Chaos Walking

Basierend auf dem Roman „The Knife of Never Letting Go“ von Patrick Ness bringt Regisseur Doug Liman den Young-Adult-Roman CHAOS WALKING mit aufgrund von Produktionsproblemen mehrjähriger Verspätung in die Kinos. Ob man dem fertigen Projekt ihr Entstehungschaos anmerkt, das verraten wir in unserer Kritik.

OT: Chaos Walking (USA/CAN/HKG/LUX 2021)

Der Plot

In einer nahen Zukunft findet Todd Hewitt (Tom Holland) die mysteriöse Viola (Daisy Ridley), die nach einer Bruchlandung auf dem fernen Planeten „New World“ gestrandet ist. In Todds Heimatstadt Prentisstown sind seit vielen Jahren alle Frauen verschwunden, seit diese von einer feindlichen Alienrasse eliminiert wurden. Die männlichen Bewohner stehen derweil unter dem Einfluss des rätselhaften „Lärm“ – eine seltsame Kraft, die alle Gedanken für jeden und jederzeit hörbar werden lässt. In dieser gefährlichen Welt ist Violas Leben von Anfang an in Gefahr, doch Todd setzt alles daran, sie sicher zu ihrem Raumschiff zurückzubringen. Gemeinsam begeben sich die beiden durch die dichten Wälder ihres Dorfes, immer auf der Flucht vor dem Anführer von Prentisstown (Mads Mikkelsen) und seinen Männern. Dabei kommen die beiden einer unglaublichen, dunklen Wahrheit auf die Spur und müssen schon bald um ihr Leben rennen…

Kritik

Seit dem Siegeszug von Social Media ist es Filmfans auf der ganzen Welt möglich, unmittelbar an den Geschehnissen in Hollywood teilzuhaben. Filmstudios, Regisseur:innen und Schauspieler:innen teilen munter Bilder und Anekdoten vom Set. Ein unbestreitbarer Vorteil für all jene, die das Gefühl haben wollen, ihren Idolen ganz nah zu sein, der jedoch auch zum Nachteil werden kann, wenn sich eine Produktion nicht so entwickelt wie vorab erhofft. In den vergangenen Jahren drangen unverhältnismäßig oft Informationen über Drehschwierigkeiten an die Öffentlichkeit, wobei sich die Frage stellt, ob hier tatsächlich von einer Häufung derartiger Ereignisse sprechen kann (früher war ein Film eben fertig, wenn er fertig war), oder ob man heutzutage einfach nur mehr davon mitbekommt. „Chaos Walking“, die Leinwandadaption des Romans „The Knife of Never Letting Go“ von „Sieben Minuten nach Mitternacht“-Autor Patrick Ness, ist nun auch einer von diesen Filmen, die im Vorfeld aufgrund ihres behäbigen Entstehungsprozesses Schlagzeilen machten. Bereits im Jahr 2012 (!) gab es Mitteilungen darum, dass Charlie Kaufman („I’m thinking of Ending Things“) den Jugendfantasyroman adaptieren sollte; Zu einem Zeitpunkt, als sich der von „Die Tribute von Panem“ und Co. befeuerte Young-Adult-Hype noch in den Kinderschuhen befand. Neun Jahre, mehrere Autorenwechsel und ein Regieaustausch später – ursprünglich sollte Robert Zemeckis den Film inszenieren – ist dieser schon wieder vorbei. Und „Chaos Walking“ steht in seinem Genre allein auf weiter Flur. Vielleicht ein Vorteil, denn die Übersättigung ist längst Geschichte. Vielleicht aber auch ein Nachteil, denn genau das hat schließlich auch einen Grund und „Chaos Walking“ ist zwar trotz aller unglücklichen Vorzeichen eine sehr solide Genreproduktion, aber nur bedingt geeignet, die Jugendfantasyfilmleidenschaft wieder aufflammen zu lassen. Auch wegen seines ziemlich provokanten Cliffhangers.

Todd Hewitt (Tom Holland) mit seinem treuen Hund Manchee.

