Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden

Nach mehreren Kurzfilmen gibt Regisseur Aritz Moreno mit DIE OBSKUREN GESCHICHTEN EINES ZUGREISENDEN sein Langfilmdebüt – und zwar nach einem Drehbuch des „Enemy“-Autoren Javier Gullón. Weshalb sich der schwarzhumorige Stoff lohnt, verraten wir in unserer Kritik.

OT: Ventajas de viajar en tren (ESP/FR 2019)

Der Plot

Verlegerin Helga Pato wird während einer Zugfahrt von ihrem Sitznachbarn angesprochen, dem Psychiater Ángel Sanagustin. Er will ihr die Zugfahrt angenehmer gestalten und beginnt daher, ihr seine Lebensgeschichte zu erzählen. Wobei: Er schweift bald ab und erzählt stattdessen von seinem ungewöhnlichsten Fall. So entfaltet sich die Geschichte eines Patienten, der Soldat war: Im Krieg begegnete er einer Ärztin, die ein Kinderkrankenhaus unter den widrigsten Umständen erhalten möchte und dabei auf eine zwielichtige Gestalt stößt, die Verstörendes erblickt. Doch diese Geschichte nimmt ebenfalls unerwartete Umwege. Stück für Stück zieht der Psychiater die Verlegerin in immer tiefere Schichten seiner Erzählung hinein. Mit großen Folgen: Das zufällige Zusammentreffen mit dem Psychiater wird unwiderruflich die Zukunft der Verlegerin als auch die der Figuren aus den Geschichten bestimmen, die in einer Serie von unvorhersehbaren Ereignissen verwickelt sind …

Kritik

Das nerdige Filmportal ‚Collider‘ verglich einmal nimmersatte Filmfans, die sich mit dem Mainstream allein nicht zufrieden geben, mit experimentierfreudigen Gourmets. Frei nach der Logik: Wer schon 300.000 verschiedene Gerichte mit Tomatensauce gegessen hat, pfeift sich zur Abwechslung auch mal lieber ein Nest aus Dinkel-Roggen-Nudeln auf einer Schoko-Lakritz-Soße mit Senf-Crackern und einer Karamell-Habanero-Vinaigrette rein, einfach, um mal was Neues zu schmecken. Und wenn alle Zutaten bestens kombiniert sind: wohl bekomm’s, egal, wie verdattert Andere danebenstehen mögen. Diese Logik ist es auch, die einen halbgaren von einem schwer einzuordnenden Film unterscheiden: Es gibt Tragikomödien, die zu leichtfüßig sind, um sonderlich mitleiden könnte, die aber zu verkrampft-tränenzieherisch sind, als dass die Gags richtig zünden würden. Das sind Filme, bei denen einem ein gefrustetes „Entscheid dich doch endlich, was du bist!“ in Richtung Leinwand oder Bildschirm entfleuchen kann – auch wenn es besser wäre, wenn dieses Gemosere nicht wirklich während einer Filmvorführung in Richtung Leinwand gemault wird. „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ ist kein solcher Film. Was Langfilm-Regiedebütant Aritz Moreno hier nach einem Drehbuch von Javier Gullón („Enemy“) und einem anfangs als unverfilmbar geltenden Roman von Antonio Orejudo („Feuertäufer“) orchestriert, passt in keine vorgefertige, klassisches Genreschublade, weil es so sein soll:

Dr. Linares (Stéphanie Magnin) lässt sich auf ein unmoralisches Angebot ein.

Ist es eine Komödie? Nun ja, es darf häufig geschmunzelt werden, gelegentlich auch deftig gelacht. Aber man sollte nicht seine ganze Familie allein mit dem Kommentar „Hey, wir schauen eine neue Komödie!“ ins Kino einladen und blauäugig davon ausgehen, dass man dafür einhelligen Dank und tosenden Applaus erntet. Ist es ein Psychothriller? Schon, immerhin geht es zuweilen um psychische Störungen und einzelne Kapitel dieses Films sind sehr spannungsgeladen. Aber wer „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ nach Heimkinoveröffentlichung beim  Filmabend mit Freunden mit der Zusammenfassung „Und nun was mit Suspense!“ in den Blu-ray-Player legt, wird sich in vielen Fällen auf einen unruhigen Abend einstellen dürfen. Ist es ein Drama? Eine Satire? Ja, all das auch, und die ursprüngliche FSK-Freigabe-ab-18 (mittlerweile wurde der Film nachgeprüft und ab 16 freigegeben) legt berechtigterweise darüber hinaus nahe, dass noch einige harsche Spitzen folgen werden. „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ wird vom Filmverleih in Pressematerialien indes als Produktion in der Tradition von „Ein andalusischer Hund“ von Luis Buñuel und Salvador Dalí positioniert, und auch wenn der Film ein surreales, intellektuelles Vergnügen darstellt, ist er doch um einiges narrativ-stringenter als der über weite Strecken assoziative Klassiker der beiden einflussreichen Surrealisten.

