Hunter Hunter

„Captain Fantastic“ trifft auf einen stilprägenden Horrorschocker der Nullerjahre – doch die Erwähnung, um welchen Film es sich dabei handelt, würde ebenso falsche Erwartungen wecken wie Shawn Lindens drittem Spielfilm HUNTER HUNTER seines Wow-Effekts berauben. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.

OT: Hunter Hunter (CAN/USA 2020)

Der Plot

Joseph Mersault (Devon Sawa), seine Frau Anne (Camille Sullivan) und ihre Tochter Renée (Summer H. Howell) leben in der abgeschiedenen Wildnis Kanadas und verdienen ihren Lebensunterhalt als Pelzjäger. Als wäre ihr Kampf ums Überleben nicht schon hart genug, taucht eines Tages plötzlich ein Wolf in ihrem Jagdrevier auf. Entschlossen, das Raubtier aufzuspüren und zu töten, lässt Joseph Frau und Tochter zurück in ihrer Hütte, um den Wolf aufzuspüren. Als Anne und Renée vor der Tür plötzlich ein seltsames Geräusch hören, hoffen die beiden Frauen, dass es Joseph ist, finden aber stattdessen einen schwer verletzten Mann namens Lou (Nick Stahl), dem sie Obhut gewähren. Doch je länger Lou bleibt und Joseph weg ist, desto paranoider wird Anne. Und da ist ja auch noch der Wolf, der im Wald sein Unwesen treibt…

Kritik

Das Skript zu Shawn Lindens drittem Langspielfilm „Hunter Hunter“ stammt bereits aus dem Jahr 2007. Lange hat der gebürtige Kanadier gebraucht, um für die Fertigstellung seines Survivalthrillers die nötigen Financiers zu finden, eh sein Projekt schließlich im US-amerikanischen Indie-Label IFC Films die entsprechenden Förderer fand. In den vergangenen Jahren machte sich die Produktionsfirma vor allem dadurch einen Namen, abseitiger Genrekost, ausgewählten fremdsprachigen Filmen und Dokumentationen eine (limitierte) Kinoauswertung zu ermöglichen; Unter anderem gehen Filme wie „Swallow“, „The Other Lamb“ und auch der Corona-Überraschungserfolg „The Witch next Door“ alias „The Wretched“ auf das Konto des in New York City ansässigen Konzerns. „Hunter Hunter“ passt also bestens ins Portfolio von IFC, denn in dem die meiste Zeit über von lediglich drei Schauspieler:innen getragenen Survivalthriller prallen die Elemente eines garstigen Aussteigerdramas wie „Captain Fantastic“ auf Versatzstücke eines bestimmten Terrorfilmes der späten Nullerjahre. Doch damit „Hunter Hunter“ seine volle Wucht entfaltet, hilft es, im Vorfeld möglichst wenig über ihn zu wissen. Daher appellieren wir an dieser Stelle an die Leser:innen: Wenn ihr bereits nach dieser Kurzbeschreibung Blut geleckt habt, dann springt einfach direkt zum Fazit. Zwar werden wir nicht konkret spoilern, aber so völlig unvorbereitet erwischt einen „Hunter Hunter“ nochmal mehr.

Anne (Camille Sullivan) entdeckt im Wald Spuren von Zerstörung. Stammen sie von einem Wolf?

Der auch für das Drehbuch verantwortliche Shawn Linden („Nobody“) entspinnt in „Hunter Hunter“ eine Form von Grauen, die in den schlanken neunzig Minuten Laufzeit lange Zeit gar nicht konkret greifbar ist. In der ersten halben Stunde widmet er sich voll und ganz dem Alltag der Familie. Es ist ein hartes Pflaster, auf dem Joseph, Anne und Renée hier bestehen müssen, doch der Lohn ist ein von Harmonie und Gleichberechtigung geprägtes Miteinander. Die Abgeschiedenheit in der kanadischen Einöde ist selbst gewählt. Hier leben die Mersaults nach eigenen Prinzipien, ohne sich den Strukturen der Zivilisation unterordnen zu müssen. Renée wird zuhause unterrichtet, ihr Kontakt zu Menschen außerhalb ihrer Familie geht gegen Null – etwas, was das junge Mädchen zwar registriert, bislang aber nicht sonderlich stört. Gleichwohl kreiert Linden zwischen den Erwachsenen immer wieder Szenen des intimen Austauschs über ihre Situation: Joseph und Anne sind keine verstrahlten Spinner:innen, die sich fernab der Zivilisation eine eigene Realität aufbauen wollen, sondern zwei fest im Leben stehende Menschen, die zwar gute Gründe haben, ein Leben in solch eine Abgeschiedenheit zu wählen, dabei jedoch nie den Blick vor den Problemen verschließen, mit denen sie durch ihr einsiedlerisches Leben konfrontiert werden.