In einer sehr frühen, ersten Fertigstellungsphase wurde „Chaos Walking“ einem ausgewählten Publikum vorgeführt. Dieses Testscreening zog nicht nur ein erbarmungslos schlechtes Feedback nach sich, sondern auch massive Nachdrehs, weshalb sich die eigentlich bereits im November 2017 abgeschlossenen Dreharbeiten bis ins Jahr 2019 zogen. Auch der ursprünglich anvisierte Kinostart 2020 konnte aufgrund der Coronapandemie nicht eingehalten werden, was zur Folge hatte, dass der Film in den USA nur limitiert in die Lichtspielhäuser kam und kurz darauf auf Bezahlstreamingplattformen veröffentlicht wurde. Auch das Pressefeedback fiel zum Großteil miserabel aus, wenngleich in den letzten Jahren schon des Öfteren zu beobachten war, dass Filme mit schwieriger Produktionshistorie im öffentlichen Diskurs tendenziell negativer ausfallen; Nur einige Filme wie etwa „The Empty Man“ können sich schließlich doch noch aufgrund ihrer eigentlich sehr wohl vorhandenen Qualität rehabilitieren. Der leere Mann setzt seinen Siegeszug nun eben als Horrorgeheimtipp im Heimkino fort. „Chaos Walking“ profitiert derweil vor allem davon, dass er hierzulande im Kino zu genießen ist. Denn auch wenn die futuristische Welt, in die uns der „Edge of Tomorrow“-Regisseur Doug Liman hier eintauchen lässt, keine solch technikfixierte Sci-Fi-Atmosphäre versprüht wie andere Beiträge aus dem Genre und in seinem reduzierten Design fast schon an einen Mittelalterfilm erinnert, so überzeugt „Chaos Walking“ im simplen Maße trotzdem durch seine Schauwerte. Da liegt dann auf einmal ein riesengroßes, detailreich ausgestattetes Raumschiff mitten in einem Waldgebiet, das auf den ersten Blick nicht weiter von einem Waldgebiet der Gegenwart zu unterscheiden wäre und entwickelt gerade dadurch eine visuelle Wucht, für die man nicht einmal den Crash mit der Erde miterleben muss, um die Haptik dieses Vehikels zu begreifen. „Chaos Walking“ ist generell eher ein Film der leisen Töne; Eine im Anbetracht der Prämisse fast ironische Beobachtung. Der Dystopiegedanke drängt sich nicht auf, sondern lässt sich vor allem in kleinen Details erkennen. Genauso wie die Tatsache, dass dieser Film überhaupt in der Zukunft spielt. Und trotzdem fühlen sich nicht einmal die nur in einer einzigen Szene zu sehenden Aliens in dieser Welt fehlplatziert an.

„Auch wenn die futuristische Welt, in die uns der „Edge of Tomorrow“-Regisseur Doug Liman hier eintauchen lässt, keine solch technikfixierte Sci-Fi-Atmosphäre versprüht wie andere Beiträge aus dem Genre und in seinem reduzierten Design fast schon an einen im Mittelalter angesiedelten Film erinnert, so überzeugt „Chaos Walking“ im simplen Maße trotzdem durch seine Schauwerte.“

Die Verwendung von CGI-Effekten hält sich in derart engen Grenzen, dass beim Zurückdenken an „Chaos Walking“ wohl vor allem ein nicht minder subtiler Effekt in Erinnerung bleibt: der in Form einer blau-violetten Wolke veranschaulichte „Lärm“ – also die für alle Umstehenden zu hörenden und zu sehenden Gedanken der Männer. Die im Buch wesentlich genauer ausformulierten Möglichkeiten, diesen Lärm nicht nur zu unterdrücken, sondern auch konkret zu beeinflussen – etwa indem in Form von Visualisierungen (Trug-)Bilder an die Umstehenden ausgesendet werden können – wirkt im Film leider ein wenig willkürlich. Generell findet ausgerechnet dieses Alleinstellungsmerkmal in einem ansonsten in weitestgehend konventionellen Young-Adult-Genrebahnen verlaufenden Abenteuers nicht eine solche Berücksichtigung, wie es im besten Fall möglich gewesen wäre. Die zahlreichen, die feindliche Stimmung unter den Männern stark anheizenden Möglichkeiten, andere Menschen durch die hörbaren Gedanken zu beeinflussen, Geheimnisse nicht für sich behalten zu können oder sie gar gegeneinander anzuwenden, werden nur angerissen. In erster Linie widmet sich das mittlerweile sechs verschiedene Autoren listende Drehbuch diesem Detail bei der Interaktion zwischen Todd und Viola; eine Art „Was Männer wollen“ im Sci-Fi-Setting sozusagen, aus dem die Macher:innen vor allem den (charmanten) Unterhaltungswert daraus ziehen, dass der junge Mann zuvor noch nie eine Frau gesehen hat und daraufhin natürlich vollkommen chaotische Gedanken nach außen trägt. An dieser Stelle offenbart „Chaos Walking“ sein Potenzial, mit der „Die Gedanken der Männer sind für jeden hörbar“-Prämisse einen Coming-of-Age-Film zu bestücken. In einem Sci-Fi-Abenteuer wie diesem hier bleibt ihr Potenzial dagegen weitestgehend ungenutzt.

