The Other Lamb

Irgendwo zwischen „The Witch“ und „The Handmaid’s Tale“ verortet die polnische Regisseurin Malgorzata Szumowska ihr englischsprachiges Debüt THE OTHER LAMB. Ob das Horrordrama auch qualitativ an diese beiden Vorbilder heranreicht, das verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Selah (Raffey Cassidy) kennt kein anderes Leben als das in ihrer Gemeinschaft aus Schwestern und Ehefrauen, die unter der Herrschaft des Hirten (Michiel Huisman) in einer sektenähnlichen Gemeinschaft im Wald leben. Die Gruppe hat sich jedweder modernen Technologie entsagt, versorgt sich selbst und hält eine Schafherde zum Fleisch- und Milchgewinn. Gemeinsam mit ihren unzähligen Schwestern ist Selah dem Hirten hörig, der für sie zu gleichen Teilen als Vater, Führer und Liebhaber fungiert. Als Erwachsene, das weiß Selah, wird sie von der Tochter zur Ehefrau. Doch je näher dieser Tag rückt, desto häufiger wird das junge Mädchen von alptraumhaften Visionen geplagt. Und für Selah stellt sich plötzlich die Frage, was eigentlich mit all den Ehefrauen passiert, wenn die Töchter ihre Plätze einnehmen. Und weshalb darf eigentlich nur der Hirte die Geschichte der Gemeinschaft weitererzählen?
Kritik
In Herden lebende Schafverbände unterliegen einer strengen Hierarchie. Angeführt von einem besonders starken Weibchen ist der Großteil der ausgewachsenen Tiere ebenfalls weiblich. Im Alter von etwa zwei Jahren verlassen Jungböcke die Herde, um fortan in Junggesellengruppen oder als Einzelgänger zu leben. Nur während der Brunft werden Widder für eine kurze Zeit in den Verband aufgenommen, um für Nachkommen zu sorgen. Dadurch gelten Schafherden als matrilinear. Das bedeutet: Alle Mitglieder sind mütterlicherseits miteinander verwandt. Neues Blut erreicht die Gruppe also nur über den Vater. Das Motiv des Schafs nutzt die polnische Regisseurin Malgorzata Szumowska („Im Namen des…“) für ihren ersten englischsprachigen Film „The Other Lamb“ nicht von ungefähr. Der Titel ist sogar gleich auf zwei Ebenen passend, da die Hauptfigur Selah und ihre Schwestern und Mütter eine Schafherde hüten müssen und zugleich doch selbst wie Schafe zusammenleben. Und da insbesondere die Lämmer in der Religion gleichsam als ein Symbol für Jesus Christus aber auch für Opferung gelten, gewinnt der Filmtitel dadurch sogar noch an weiterer Bedeutung. Das Endergebnis ist ein wunderschön bebilderter, hin und wieder verkopfter aber auch überraschend zeitgemäßer Film über die Beziehung zwischen Mann und Frau und den Kampf zwischen Individualgesellschaft und behaupteter Tradition.
Man erkennt schon ziemlich deutlich, an welchen Filmen und Serien sich Malgorzata Szumowska bei der Inszenierung von „The Other Lamb“ orientiert hat. Da ist zum einen Robert Eggers‘ streitbare Schauermär „The Witch“ über eine gottesfürchtige, von der Dorfgemeinschaft an den Rand eines Waldes gedrängte Familie, die es plötzlich mit unheimlichen Vorkommnissen in ihrer Mitte zu tun bekommt. Mutmaßlich ausgelöst von einer Hexe. Aber auch die preisgekrönte Hulu-Serie „The Handmaid’s Tale“ hat in „The Other Lamb“ klar ihre Spuren hinterlassen. Die Frauen tragen alle einheitliche Kleider – die „Töchter“ in blau, die „Ehefrauen“ (also alle, mit denen der Hirte schon geschlafen hat) rot –, erfüllen innerhalb der Sektengemeinschaft ihren Zweck als Arbeitskraft oder Geburtsmaschine und müssen sich der vom Hirten geschaffenen Hierarchie unterordnen, bevor „ihre Zeit gekommen“ ist. Doch anders als im Laufe der unzähligen Episoden von „The Handmaid’s Tale“ erfahren wir in „The Other Lamb“ nie, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass sich in dieser nicht näher definierten Wildnis fernab jeglicher Zivilisation ein einzelner Mann einen inzestuösen Harem unzähliger Frauen hält. Zwar wüsste man auf der einen Seite gern Näheres über die Umstände. Auf der anderen Seite ist dieses Unwissen aber auch reizvoll. Denn hinter der Erkenntnis, wie sich dieses familiäre Konstrukt so lange hat halten können, verbirgt sich hier der wahre Horror.
