier fühlt sich die zurückhaltende junge Frau sichtlich unwohl, denn ihre Kommilitoninnen sind im Gegensatz zu ihr deutlich selbstbewusster und tun sich in erster Linie durch Neid und Missgunst hervor. Einzig ein charmanter Mitschüler (Michael Ajao) – in dem vornehmlich von Frauen besuchten Studiengang ohnehin eine Ausnahmeerscheinung – scheint sich auch für Eloises schüchterne Persönlichkeit zu interessieren und beginnt, sich mit ihr anzufreunden. Doch so nett diese neue Bekanntschaft für Eloise auch sein mag, ein Geheimnis behält sie für sich: Nacht für Nacht träumt sie sich in die Swinging Sixties und folgt dort auf Schritt und Tritt hoffnungsvollen Nachwuchssängerin Sandie (Anya Taylor-Joy), die sich im Londoner Nachtleben der Sechzigerjahre eine Karriere als Musikerin erhofft. Zunächst stehen die Zeichen gut. Der gönnerhafte Jack (Matt Smith) eröffnet ihr die Welt der Nachtclubs und -Bars. Doch seine Absichten sind keine guten und schon bald wird Sandy in einen Strudel furchtbarer Ereignisse hineingezogen – und Eloise gleich mit.

Kritik

Als maßgebliche Inspirationsquellen für seinen Neo-Noir-Horrortrip „Last Night in Soho“ nennt Regisseur und Autor Edgar Wright („Baby Driver“) die Genreklassiker „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ und Roman Polanskis „Ekel“. Beide Filme zeichnen sich nicht nur durch ihren Fokus auf eine weibliche Hauptfigur aus (und wir alle wissen im Hinblick auf die Filmgeschichte: Das war in den Sechziger- und Siebzigerjahren nun wahrlich keine Selbstverständlichkeit), sondern auch durch ein Gefühl von Schock, Schauer und Beklemmung, das nicht auf klassische Horrormotive zurückzuführen ist, sondern auf ein diffuses Streuen von realitätsverrückenden Details, die die Atmosphäre sukzessive vergiften. Für „Last Night in Soho“ geht Wright ähnlich vor und erinnert inszenatorisch obendrein an den ebenfalls in diesem Jahr gestarteten Female-Empowerment-Rundumschlag „Promising Young Woman“; einem der besten Filme 2021. Und Ridley Scotts „The Last Duel“ macht dieses Emanzipatorische Trio endgültig komplett. Viel mehr sollte man über Wrights #MeToo-Beitrag übrigens gar nicht wissen, damit die Schläge in die Magengrube ihre volle Kraft entfalten können. Darum bat der Filmemacher übrigens auch auf dem Filmfestival von Venedig, wo „Last Night in Soho“ seine umjubelte Weltpremiere feierte.

Die angehende Modedesignerin Eloise (Thomasin McKenzie) reist für ihr Studium nach London.

„Last Night in Soho“ enthält die mit Abstand meistschockierende Filmszene des Jahres. Und diese hat weder mit Blut, Dämonen oder irgendeinem stark platzierten Jumpscare zu tun, sondern offenbart eine völlig andere Form des Grauens, wenn er die vermeintlich schillernden Sechzigerjahre, in denen elegant gekleidete Showgirls mit ihren Balladen ihr Publikum bezirzten, mit einem Schlag entzaubert. Nostalgikerinnen und Nostalgiker sind in einer Vorstellung von „The Last Night in Soho“ definitiv fehl am Platz. Da kann Wright sein Publikum noch so lang mit offensichtlicher „Erinnert euch nur daran, wie toll das damals alles war!“-Attitüde um den Finger wickeln. Hier sind es nicht nur die emotional ausgemergelten Gesichter der gedemütigten, wie Aufziehpuppen staffierten und obendrein kaum bekleideten Tänzerinnen sowie die damit einhergehenden, geiernden Gesichter der widerlichen, dieses Spektakel ganz selbstverständlich anschauenden Männer, die einen mit voller Wucht treffen. Es ist vor allem der darauffolgende Blick hinter die Kulissen des renommierten Café de Paris, der die wahren Hintergründe dieser Entertainment-Maschinerie enttarnt. Und dieser verfolgt einen noch bis weit nach dem Film, weil sie einfach bewusstmachen, dass die weibliche Unterdrückung der Frau im Showgeschäft eben kein Phänomen der Gegenwart ist, sondern schon über viele Jahrzehnte existiert.