Viola (Daisy Ridley) und Todd sind auf der Flucht durch die Wälder.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Gut-gegen-Böse-Kampf zwischen den beiden Jugendlichen und den von einem stark aufspielenden Mads Mikkelsen („Der Rausch“) angeführten Dorfbewohnern nie ihre größtmögliche Intensität erreicht. Das Erzählschema wird mit der Zeit redundant: Der Film folgt Todd und Viola, nach einigen Minuten sehen wir, dass ihnen die Männer dicht auf den Fersen sind, es kommt zu einem kurzen Aufeinandertreffen, bei dem der Einbezug des Lärms endlich so richtig zum Tragen kommt und nach einer gelungenen Flucht wiederholt sich dieser Ablauf bis hin zum Finale. Leider bleiben die Konfrontationen insgesamt zu selten, um sämtliche (bösen) Möglichkeiten des Lärms auszuloten. So kommt es, dass „Chaos Walking“ sogar ohne einen (beziehungsweise zeitweise sogar zwei) klassischen Schurken auskommen würde. Auch das Geheimnis rund um das Verschwinden der Frauen aus New World ist längst nicht so überraschend wie es im Film inszeniert wird; Selbst der Roman bereitet die Auflösung nicht so twistlike vor, wie es die Leinwandversion verkauft. Gleichwohl liegt der Grund für diese geänderte Ausrichtung nah: Im Zuge der Filmadaption wurde die Vorlage „The Knife of Never Legging Go“ zusammengedampft, was das sukzessive Streuen von Hinweisen auf den tatsächlichen Grund für das Verschwinden der Frauen unterbindet. Was dagegen überzeugt, ist die Begründung dessen selbst, die das Potenzial durchscheinen lässt, den „Chaos Walking“ bisweilen sogar als gesellschaftskritischen Kommentar besäße. Schade, dass Doug Liman und Co. diesen Mehrwert ebenfalls nicht auszuschöpfen wissen.

„Im Zuge der Filmadaption wurde die Vorlage „The Knife of Never Legging Go“ zusammengedampft, was das sukzessive Streuen von Hinweisen auf den tatsächlichen Grund für das Verschwinden der Frauen unterbindet.“

Getragen wird „Chaos Walking“ derweil nicht nur von dem faszinierend-minimalistischen World Building, sondern auch von dem Hauptdarsteller:innenduo. Tom Holland („Spider-Man: Far from Home“) mimt den jungen Mann, der in seiner Aufrichtigkeit fehl in dieser feindseligen Welt wirkt, mit einer Mischung aus Unsicherheit und Hoffnung, als er in Viola einen Silberstreif am Horizont gefunden zu haben glaubt. Daisy Ridley („Star Wars – Der Aufstieg Skywalkers“) ist im Vergleich dazu das genaue Gegenteil. Sie ist tough, lässt sich ihre Unsicherheit in dieser fremden Welt nicht anmerken und erfüllt nie die Klischeefigur der Damsel in Distress, sondern kann sich selbst nur zu gut gegen Angreifer zur Wehr setzen. Die beiden verhelfen „Chaos Walking“ zu Herz und Seele und sorgen auch dafür, dass man von den beiden – genauso wie von der Welt – unbedingt mehr sehen möchte. Auch wenn man durch den aufdringlichen Cliffhanger, dessen Auflösung im Anbetracht des ausgebliebenen Erfolgs des Films ohnehin kaum mehr zu erwarten steht, fast schon wieder ein schlechtes Gewissen hat, auf diesen gezielt Neugier schürenden Drehbuchkniff einmal mehr reingefallen zu sein.

Fazit: Die schwierigen Produktionsbedingungen sind der neuesten Regiearbeit von Doug Liman nicht anzumerken. Auch wenn seine Adaption des dystopischen Romans „Chaos Walking“ gefühlt ein wenig zu spät kommt, da der Young-Adult-Hype längst abgeflaut ist, und daher auch der Cliffhanger unklug wirkt, überzeugt das Sci-Fi-Abenteuer mit einem starken Hauptdarsteller:innenduo, einer faszinierenden Welt und einem fiesen Bösewicht.

„Chaos Walking“ ist ab dem 17. Juni in den deutschen Kinos zu sehen.

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