Gleich mehrfach deutet das Skript von C.S. McMullen („Two Sentence Horror Stories“) die eigentliche Fragilität dieses familiären Konstrukts an, das nur deshalb aufrechterhalten bleibt, da die Frauen gegen ihren Zustand nichts unternehmen. Die vom Hirten ausgehende Tyrannei ist für die Frauen von Kindesbeinen an die einzige Lebensrealität. Ein Vergleich zur Normalität existiert nicht. So wundert es auch nicht, dass der Hirte seine Frauen weder einsperrt noch unterliegt ihr Handeln einer konkreten Machtausübung. Selbst psychische oder gar physische Strafen gibt es nur selten; Stattdessen fügt sich jede Frau fraglos in die für sie vorgesehene Rolle. Und dem Hirten genügt die den Mädchen antrainierte, gottgleiche Behandlung seiner selbst, um sie auf ewig an sich zu binden. So sind es entsprechend vor allem die Szenen hanebüchener ritueller Gewohnheiten, die den Zuschauer besonders in die Magengrube treffen. Von den fast schon einer Gehirnwäsche gleichenden Geschichtsstunden des Hirten (Unter Androhung von Strafe darf nur er die Geschichte seiner Gemeinschaft weitererzählen!) über merkwürdige Anmalzeremonien, in denen die vom Hirten mit Blut berührten Frauen regelmäßig in Ekstase geraten, bis hin zu jenem Moment, in denen aus den Töchtern Ehefrauen und die Ehefrauen nicht mehr benötigt werden, ist es nur schwer zu begreifen, wie Selah und ihre Schwestern nicht schon längst die Flucht ergriffen haben. Dass die Frauen bei all dem lange Zeit alles andere als unglücklich wirken, schnürt einem die Kehle zu.
Anhand der junge Selah (hebräisch für „Gebet“) erzählt „The Other Lamb“ nun vom Aufrütteln bestehender Traditionen (wenngleich diese derart fragwürdig sind, dass man sie eigentlich kaum so nennen mag). Inszenatorisch vermengt Malgorzata Szumowska das Charakterdrama rund um eine Frau, der sich nach und nach die Augen öffnen, mit visuellen Horroreinflüssen, allerdings ohne Jumpscares oder andere Schockmomente; Selahs Aufbegehren geht mit blutigen Visionen einher – auch die Menstruation als Zeichen des Erwachsenwerdens findet hier einmal mehr symbolische Anwendung. Raffey Cassidy („The Killing of a sacred Deer“) mimt die von Anfang an deutlich selbstbewusster als ihre Schwestern auftretende Rebellin, die ihr Aufbegehren im Stillen beginnt und schließlich – auch dem Hirten gegenüber – nach außen trägt. Ihre vielschichtige Performance trägt den Film mit Leichtigkeit. Auch die atemberaubenden Landschaftspanoramen von Kameramann Michal Englert („Blinded by the Lights“) betören nicht nur durch die satten Farben. Insbesondere das Spiel mit Proportionen und Blickwinkeln sorgt für eine durchgehend verzerrte Wahrnehmung. Schon die aller erste Aufnahme prägt sich dem Zuschauer ins Gehirn, wenn die Kamera hier durch einen Wasserfall lugt, aus dem nur für den Bruchteil einer Sekunde immer mal wieder das Antlitz Raffey Cassidys emporlugt. Als sie einer ihrer Schwestern kurze Zeit später einen Streich spielt, indem sie ihr vorgaukelt, hinter den Wassermassen irgendetwas zu sehen, nur um sie kurz darauf zu erschrecken, hält Englert anschließend lange genug drauf, bis man wirklich das Antlitz des Teufels in den Felsmauern vermutet. In „The Other Lamb“ ist von Anfang an alles vergiftet.
Fazit: Das mit Horroreinflüssen versehene Sektendrama „The Other Lamb“ erzählt unter Zuhilfenahme einer starken Hauptdarstellerin und fantastischer Kameraarbeit von generationenübergreifenden Machtstrukturen. Lediglich die angewandten Symboliken wirken hier und da abgegriffen.
„The Other Lamb“ soll in diesem Jahr bei den Fantasy Filmfest Nights zu sehen sein.