Der Rausch

In seinem zwölften Spielfilm DER RAUSCH nimmt sich der „Die Jagd“- und „Das Fest“-Regisseur Thomas Vinterberg der Volksdroge Alkohol an – und kreiert einen Film, der ganz und gar seinem Titel gerecht wird. Mehr zu einem der ersten Filmhighlights des Jahres 2021 verraten wir in unserer Kritik.

OT: Druk (DK/SWE/NED 2020)

Der Plot

Martins (Mads Mikkelsen) beste Zeiten sind vorbei. Der Gymnasiallehrer geht seinen Schüler:innen mit einschläferndem Unterricht, seiner Ehefrau mit ständiger Abwesenheit und sich selbst mit seinem Selbstmitleid auf den Geist. Eines Abends, es ist der 40. Geburtstag eines guten Freundes, werden sich Martin sowie seine Freunde und Lehrerkollegen Tommy (Thomas Bo Larsen), Nikolaj (Magnus Millang) und Peter (Lars Ranthe) ihre eintönigen Lebens bewusst – und fassen Hals über Kopf einen Entschluss: Getreu des norwegischen Philosophen Finn Skarderund, der vor rund 20 Jahren die umstrittene These aufstellte, dass jeder Mensch mit 0,5 Promille zu wenig Alkohol im Blut zur Welt kommt – ein solcher Alkoholwert also dem Idealzustand entspricht – wollen sie diese gewagte Äußerung auf ihre Realitätstauglichkeit testen und ihren Promillepegel fortan konstant auf 0,5 halten. Zunächst scheint sich dieses Wagnis für Martin zu rentieren: In der Schule läuft es besser, auch mit seiner Frau hat er das erste Mal seit Wochen wieder leidenschaftlichen Sex. Doch der kontrollierte Exzess hat auch seine Schattenseiten…

Kritik

Regisseur und Autor Thomas Vinterberg („Das Fest“) hatte für seinen zwölften Spielfilm einen genauen Plan: Ein Lobgesang auf den Alkohol sollte er werden, mit seiner Tochter Ida Maria Vinterberg („Die Kommune“) in einer Nebenrolle als Tochter der Hauptfigur Martin. Doch dann machte dem Filmemacher das Leben selbst einen Strich durch die Rechnung: Vinterbergs Tochter kam infolge eines Autounfalls ums Leben und riss den 51-Jährigen in eine tiefe Depression, die ihn zu einer längeren Projektpause verdonnerte. Als er die Arbeiten an seinem Werk wieder aufnahm, änderte er die tonale Ausrichtung seines Films: „Der Rausch“ sollte fortan keine Ode mehr sein, aber eben auch kein typischer Problemfilm über den Alkoholkonsum und seine Folgen. Unter diesen Umständen hätte es nicht verwundert, wäre aus dem fertigen Projekt ein unentschlossener Mischmasch geworden. Doch Vinterberg hat schon mehrfach bewiesen, wie man hochkomplexe moralische Zusammenhänge um den Faktor Mensch ergänzen und dadurch jedwede emotionalen Grenzen ausloten kann. In „Der Rausch“ ist ihm das erneut gelungen.

Tommy (Thomas Bo Larsen), Peter (Lars Ranthe), Martin (Mads Mikkelsen) und Nikolaj (Magnus Millang) schließen einen Pakt.

Wenn man sich die Inhaltsbeschreibung von „Der Rausch“ so durchliest, kann man sich auf den ersten Blick denken, wie die Geschichte weitergeht: Natürlich wird aus dem Spaß irgendwann Ernst. Die Freunde verlieren die Kontrolle über ihr vermeintlich wissenschaftliches Experiment und befinden sich plötzlich mittendrin in einer massiven Alkoholsucht. Irgendwie liegt es ja auch nah, einen Film über den Genuss von Alkohol automatisch mit der Veranschaulichung seiner Gefahren zu verbinden – denn es gibt sie nun mal. Allein hierzulande gelten rund 1,77 Millionen Männer und Frauen zwischen 18 und 64 Jahren als alkoholsüchtig. Dänemark, Vinterbergs Heimatland, ist eines der Länder mit den meisten alkoholdrinkenden Teenagern. Entsprechend häufig findet dieses Thema in der bevorzugt dramatischen Popkultur Erwähnung. Das wohl aktuellste Beispiel: Bradley Coopers Regiedebüt „A Star is born“, das 2019 auf vielen Bestenlisten des Kinojahres zu finden war. Doch da ist ja auch noch der Faktor Thomas Vinterberg, der mit seinen Filmen wie etwa „Die Jagd“ zwar noch nie davor zurückgescheut ist, sozialkritische Themen in durchaus anstrengend-zermürbende Dramen zu verpacken, der in letzter Instanz aber immer auch diesen einen besonderen Dreh findet, um seine Inhalte eben nicht eindimensional-plakativ an den Zuschauer heranzutragen, sondern mannigfaltig und komplex.

