Die Jagd

Selten fesselte die One-Man-Show eines Darstellers derart, wie die intensive Interpretation eines angeklagten Sexual-Straftäters von Mads Mikkelsen in Thomas Vinterbergs Sozialdrama DIE JAGD. Die Thematik ist derzeit von trauriger Realität, bietet dabei jedoch auch hervorragenden Stoff für emotionales Kino. Und im Falle von diesem Genre-Vertreter ist der sogar Oscar-reif. Mehr dazu lest Ihr in meiner heutigen Kritik.
Der Plot
Lucas (Mads Mikkelsen) ist gerade frisch geschieden und wohnt wieder in seinem Heimatdorf in Dänemark. Seit Jahren pflegt er einen ausgewogenen Kontakt zur Dorfgemeinschaft und wird von allen Seiten als Mitmensch und ortsansässiger Kindergärtner geschätzt. Zu Klara (Annika Wedderkopp), der Tochter seines besten Freundes Theo (Thomas Bo Larsen), pflegt er einen freundschaftlichen Kontakt. Sie darf hin und wieder seinen Hund ausführen und ab und an gehen beide gemeinsam den Weg zum Kindergarten. Als die Kleine für Lucas zu schwärmen beginnt, wird dieser vorsichtiger im Umgang mit ihr, provoziert dadurch jedoch genau das Gegenteil: Aus Frust darüber, dass Lucas ihr selbstgebasteltes Herz nicht annehmen wollte, behauptet Klara, von ihm sexuell genötigt worden zu sein. Für die Dorfgemeinde gibt es keine Gründe, dies zu hinterfragen. In ihren Augen ist Lucas ein Kinderschänder, den es aus dem Dorf zu vertreiben gilt.
Kritik
Erst kürzlich rollte die deutsche Polizei die Ermittlungen im Vermisstenfall „Peggy“ wieder auf. Im Jahre 2001 verschwand die Neunjährige vom Weg von der Schule nach Hause. Drei Jahre später wurde der geistig behinderte Ulvi Kulaç schuldig gesprochen und sitzt seither in der Psychiatrie. Nicht nur, dass sich mit der Zeit immer mehr Zweifel seitens der Staatsanwaltschaft oder gar des familiären Umfelds von Peggy laut wurden, auch innerhalb des Verfahrens konnte Kulaçs Schuld nie eindeutig bewiesen werden. Mit neuen Beweisen gegen einen anderen Verdächtigen wurden die Ermittlungen schließlich immer wieder neu aufgerollt, so auch erst vor wenigen Tagen.
Die Aktualität kann man dem von Thomas Vinterberg inszenierten Sozialdrama „Die Jagd“ also nicht absprechen, gleichwohl zwischen den fiktionalen Ereignissen seiner Erzählung sowie dem in Wirklichkeit existierenden Kriminalfall keinerlei Zusammenhang besteht. Dennoch ist die Frage nach Schuld und Sühne immer wieder aufs Neue ein spannendes Thema, der im Falle von „Jagten“ – so der dänische Originaltitel – eine höchst emotionale und dabei leicht zugängliche Verarbeitung zuteil wird. Die sensible Geschichte um den Kindergärtner Lucas, dem von einem Tag auf den anderen, durch eine unbedarfte Lüge eines kleinen Mädchens, sein Platz in der Gesellschaft abgesprochen wird, erzählt leise, dafür von umso brachialerer Härte aus dem Leben eines jenen, für den die Schuldfrage – auch ohne Verurteilung – längst gesprochen ist.
Der einstige „Bond“-Bösewicht Mads Mikkelsen („Casino Royale“) liefert dabei eine emotionale und von stetigen seelischen Schwankungen unterworfene One-Man-Show ab, die ihresgleichen sucht. Das von immenser Intensität geprägte Spiel des gebürtigen Dänen entfaltet sich dabei nicht nur in den hochdramatischen Momenten, die den auffälligen Mimen in emotionalen Extremsituationen zeigen. Bereits zu Beginn, als die Welt für Lucas noch heile ist und er lediglich mit den Nachwirkungen einer schwierigen Scheidung zu kämpfen hat, es sich die Frage stellt, wie oft der gemeinsame Hund bei ihm und wie oft bei seiner Ex-Frau schlafen kann, wird Mikkelnsens Lucas zum perfekten Sympathieträger und aufgrund seiner Bodenhaftung und seines an den Tag gelegten Realismus zu einer idealen Identifikationsfigur. Er spielt den „Typ von nebenan“ ohne jedwede Attitüde, nutzt jedoch die Stärken des von Tobias Lindholm und Thomas Vinterberg verfassten Skripts, die seiner Rolle allerhand verschiedene Charakterzüge mit auf den Weg geben und macht Lucas dadurch zu einer zwar durch und durch sympathischen, jedoch immer wieder äußerst kantigen und in manchen Situationen sogar unbequemen Figur. So mutet er zwar stets korrekt an und ist im Umgang mit seinen Mitmenschen höflich und zurückhaltend. Gleichzeitig wirken seine emotionalen Ausbrüche, wie etwa der Rausschmiss seiner neuen Lebensgefährtin, als diese den leisesten Zweifel an Lucas‘ Unschuld hegt, oder die aufkommende Wut über die von seinen Nachbarn begangene Lynchjustiz an seinem Hund, jederzeit realitätsnah und nachvollziehbar. Besonders die eindrucksvoll via Close-Ups in Szene gesetzten Momente, in denen Lucas zwischen Wut und Trauer schwankt und schließlich immer wieder Tränen fließen, sind von exzellenter, mimischer Ausdrucksstärke und damit auf einem Niveau, das Mads Mikkelsen eventuell als Überraschungskandidat in die Kategorie „Bester Hauptdarsteller“ bei der Oscar-Verleihung 2014 katapultieren könnte. Bei seiner Uraufführung auf den Filmfestspielen von Cannes im Jahre 2012 wurde er in ebenjener Kategorie prämiert.
