I’m thinking of Ending Things

Charlie Kaufmans neuester Film I’M THINKING OF ENDING THINGS folgt den Regeln moderner Sehgewohnheiten wie schon zuletzt jene von Martin Scorsese oder Noah Baumbach – und kommt direkt zu Netflix anstatt auf die große Leinwand. Ob das etwas über die Qualität aussagt, das verraten wir in unserer Kritik.

OT: I’m thinking of Ending Things (USA 2020)

Der Plot

Trotz der Zweifel an ihrer Beziehung besucht eine junge Frau (Jessie Buckley) mit ihrem neuen Freund Jake (Jesse Plemons) die Farm seiner Eltern. Als ein Schneesturm den Aufenthalt zwangsläufig verlängert und sie Jakes Mutter (Toni Collette) und Vater (David Thewlis) näher kennenlernt, nimmt sie beunruhigende Dinge wahr. Weshalb hängt an der Wand von Jakes Elternhaus ein Kinderfoto von ihr? Wer versucht permanent, sie auf dem Smartphone zu erreichen, nur um ihr daraufhin kryptische Worte zuzuflüstern? Und wer sagt uns eigentlich, dass das, was wir um uns herum sehen, tatsächlich die Realität ist?

Kritik

Gemeinhin gilt ja Christopher Nolan als der König des Mindfucks. In dieser Sekunde führt er in Kinos (fast) überall auf der Welt Menschen mit seinem Zeitreise-Thriller „Tenet“ an der Nase herum. Genauso, wie er es zuvor bereits mit Filmen wie „Interstellar“, „Memento“ und „Prestige“ getan hat. Da Nolan auch außerhalb der Cinephilen-Bubble vielen Gelegenheitszuschauern ein Begriff ist, nimmt man seine Werke automatisch mehr wahr als etwa die Geschichten eines Charlie Kaufman. Dabei war sein Spiel mit verschiedenen Wahrnehmungsebenen schon immer mindestens genauso spannend wie die Twistrides des „Dark Knight“-Visionärs. Kaufmans Regie-Erstling „Synecdoche, New York“ mit Philip Seymour Hoffman als hypochondrischer Theaterregisseur ist zwar noch immer eher ein Geheimtipp, aber kaum ein Film verdreht die Gehirnwindungen seiner Zuschauer bis heute so intensiv und nahezu undurchdringbar, dass man ihn mindestens ein zweites, vielleicht auch ein drittes oder gar viertes Mal gesehen haben muss, um ihn auf allen Erzähleben zu verstehen. Kaufmans Drehbucharbeiten an „Adaption“ (ein Fest für Liebhaber metafiktionalen Filmemachens), „Being John Malkovich“ und nicht zuletzt die melancholische Liebesgeschichte „Vergiss mein nicht“ folgen allesamt unkonventionellen Darstellungsmotiven solch zutiefst menschlicher Probleme wie Liebeskummer, Einsamkeit und Sinnsuche. Sein neuestes Werk „I’m thinking of Ending Things“ geht in Sachen Verwirrpotenzial noch einmal ein paar Schritte weiter, ermöglicht es dem Publikum allerdings wie immer schon, auch jederzeit seine eigenen Interpretationen anzustellen. Und so schade es auch ist, dass das mit diversen Genremotiven angereicherte (Liebes-)Drama nicht ins Kino kommt, so animiert die Direktauswertung auf Netflix vielleicht einige Zuschauer zum Anschauen, die niemals ein Ticket dafür lösen würden.

Die junge Frau (Jessie Buckley) denkt darüber nach, mit ihrem Freund Schluss zu machen.

„I’m thinking of Ending Things“ basiert auf Ian Reids gefeiertem Psychothriller „The Ending – Du wirst dich fürchten. Und du wirst nicht wissen, warum“. Den Roman vor der Sichtung der im besten Sinne eigenwilligen Filminterpretation gelesen zu haben, kann helfen, das bis zuletzt viele Leerstellen zurücklassende Drama zu verstehen. Oder auch im Nachhinein einige Dinge zu entwirren, die Charlie Kaufman offenlässt. Nun könnte man gefahrlos verraten, was für eine Geschichte die Vorlage erzählt. Denn durch Kaufmans Herangehensweise an die Story rund um ein (eigentlich) frisch verliebtes Pärchen, das erstmals zum Besuch bei den Schwiegereltern in spe anrückt – „Get Out“ lässt grüßen! – besteht keine Gefahr, dass man eventuell bevorstehende Wendungen vorweggenommen bekäme. Trotzdem spoilern wir allein schon aus dem Grund nicht, weil „I’m thinking of Ending Things“ gleichzeitig immer noch genug Roman-DNA enthält, als dass einen der Film am besten völlig kalt erwischt, um einmal die gesamte Klaviatur an Emotionen beim Zuschauer auszulösen. Den Tipp, sich zumindest im Nachhinein einmal durchzulesen, was denn zumindest die Buchvorlage mit den beiden Protagonisten Jake und seiner Freundin angestellt hat, empfehlen wir trotzdem. Und sei es nur für einen weiteren, nachträglichen Mindfuck. Ebenjene gibt es aber auch schon vorher zuhauf. Wenngleich das im Trailer so dominante Dinner mit Jakes ganz und gar merkwürdigen Eltern nur einen Bruchteil der Laufzeit ausmacht, gleichzeitig aber die meisten „Aha!“- und „WTF“-Momente enthält, fährt Kaufman genügend Versatzstücke aus dem Thriller-, Mystery- und nicht zuletzt dem Horrorkino auf, sodass man sich auch in den Momenten des intensiven Philosophierens über Kunst, die Liebe und Poesie kaum fallenlassen kann. Man weiß nie, was Kaufman hinter der nächsten Ecke seines zeitlich diesmal gar nicht so verschachtelten Films auffährt.