„Thomas Vinterberg ist noch nie davor zurückgescheut ist, sozialkritische Themen in durchaus anstrengend-zermürbende Dramen zu verpacken und findet dabei immer auch diesen einen besonderen Dreh findet, um seine Inhalte eben nicht eindimensional-plakativ an den Zuschauer heranzutragen, sondern mannigfaltig und komplex.“

Insofern wundert es auch nicht, dass „Der Rausch“ ursprünglich ein Film über den Genuss und die Sonnenseiten des Alkohols werden sollte. Spurenelemente des – im wahrsten Sinne des Wortes – Rauschhaften erhält der Film auch immer noch. Allein das herausragend choreographierte und gefilmte Ende, wohl eines der besten, die jemals gedreht wurden, beschwört das positive Gefühl eines Alkoholrausches herauf, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren. Und um den Eindruck von Mads Mikkelsen hier kurz vorwegzunehmen: So wie hier hat man ihn zuvor noch nie gesehen. Allein für seine Performance lohnt sich der Kauf eines Kinotickets. Doch natürlich geht es in „Der Rausch“ auch um die negativen Seiten des Alkohols. Vorher. Wenn Vinterberg das konsequent auf seinen wissenschaftlichen Charakter konzentrierte Experiment eskalieren lässt. Doch es ist eben nicht der Alkohol, der hier zum Problem erklärt wird – die hier im Fokus stehenden Protagonisten sind reflektierte, fest im Leben stehende Männer, die sich mit einer gewissen Kindlichkeit zwar an der Idee vom dauerhaften Besoffensein erfreuen, die den Ursprung ihres Experiments – die philosophischen Thesen des Norwegers Finn Skarderunds – jedoch jederzeit ernst nehmen. Es wird sogar penibel darüber Buch geführt, wie der Alkohol die Freunde und ihre Selbst- und Umweltwahrnehmung verändert.

Mit Alkohol im Blut, finden Martins Schüler:innen ihren Lehrer gleich viel sympathischer.

Dass die Situation eskaliert, ist daher nicht (nur) dem Alkohol geschuldet. Stattdessen bringt er die schon vor dem Experiment unter der Oberfläche brodelnden Konfliktherde und Krisen der Hauptfiguren an die Oberfläche. Damit verfolgt der gemeinsam mit seinem Kollegen Tobias Lindholm (schrieb schon an u.a. „Die Jagd“ und „Die Kommune“ mit) auch für das Skript verantwortliche Thomas Vinterberg mit seinem Film einen durchaus kontroversen Ansatz: Für ihn ist der Alkohol zwar ein Brandbeschleuniger, allerdings einer, für den die Freunde (und damit auch ihr Umfeld) im Nachhinein fast dankbar sein können. Anhand dieser Verteidigungshaltung dem Alkohol gegenüber macht sich die Ursprungsidee der Macher – einen Film, der dem Alkohol huldigt – bemerkbar. Mit dem Appell an die (gesunde!) Lebenseinstellung, seinem Unmut häufiger freien Lauf zu lassen und nicht alles in sich hineinzufressen, um im Großen und Ganzen zufrieden zu sein, entlässt Vinterberg sein Publikum auf einer positiven Note aus dem Kinosaal. Doch selbst dieser vermeintliche Erkenntnisgewinn bringt die Quintessenz von „Der Rausch“ nicht vollends auf den Punkt. Am Ende ist Alkohol weder eine Lösung, noch keine – vielleicht ist das die größte Provokation.

„Thomas Vinterberg verfolgt mit seinem Film einen durchaus kontroversen Ansatz: Für ihn ist der Alkohol zwar ein Brandbeschleuniger, allerdings einer, für den die Freunde im Nachhinein fast dankbar sein können.“

Mit Ausnahme der ekstatischen Finalszene ist „Der Rausch“ die meiste Zeit über sehr schlicht inszeniert. Im Fokus stehen keine audiovisuellen Spielereien, sondern das starke Spiel des Ensembles. Wenngleich Mads Mikkelsen alias Martin die größte Aufmerksamkeit erhält und gewissermaßen den Part der Hauptfigur erfüllt, sind seine ebenfalls ins Experiment involvierten Kollegen nicht minder wichtig. Jeder von ihnen verkörpert eine andere mögliche Auswirkung, die der Alkohol haben kann. Damit dies nie plakativ oder lehrbuchhaft erscheint, spielen Thomas Bo Larsen („Die Jagd“), Magnus Millang („Erbarmen“) und Lars Ranthe („Adams Äpfel“) selbst in jenen Szenen zurückhaltend auf, in denen es emotional drunter und drüber geht. Alles, was in „Der Rausch“ geschieht, könnte genau so im wirklichen Leben stattfinden.

Fazit: Thomas Vinterberg wollte mit seinem neuen Film „Der Rausch“ eine Ode an den Alkohol erzählen. Das Endergebnis ist nun weder ein Lobgesang noch eine Verunglimpfung des hochprozentigen Gesöffs, sondern eine gleichermaßen komplexe wie faszinierende Studie darüber, wie Alkoholkonsum die Probleme unserer Gesellschaft widerspiegelt.

„Der Rausch“ ist ab dem 22. Juli 2021 in den deutschen Kinos zu sehen.

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