1917

Ein Kriegsfilm, der aussieht, als wäre er an einem Stück gedreht worden: „Skyfall“-Regisseur Sam Mendes hat mit 1917 etwas schier Unmögliches möglich gemacht und erhält zwei Stunden lang die Illusion aufrecht, dass wir als Publikum hautnah am Krieg dabei sind. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkrieges sollen die beiden britischen Soldaten Schofield (George Mackay) und Blake (Dean-Charles Chapman) eine nahezu unmögliche Mission erfüllen. In einem unbarmherzigen Wettlauf gegen die Zeit müssen sie sich tief in Feindesgebiet wagen und eine Nachricht überbringen, die verhindern soll, dass Hunderte ihrer Kameraden in eine tödliche Falle geraten. Auch das Leben von Blakes Bruder hängt vom Gelingen dieser Mission ab. Die zermürbenden Kriegsjahre verdichtet er auf einen einzigen Tag, der über Leben und Tod von 1.600 Menschen entscheidet.
Kritik
Durch seine überraschenden Gewinne bei den diesjährigen Golden Globes in den Kategorien „Bestes Drama“ und „Beste Regie“ hat sich Sam Mendes‘ Erster-Weltkriegs-Epos „1917“ über Nacht zu einem der Frontrunner der diesjährigen Award-Saison entwickelt. Das mag diejenigen, die den Film bereits gesehen haben, verwundern. Schließlich ist das intensive Drama nicht nur richtig gut, sondern passt auch thematisch in jedes Filmpreisrennen. Doch im Gegensatz zur Konkurrenz ist „1917“ eben auch erst Ende Dezember 2019 limitiert in den Kinos angelaufen und erhält seinen breiten Kinostart erst am 10. Januar 2020. Mit Pech könnte es also dazu kommen, dass schlicht und ergreifend nicht genug Wahlbeteiligte rechtzeitig auf den Film aufmerksam geworden sind, um ihm mit ihrer Stimme zum Sieg zu verhelfen. Doch sein Durchmarsch bei der Award-Vergabe der Hollywood Foreign Press Association könnte dafür sorgen, dass hier und da bisherige Nichtkenner des Films noch einmal ins Kino gehen respektive ihren Screener hervorkramen, um sich selbst ein Bild davon zu machen, wie großartig „1917“ denn nun geworden ist. Und so viel gleich vorweg: Mendes verdient für sein Mammutprojekt jeden (Regie-)Preis der Welt. Und auch der Film selbst erweist sich als gleichermaßen emotionales wie mitreißendes Kriegsdrama, das längst nicht nur deshalb so herausragend geraten ist, weil ein bestimmtes Inszenierungsdetail sofort hervorsticht.

Auf Sam Mendes‘ Kommando rennen für eine einzelne Plansequenz sämtliche Statisten im Hintergrund von George Mackay über die Wiese.
Man kommt gar nicht drum herum, als erstes auf genau dieses Detail einzugehen: Sam Mendes („James Bond 007: Spectre“) hat seinen nunmehr achten Kino-Spielfilm so konzipiert, als wäre er an einem Stück gedreht worden. One-Shot nennt sich so etwas im Fachjargon. Und obwohl wir es hier nicht mit einem echten (wie in „Victoria“), sondern bloß mit einem fingierten (wie in „Birdman“) zu tun haben, ist das Ergebnis schier überwältigend. Zwar lässt es sich grob mutmaßen, wo denn nun genau die einzelnen Schnitte, möglichst kaschierend, untergebracht wurden: Wenn Kameramann Roger Deakins, Oscar-prämiert für „Blade Runner 2049“, für einige Szenen in die stockdunkle Finsternis unter der Erde filmt, bieten sich solche Szenen natürlich an, um anschließend neu anzusetzen. Die längste am Stück gefilmte Szene in „1917“ beträgt eigenen Angaben Sam Mendes‘ zufolge übrigens gerade einmal 12 Minuten – man kann sich also ausrechnen, wie viele Schnitte es in „1917“ tatsächlich gibt. Und bis auf einen dramaturgisch beabsichtigten Cut nach rund der Hälfte des Films ist keiner von ihnen direkt sichtbar. Editor Lee Smith („Interstellar“) hat für die Perfektion dieses Projekts ganze Arbeit geleistet und dürfte dafür, nach „Dunkirk“, seinen zweiten Oscar so gut wie sicher haben. Doch dass „1917“ den Eindruck eines One-Shots erweckt, hat nicht bloß den reißerischen und PR-tauglichen Wert eines Gimmicks, sondern steht ganz im Dienst des Films, dem es so möglich ist, das Grauen und die Anspannung an und zwischen den Fronten des Ersten Weltkriegs noch intensiver und (fast) in Echtzeit an den Zuschauer heranzutragen.