„Den Tipp, sich zumindest im Nachhinein einmal durchzulesen, was denn zumindest die Buchvorlage mit den beiden Protagonisten Jake und seiner Freundin angestellt hat, empfehlen wir trotzdem. Und sei es nur für einen weiteren, nachträglichen Mindfuck.“

Trotzdem sollte man „I’m thinking of Ending Things“ auf keinen Fall mit einem klassischen Horrorfilm vergleichen. Das Kreativteam aus Kameramann Lukasz Zal („Loving Vincent“), Komponist Jay Wadley („Empörung“), Editor Robert Frazen („The Founder“) sowie der Produktionsdesignerin Molly Hughes („Louder than Bombs“) und Setdesignerin Mattie Siegal („Beale Street“) kreiert ein audiovisuelles Erlebnis in 4:3-Format voll von intensivem Unbehagen. Das geht schon bei der Fahrt durch die schneebedeckte Ödnis los, auf der dem Pärchen viele Kilometer lang kein einziges Auto entgegenkommt. Lediglich die Scheinwerfer ermöglichen den Blick durch das dichte Schneetreiben; wenn hier draußen irgendetwas passiert, würden die beiden vermutlich unentdeckt bleiben. Gleichzeitig lässt dieser Umstand das Innere des Wagens noch beengter erscheinen. Während wir die um das Verlorensein und den Wunsch nach einem Beziehungsende kreisenden Gedanken der jungen Frau aus dem Off hören, sucht Jake verkrampft das Gespräch; ahnungslos, dass beide eigentlich die ganze Zeit aneinander vorbei kommunizieren. Eine unangenehme Situation, versteckt unter philosophischen Abhandlungen über das Sein, die Liebe und Kunst; Gedichte, Filme, Filmkritik – Charlie Kaufman hat sich schon immer gern und intensiv mit der Wahrnehmung von jedweder Form der Popkultur, mitunter gar seiner eigenen auseinandergesetzt. In diesem Fall lässt er seine Protagonistin gar eine bekannte Filmkritikerin rezitieren und schwadroniert über die Schauspielleistung von Gena Rowlands in John Cassavetes‘ „Eine Frau unter Einfluss“ – und damit letztlich über sich selbst.

Bei Jakes (Jesse Plemons) Eltern zuhause: Mutter (Toni Colette) und Vater (David Thewlis) haben schon auf die Gäste gewartet.

„I’m thinking of Ending Things“ ist voll von auf den ersten Blick zusammenhanglosen Diskussionen; wie das eben so ist, wenn man lange mit einer anderen Person im Auto unterwegs ist und peinliche Stille vermeiden will – ein subtiles Indiz dafür, dass zwischen dem Hauptdarstellerpärchen längst noch keine Routine eingekehrt ist. Denn je länger man gemeinsam schweigt, desto sicherer ist man im Umgang mit dem Gegenüber. Es gibt sogar eine kurze Film-im-Film-Passage, für die „Forrest Gump“-Regisseur Robert Zemeckis seine Zustimmung gegeben hat, seinen Namen für den Abspann desselben zu verwenden. Das mag willkürlich erscheinen, doch zum einen war Charlie Kaufman in seinen Filmen immer schon um keinerlei Meta-Spielerei verlegen, zum anderen folgt es einem klaren Konzept. Denn die junge Frau und ihr Jake beziehen in ihren Gesprächen jederzeit Stellung zu bestimmten Themen, die das Verhältnis der beiden zueinander, ihre Position innerhalb der Situation an sich und sogar innerhalb der menschlichen Existenz abbilden. Durch die schiere Masse an Themen wirken die Diskussionen auf der Autofahrt zwischen beiden mitunter prätentiös, aber gleichzeitig steigert sich durch den unvorhersehbaren Gesprächsablauf auch die Spannung vor der nächsten Etappe.