„Der auch für das Drehbuch verantwortliche Shawn Linden („Nobody“) entspinnt in „Hunter Hunter“ eine Form von Grauen, die in den schlanken neunzig Minuten Laufzeit gar nicht konkret greifbar ist.“

Das Bewusstmachen ob dieser durchaus gefährlichen Lebensweise geschieht erstmals mit dem Auftauchen des Wolfes, der überall in Josephs und Annes Jagdrevier seine Spuren hinterlässt. Und findet seine Fortführung in dem Moment, als Anne beim örtlichen Polizeirevier aufschlägt, weil ihr Ehemann schon eine ganze Weile nicht zuhause war. Ihrer Bitte um Hilfe kommt dort niemand sofort nach. Schließlich kann man sich im Wald schon mal eher verlaufen als in der Großstadt und Mutter und Tochter sollen noch ein wenig warten, ihr Vater würde sicher bald wieder nach Hause kommen. Dabei lässt sich die Unruhe der beiden Mersault-Frauen in etwa mit jenem Moment in einem Flugzeug vergleichen, in dem plötzlich auch die Flugbegleiter:innen unruhig werden: So lange Stewards und Stewardessen bei Turbulenzen ruhig bleiben, steht für die Passagiere in der Regel nichts zu befürchten. Erst wenn auch sie hektisch und nervös werden, besteht ernster Grund zur Beunruhigung. Einen ähnlichen Eindruck erwecken in „Hunter Hunter“ die beiden normalerweise abgeklärten Anne und Renée, die mit so ziemlich jeder Problematik, die das Leben in der Wildnis mit sich bringt, bestens vertraut sind und auch den Umgang mit der Waffe nicht scheuen (in „Hunter Hunter“ vergeht gefühlt keine Szene, ohne dass jemand ein Gewehr in der Hand hält). Schon der jüngste Spross der Familie weiß routiniert Spuren von Zerstörung ihrem entsprechenden vierbeinigen Urheber zuzuordnen und sich im Wald zu orientieren. Doch mit Josephs dauerhaftem Verschwinden weicht die Routine der Angespanntheit und Paranoia.

In „Hunter Hunter“ vergeht gefühlt keine Szene, in der irgendjemand eine Waffe bei sich trägt.

Zu Recht, wie die Zuschauer:innen in einem parallelen Handlungsstrang von Filmemacher Shawn Linden erfahren. „Hunter Hunter“ erzählt abwechselnd von Anne und Renée, die auf ihren Ehemann und Vater warten, selbst auf die Suche nach ihm gehen und schließlich die Bekanntschaft mit dem verwundeten Lou machen, und von Joseph und den Ursachen dafür, dass er nicht wieder zur Familie zurückkehrt. Auf die genauen Umstände seines Verschwindens wollen wir aus Spoilergründen an dieser Stelle nicht eingehen. Doch wie es Shawn Linden und seinem Kameramann Greg Nicod hier gelingt, das von der Kulisse des Waldes heraufbeschworene Freiheitsgefühl so umzukehren, dass plötzlich die Unberechenbarkeit dieses Settings die Atmosphäre prägt, ist ganz großes Kino, das über den etwas behäbigen Mittelteil hinwegtröstet. Linden lässt sich verhältnismäßig früh in die Karten blicken, was zur Folge hat, dass „Hunter Hunter“ seinen ersten Spannungshöhepunkt bereits in der Mitte erreicht, woraufhin die beklemmende Atmosphäre erst einmal konstant bleibt, anstatt wie zuvor kontinuierlich anzusteigen. Erst in der Schlussphase drehen Linden und sein Team vor sowie hinter der Kamera nochmal richtig auf – und liefern ein Finale, das das Publikum so schnell nicht vergessen wird.

„Wie es Shawn Linden und seinem Kameramann Greg Nicod gelingt, das von der Kulisse des Waldes heraufbeschworene Freiheitsgefühl so umzukehren, dass plötzlich die Unberechenbarkeit dieses Settings zum Tragen kommt, ist ganz großes Kino, das über den behäbigen Mittelteil hinwegtröstet.“

In der Schlussphase von „Hunter Hunter“ kulminiert der von einer diffusen Anspannung hin zur konkreten Bedrohung angetriebene Suspense in einen präzise ausformulierten, die Thematik des Films bis zum Exzess weiterspinnenden Akt der Gewalt, mit dem sich Shawn Linden automatisch in die Liste der radikalsten Genrefilmer seiner Generation katapultiert. War es 2020 noch Brandon Cronenbergs Festival-Darling „Possessor“, der zum ultrabrutalen Kultfilm hochgejazzt wurde, könnte es „Hunter Hunter“ 2021 bei entsprechender Verbreitung ebenso ergehen. Die hier ausgeführte, körperliche Pein erinnert visuell stark an einen gleichermaßen berühmten wie berüchtigten Beitrag des französischen Terrorkinos, auch wenn der Weg dorthin noch einmal um alles martialischer ausfällt als im offensichtlichen Vorbild. Wenngleich von „Vorbild“ gar nicht konkret die Rede sein kann – das Skript zu „Hunter Hunter“ war schließlich bereits fertig, bevor es ebendiesen Film überhaupt gab.

Fazit: „Hunter Hunter“ beginnt als stark beobachtete Aussteigerstudie, holt in einem etwas zähen Mittelteil Luft und bläst im Finale zum nihilistischen Angriff auf die Sinne. Vielmehr sollte man im Vorfeld gar nicht über den Film wissen.

„Hunter Hunter“ ist auf US-amerikanischen VOD-Plattformen zum Leihen und Kaufen verfügbar.

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