Unter den Nebendarstellern ist es vor allem die Leistung des in Deutschland weitgehend unbekannten Thomas Bo Larsen („Der Sonnenkönig“) als fürsorglicher Vater des vermeintlichen Opfers Klara. Seine, auf dem schmalen Grad zwischen Hass und Ungläubigkeit wandelnde Darstellung eines Vaters, der sich immer mehr der beunruhigenden Gruppendynamik des Dorfes anschließt und das Vertrauen in seine Intuition und Menschenkenntnis vollkommen verliert, ist mitreißend und liefert dem Publikum eine weitere Identifikationsfigur in dem Storygeflecht, das die Frage nach einem „Ob“ gar nicht stellt. Hat der vielseitige Regisseur Thomas Vinterberg („It’s All About Love“, „Submarino“) den Zuschauer erst einmal ins kalte Wasser geschmissen und es mit der Ausgangslage des schwierigen und durchaus provokanten Stoffes konfrontiert, liefert er ihm mehrere Möglichkeiten, sich zu positionieren. Mit Mikkelsens Lucas erhält es die Möglichkeit, sich in die Lage eines für schuldig befundenen Täters hineinzuversetzen, Larsens Darstellung des Vaters Theo zeigt hingegen die Kehrseite dieses emotionalen Zwists und bietet auch dem Publikum die Möglichkeit, sich auf eine Ansicht festzulegen.
Immer wieder gelingt es Vinterberg dabei, mit den üblichen Pro- und Antagonisten-Schemen zu brechen und bringt das Publikum dadurch in eine unangenehme Bedrängnis: Früher oder später muss es sich zwangsläufig für eine Seite entscheiden, weshalb „Die Jagd“ zu einem Film wird, dem es unmöglich ist, das Publikum kalt zu lassen. Bis zum Schluss hält Vinterberg eine allgegenwärtige Spannung aufrecht, die ihren Höhepunkt in einem erneuten Zusammentreffen zwischen Lucas und Klara findet. Die kleine Annika Wedderkopp, die die kleine Klara mit beachtlicher Stärke verkörpert, liefert hier ein beeindruckendes Spielfilm-Debüt ab und schafft es, sämtliche Szenerien an sich zu reißen. Ihr gelingt es hervorragend, der Figur schon in so jungen Jahren eine innerliche Zerrissenheit anzueignen und mimt glaubhaft, wie sich ein Mädchen in exakt so einer Situation fühlen muss, wie Klara es tut. Dabei geht es ihr gänzlich ab, vom Publikum als „Auslöser“ des ganzen Trauerspiels aufgenommen zu werden. Gleichzeitig lässt das Drehbuch sie einen absolut glaubhaften, inneren Wandel vom unbedarften, kleinen Mädchen zur Erkenntnis, etwas Falsches gemacht zu haben, durchlaufen, was sie von manch anderen Jungdarstellern enorm abhebt. Sie steht ihren erwachsenen Kollegen in Nichts nach und ist die ideale Besetzung dieser zwar mit wenig Screentime gesegneten, aber enorm wichigen Rolle.

Kinder sagen immer die Wahrheit. Oder?
Immer wieder sind es die leisen Momente, in denen „Die Jagd“ seine Stärken voll und ganz ausspielt. Thomas Vinterberg gelingt mit einem enormen Blick für Details eine Sozialstudie, die auch den abgebrühtesten Kinogänger und Cineast nicht kaltlassen kann. Wenn etwa Anne Louise Hassing („Eine Familie“) als Klaras Mutter Agnes von einem gegen Lucas gerichteten Wutausbruch in sich zusammensackt und mit Tränen in den Augen ihre Tochter in den Arm nimmt und so tut, als sei alles in Ordnung, ist dies ebenso aufwühlend wie teils äußerst rabiate, körperliche Attacken gegenüber Lucas oder auch dessen Sohn Marcus (Eine Neuentdeckung: Lasse Fogelstrøm). Vinterberg liefert dem Publikum eine emotionale Achterbahnfahrt, der es sich nur schwer entziehen kann. Dabei muss es sich erst an den rauen und so gar nicht Hollywood-typischen Look gewöhnen, der zeitweise eher an ein öffentlich-rechtliches Fernsehdrama erinnert und jegliche Formen von Hochglanz vermissen lässt. Der leicht bräunliche Farbfilter taucht „Die Jagd“ dabei stets in einen verwaschenen Herbst-Look und untermalt dadurch die bisweilen als Leitthema dienenden Szenen einer echten Wildjagd – die dann auch für den bitteren, finalen Schlussakt zuständig sind. Dass dieser erst folgt, nachdem zwischen den Hauptereignissen und dem Finale ein Zeitsprung von Rund einem Jahr stattfindet, wird schließlich zum einzigen Wehrmutstropfen, den „Die Jagd“ zu bieten hat. Denn so lässt Vinterberg die wohl wichtigste Phase zwischen Erkenntnis und Vergebung schlicht nicht stattfinden.
Fazit: „Die Jagd“ ist nach „Only God Forgives“ der zweite starbesetzte und jederzeit sehenswerte Kino-Beitrag aus Dänemark 2013 und liefert umwefernd emotionales Kino, das zum Nachdenken anregt. Führt man sich nach der Sichtung die realistischen Hintergründe der Handlung vor Augen, hat Thomas Vinterberg wohl exakt das erreicht, was er mit seinem Drama erreichen wollte: Er wühlt auf.