„Während wir die um das Verlorensein und den Wunsch nach einem Beziehungsende kreisenden Gedanken der jungen Frau aus dem Off hören, sucht Jake verkrampft das Gespräch; ahnungslos, dass beide eigentlich die ganze Zeit aneinander vorbei kommunizieren.“

Das bereits beschriebene Essen im Hause von Jakes Eltern ist derweil eine Ansammlung an Skurrilitäten. Menschen altern willkürlich, Kleidungsstücke wechseln ihre Farbe, genauso wie Namen, Studiengänge und die Geschichte vom gemeinsamen Kennenlernen. Hinzu kommen Momente, in denen die Kamera bewusst einen kleinen Tick länger als üblich an bestimmten Bildern und Abläufen klebt – etwa wenn der Hund des Hauses sein nasses Fell schüttelt und es einfach nicht richtig aussieht, dass er dabei viel, viel länger braucht, als jeder andere Hund, sodass man irgendwann nicht mehr erkennt, ob man hier einem normalen Bewegungsablauf zuschaut, oder die Bildspur hängengeblieben ist. Zusammen mit den von der jungen Frau getätigten Ausführungen über das Zeitempfinden wirkt auch die Idee von der Zeitschleife irgendwann gar nicht mehr so abwegig. Charlie Kaufman setzt in einer vorgegaukelten Idylle familiärer Geborgenheit so gezielte Nadelstiche, dass man als Zuschauer unbedingt das Haus verlassen möchte. Toni Colette („Hereditary“) und David Thewlis („Justice League“) spielen passend zu der Situation angemessen schräg auf, berücksichtigen zwischen all ihren verqueren Spleens aber immer auch die ihren Figuren innewohnende Tragik. Für Charlie Kaufman sind Mutter und Vater nicht einfach nur zweckdienliche Figuren, um das Unbehagen weiter voranzutreiben. Sondern bei all der Skurrilität immer auch Menschen aus Fleisch und Blut.

Was geht hier vor sich?

Neben zwei langen Autofahrten und dem Besuch bei den Eltern nehmen die Geschehnisse in einem mal leer stehenden, mal belebten Schulgebäude einen weiteren wichtigen Teil der Laufzeit ein. Kaufman platziert von Filmbeginn an immer mal wieder kurze Fragmente über einen altgedienten Hausmeister im Film, der mit stoischer Ruhe die leeren Gänge der Schule pflegt, eh „I’m thinking of Ending Things“ schließlich an diesem Ort endet. Eine Entwicklung, die sich früh abzeichnet und über die sich von Anfang an eindeutige Schlüsse auf die Existenz des Hausmeisters und seiner Verbindung zum Pärchen ziehen lässt – ob Kaufman sie einlöst, steht dagegen auf einem anderen Blatt. Wenn der Regisseur und Autor gen Ende schließlich alle Storyfäden zusammenführt (oder sagen wir besser: sie immerhin alle in eine Hand nimmt – miteinander verknoten kann sie nur der Zuschauer selbst so, wie es ihm zusagt), reichen die Stilmittel dafür gar bis zum Musical. Es wirkt fast so, als würde sich Charlie Kaufman mittels seiner unbändigen Kreativität auch ein Stückweit dafür entschuldigen wollen, dass er dem Zuschauer hier mal wieder solch einen Brocken vorgelegt hat. Aber das Ganze soll schließlich auch Spaß machen.

Auch wenn man es der unterkühlten Mimik von Jessie Buckley („Die fantastische Reise des Dr. Dolittle“) und Jesse Plemons („Game Night“) nicht immer ansieht, ist ihre Leidenschaft für ihre anspruchsvollen Rollen jederzeit spürbar. Den beiden kommt die schwierige Aufgabe zu, jederzeit in einer Melancholie verwurzelt zu sein und aus dieser heraus glaubhafte Emotionen nach außen hin zu transportieren. Interesse am Leben ihrer Schwiegereltern bei der jungen Frau, die stille Hoffnung darauf, dass sich seine Liebste hoffentlich bald auch für die Dinge interessieren könnten, die ihn selbst bewegen (Musicals zum Beispiel) bei Jake. Gerade zum Ende hin wird das besonders auffällig, als sich große Emotionen wie Neugier, Wut, Freude und Trauer Bahn brechen, die nicht einfach nur im Moment präsentiert werden, sondern von den zwei Stunden zuvor eingefärbt sind. So ungern man selbst mit den beiden gemeinsam durch den Schnee fahren würde, so gerne schaut man ihnen dabei zu.

„Wenn der Regisseur und Autor gen Ende schließlich alle Storyfäden zusammenführt (oder sagen wir besser: sie immerhin alle in eine Hand nimmt – miteinander verknoten kann sie nur der Zuschauer selbst so, wie es ihm zusagt), reichen die Stilmittel dafür gar bis zum Musical.“

Fazit: Ein Film zum mehrmaligen Entdecken – Charlie Kaufman legt mit seiner eigenwilligen Romaninterpretation „I’m thinking of Ending Things“ eine inszenatorische Wundertüte vor, in der Horror- und Musicalmotive gleichermaßen auftreten, es im Kern jedoch jederzeit um das Missverständnis der Liebe geht. Oder um das, was sich sonst noch so in den Film hineininterpretieren lässt.

„I’m Thinking of Ending Things“ ist ab dem 4. September bei Netflix streambar.

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