Deakins heftet sich in „1917“ an die Fersen der beiden Militärkameraden und Freunde Schofield und Blake. Zunächst nur durch das Getümmel im Schützengraben, wo man schnell ein Gespür für den riesigen Produktionsaufwand erhält. Im Hintergrund wimmelt es nur so vor unzähligen Figuren, die allesamt ihr Tagwerk verrichten, während die Kamera immer an den beiden Protagonisten klebt. Dabei geht es Sam Mendes, der auch das Drehbuch zu seinem Film verfasste, längst nicht nur darum, den bisweilen durchaus drögen Alltag des Krieges möglichst authentisch abzubilden. Sein „1917“ ist auch und vor allem eine Geschichte über eine tiefe Freundschaft, deren Intimität oft im direkten Kontrast zu der herben Kulisse steht, in der sie sich erst so richtig entfaltet. Schofield und Blake sind aufeinander angewiesen, vertrauen sich gegenseitig und wissen doch zu jeder Sekunde, dass auch nur ein falscher Schritt, eine falsche Handlung oder, ganz banal, das vielzitierte Zur-falschen-Zeit-am-falschen-Ort-Sein den Tod bedeuten könnte; und dass das Sterben im Angesicht des besten Freundes den jeweils anderen für immer mit Schuld und Gram beladen würde. George Mackay („Captain Fantastic“) und Dean-Charles Chapman („Blinded by the Light“) bringen diesen packenden Zwiespalt hervorragend zum Ausdruck und tragen „1917“ komplett allein auf ihren Schultern. Die Besetzung namhafter Hollywoodstars wie Colin Firth („Kingsman“), Benedict Cumberbatch („Doctor Strange“) oder Mark Strong („Shazam!“) macht sich zwar auf dem Papier ganz gut, doch mit ihren recht unauffälligen Nebenrollen überlassen sie die Bühne vollständig ihren jüngeren Kollegen, die die emotionale Bandbreite von schockiert über tieftraurig bis hin zu hoffnungsvoll so lebensecht und nahbar vortragen, dass jedwede Preisnominierung gerechtfertigt ist.
„1917“ funktioniert dramaturgisch fast wie ein Roadmovie. Die beiden Hauptfiguren kämpfen sich auf ihrem Weg von ihrer eigenen Front hin zu einem weiteren, britischen Bataillon im zerbombten Niemandsland durch verschiedene Stationen. Zurückgelassene Unterschlupfe, eine halb verfallene Farm, die Ruinen einer zerstörten Stadt: Sam Mendes fährt bei der Wahl seiner Kulissen ganz groß auf und findet gemeinsam mit Roger Deakins – im wahrsten Sinne des Wortes – gewaltige Panoramen, um zu gleichen Teilen die allgegenwärtige Gewalt und Zerstörung abzubilden, aber auch eine morbide Schönheit in ihnen zu finden. Wenn Adam Mackay mitten in der Nacht etwa durch von den Bombeneinschlägen taghell erleuchtete Ruinen einer vollkommen zerstörten Stadt läuft, findet Roger Deakins dafür derart spektakuläre, fast surrealistische Bilder, dass er allein hierfür seinen nächsten Oscar-Gewinn einheimsen dürfte – oder in seinem Fall wohl eher: sollte. Schließlich wurde er in den vergangenen Jahren schon oft genug übergangen. Besonders gelungen sind aber vor allem all jene Momente, in denen die beiden Protagonisten auf andere Menschen in dieser Einöde treffen. Wenngleich eine Begegnung zwischen Schofield sowie einer Zivilistin und einem Baby einen Tick zu rührselig gerät und ein wenig zu deutlich auch bei all jenen noch Emotionen freipressen soll, die das Ganze bislang eher kalt gelassen hat, bleibt vor allem ein warmherziges und nie rührseliges Treffen mit einer Gruppe junger Soldaten im Gedächtnis. Hier bricht sich einmal mehr die Menschlichkeit ihre Bahnen zwischen den ansonsten so schmerzhaft authentischen Kriegseinstellungen, die sich Sam Mendes gern etwas kosten lässt. Selbst wenn es Figuren sind, deren Ableben man nun so gar nicht erwartet hätte…
Fazit: „1917“ ist ein brillant bebildertes, herausragend konzeptioniertes und mit zwei formidablen Hauptdarstellern bestücktes Kriegsepos, mit dem es Regisseur und Autor Sam Mendes gelingt, eine Intimität und Menschlichkeit in den Krieg zu transportieren, die das Grauen um die Figuren herum dadurch noch viel bedrückender erscheinen lässt. Ein Meisterstück!
„1917“ ist ab dem 16. Januar in den deutschen Kinos zu sehen.
Hallo Antje, konnte gerade Dein Interview mit Regisseur und Schauspielern bei Kino+ sehen und wollte danach gleich deine Kritik lesen. Das muss ein toller Film sein. Werde ihn morgen oder übermorgen kucken gehen.