„Wie Dinkel-Roggen-Nudeln auf einer Schoko-Lakritz-Soße mit Senf-Crackern und einer Karamell-Habanero-Vinaigrette eben. Sehr gute Dinkel-Roggen-Nudeln auf einer Schoko-Lakritz-Soße mit Senf-Crackern und einer Karamell-Habanero-Vinaigrette noch dazu!“

„Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ ist ein Film, wie er im Nachmittagsprogramm des Fantasy Film Fests laufen und dort das oftmals blutgierige Publikum spalten würde. Ein kleineres, spanisch-dreckiges „Magnolia“, ein „Die verschachtelte Erzählung von ‚Grand Budapest Hotel‘ trifft Fincher-Ästhetik sowie südkoreanischen Biss“. All das mit einem Schuss des freudig-boshaften Episodenfilm-Renners „Wild Tales“ aus Argentinien. Dinkel-Roggen-Nudeln auf einer Schoko-Lakritz-Soße mit Senf-Crackern und einer Karamell-Habanero-Vinaigrette eben. Sehr gute Dinkel-Roggen-Nudeln auf einer Schoko-Lakritz-Soße mit Senf-Crackern und einer Karamell-Habanero-Vinaigrette noch dazu! Der Star des Films, und das wird etwa in einem viertelstündigen Takt immer deutlicher, ist weder der im Titel genannte Zugreisende, noch ist es die zuvor etablierte Zuhörerin. Nein, es sind die obskuren Geschichten selbst: Als wäre das hier eine spanische Film-Matrjoschka, erzählen Moreno und Gullón die Geschichte einer Frau, der eine Geschichte erzählt wird, in der eine Geschichte erzählt wird, in der eine Geschichte erzählt wird … Und so weiter. Da werden die „Inception“-Figuren noch ganz blass vor Neid.

Hundeliebhaber Emilio (Quim Gutiérrez) hat den einen oder anderen Abgrund zu bieten.

So entsteht (bringt man das dafür nötige, spezielle Humor-Gen mit) eine ganz absonderliche, diebische Freude daran, zu entdecken, wie viel tiefer diese Konstruktion noch geht. Es ist eine mit spitzer Feder überhöhte Variante der von „Tatsächlich… Liebe“ popularisierten Ensemble-/Episodenfilme, bei denen vermeintlich separate Geschichten irgendwann zusammenfinden. In „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ dagegen geht es um „Wann wird wieder erzählt? Wann verlassen wir diese Geschichte?“ – naja, und um wesentlich schwerere, abseitigere Themen als die große Liebe. Es geht um Rache, Abhängigkeit, Leichtgläubigkeit, bürgerliche Jämmerlichkeit und wüste Gedankengespinste. Wie bei „richtigen“ Episodenfilmen schwankt jedoch auch hier die erzählerische Knackigkeit der einzelnen Kapitel, Unterkapitel und Unterunterkapitel, doch Moreno hält die Aufmerksamkeit des geneigten Publikums aufrecht, indem er stets alle Erzählungen inszenatorisch gegen den Strich bürstet: Eine romantische Passage wird wie ein ranziger Erotikthriller erzählt, eine erschütternde Geschichte psychischen Missbrauchs wie eine quirlige Romantikkomödie, lustige Szenen sehen aus wie aus einem Thriller und grässliche Anblicke werden zumeist von fröhlicher Musik begleitet.

Dass dies gelingt, ist nicht nur der Kameraarbeit Javier Agirres zu verdanken, der die verschiedenen Akzente mit seinem schattigen Stil nahtlos ineinander übergehen lässt, sondern insbesondere dem sehr fähigen Cast: Die bizarren Anwandlungen des Plots und die von kurios bis psychotisch reichenden Angewohnheiten der Figuren werden von Pilar Castro („Julieta“), Luis Tosar („Öffne meine Augen“), Ernesto Alteiro („El Otro Lado De La Cama“) und Co. stets halb „anpointiert“, halb dramatisch-pathetisch angelegt, was eine schwer vergleichliche Grundstimmung erschafft – eine, die passt: Die Storys sind fies bis bescheuert, und doch in ihrer Welt plausibel, und selbst in den widerlichsten Momenten auf eine sehr makabre Art unterhaltsam. Aritz Moreno könnte mit seinem surreal angehauchten, tonale Grenzen sprengenden Erzählstil Spaniens sinistre Antwort auf den französischen Kult-Regisseur Quentin Dupieux werden – nun muss sein Debüt nur die gebührende Aufmerksamkeit erhalten, damit er seinen Weg weiter verfolgen kann. Schön wär’s! Denn es muss ja wirklich nicht immer Tomatensauce, Carbonara oder Sauce Espagnole sein (und dabei wäre die auf Nudeln schon für so manche abenteuerlich).

„Die bizarren Anwandlungen des Plots und die von kurios bis psychotisch reichenden Angewohnheiten der Figuren werden von Pilar Castro, Luis Tosar („Öffne meine Augen“), Ernesto Alteiro und Co. stets halb „anpointiert“, halb dramatisch-pathetisch angelegt, was eine schwer vergleichliche Grundstimmung erschafft.“

Fazit: „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ ist makaber-amüsantes, smart-verschachteltes Genrekino aus Spanien, das erlebt werden will.

„Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ ist ab dem 20. August 2020 in den deutschen Kinos zu sehen.

Ein Kommentar

  • Vielen Dank für diesen tollen Tipp, ein wirklich außergewöhnlicher Film. Hat mich zwischendurch immer wieder an „Taxidermia“ von György Pálfi erinnert.

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