„Nostalgikerinnen und Nostalgiker sind in einer Vorstellung von ‚The Last Night in Soho‘ definitiv fehl am Platz. Da kann Wright sein Publikum noch so lang mit offensichtlicher „Erinnert euch nur daran, wie toll das damals alles war!“-Attitüde um den Finger wickeln.“

Demgegenüber stehen in den Szenen im Hier und Heute Momente, die wohl jede Frau schon einmal erlebt hat. Symptomatisch ein Moment, in dem die von „Jojo Rabbit“-Star Thomasin McKenzie verkörperte Eloise in einem Taxi von einem sich selbst als „Stalker“ bezeichnenden Mann belästigt wird, der sie daraufhin nicht sofort aus dem Auto steigen lässt. Aber auch zwielichtige Begegnungen in Clubs prägen ihr (ohnehin nur widerwillig erlebtes) Nachtleben, weshalb es auch überhaupt nicht verwundert, dass sich die introvertierte Studentin lieber an die Seite der selbstbewussten Sandie träumt. An ihrer Seite ist nicht nur zunächst alles irgendwie besser und faszinierender, weil die Männer in den Sechzigerjahren ja noch „echte Gentlemen“ waren (noch einmal zur Erinnerung: Edgar Wright entlarvt diesen Eindruck noch früh genug als Verklärung). Die als hochelegant gekleidet und schlagfertig eingeführte Figur der Sandie bildet obendrein den perfekten Kontrast zu Eloise, die durch Sandys Augen ein Stückweit auch ihre eigene, im Verborgenen schlummernde Draufgängerseite ausleben kann.

Sandie (Anya Taylor-Joy) findet im Barbesitzer Jack (Matt Smith) einen vermeintlichen Gönner… 

Thomasin McKenzie sagte für ihre mit Anya Taylor-Joy („Split“) geteilte Hauptrolle sogar ein Engagement in „Top Gun: Maverick“ ab. Zu diesem Entschluss kann man sie, aber auch ihre Kollegin nur beglückwünschen. Und wenn es in der kommenden Oscarsaison auch nur irgendwie mit rechten Dingen zugeht, könnte „Last Night in Soho“ den beiden ihre ersten Nominierungen bescheren. Während es Edgar Wright einmal mehr seinem hervorragenden Gespür für Audiovisualität und Schnitt zu verdanken ist, dass die Symbiose der beiden Damen im Laufe des Films gleichermaßen erkennbar ist und ihnen doch die größtmögliche individuelle Entfaltung lässt (hervorzuheben sei an dieser Stelle eine Tanzszene zu Beginn des Films, die überraschenderweise nicht dank eines hervorragenden Editings so geworden ist, wie sie geworden ist, sondern durch eine penible Tanz- und Kamerachoreographie, in der sich die beiden Darstellerinnen immer wieder abwechseln), sind Taylor-Joy und McKenzie die wahren Stars des Films. Ihre leidenschaftlichen, sich einander immer mehr angleichenden und doch voll und ganz Eigenständigkeit bewahrenden Performances reichen bis ins Mark und bringen ihrem Publikum die weibliche Ausbeutung, vor allem aber auch den Kampf dagegen auf empathische Weise näher. Selbst dann noch, wenn eine von beiden längst mit ihrem Schicksal abgeschlossen hat.

„Wenn es in der kommenden Oscarsaison auch nur irgendwie mit rechten Dingen zugeht, könnte ‚Last Night in Soho‘ den beiden Hauptdarstellerinnen ihre ersten Nominierungen bescheren.“

Anders als in Ridley Scotts thematisch ähnlich zu verortenden „The Last Duel“ (der seine Premiere ironischerweise ebenfalls in Venedig feierte), geht es in „Last Night in Soho“ nicht um das alleinige Veranschaulichen der Ungerechtigkeit. Und im Gegensatz zu „Promising Young Woman“ ist Wright auch nicht ausschließlich am Aufbegehren dagegen gelegen. Stattdessen geht es ihm darum, die Folgen von strukturiertem Sexismus zu zeigen; für die Frauen, aber eben auch für die Gesellschaft an sich. Das wird im letzten Drittel mitunter auch ein wenig redundant. Nämlich immer dann, wenn sich das ein wenig plumpe Motiv der Veranschaulichung („die Geister der Vergangenheit“ sind hier wortwörtlich zu verstehen) totläuft. Aber es verfehlt seine Wirkung genauso wenig wie das kontroverse Ende, das anders als „The Last Duel“ auf jedwede Political Correctness verzichtet – und damit wieder deutlich näher an „Promising Young Woman“ dran ist. Am besten ist wohl, man schaut sich diese beiden Filme direkt hintereinander an…

Fazit: Der rauschhaft inszenierte Horror-Thriller-Drama-Hybrid „Last Night in Soho“ ist nicht nur Edgar Wrights bislang bester Film, sondern auch der bissigste Kommentar in der aktuell vorherrschenden Welle an Female-Empowerment-Filmen. Und das in einem Jahr, in dem „Promising Young Woman“ erschienen ist…

„Last Night in Soho“ ist ab dem 11. November 2021 in den deutschen Kinos zu sehen.

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