Oxygen

Mit simpelsten Mitteln inszeniert Regisseur Alexandre Aja ein beklemmendes Kammerspiel, in dem der einzigen Darstellerin Mélanie Laurent langsam der Sauerstoff ausgeht. Weshalb OXYGEN dennoch längst nicht so effektiv ist wie er sein könnte, das verraten wir in unserer Kritik.

OT: Oxygène (FR/USA 2021)

Der Plot

Eine zunächst namenlose Frau (Mélanie Laurent) erwacht ohne jegliche Erinnerungen in einer Kältekapsel. Sie ist an ihrer Liege festgebunden, um sie herum finden sich jede Menge Computerbildschirme, medizinisches Gerät und Schläuche. Ihr einziger Kontakt zur Außenwelt ist eine künstliche Intelligenz namens M.I.L.O. (Mathieu Almaric), die ihr zwar auch nicht sagen kann, wie sie dorthin gekommen ist, die sie aber darüber informiert, dass der Sauerstoff in ihrer Kapsel zur Neige geht. Um diesem Albtraum ein Ende zu setzen, muss sich die junge Frau irgendwie daran erinnern, wie sie in diese missliche Lage geraten konnte. Und so bittet sie den Computer, für sie diverse Telefonnummern anzurufen, in der Hoffnung, irgendjemanden außerhalb ihrer Kapsel zu erreichen…

Kritik

Der französische Filmemacher Alexandre Aja begann seine Regiekarriere als Mitbegründer der sogenannten „neuen französischen Härte“; einer Horrorfilmströmung aus den frühen Nullerjahren. Neben Aja bewiesen sich auf einmal diverse Landsleute in der Inszenierung nahezu unvorstellbarer Gewalt – selbst der etwa zur selben Zeit aufkeimende Trend zum vornehmlich von US-Filmemachern befeuerten Torture Porn wirkte dagegen bisweilen fast harmlos. Neben Pascal Laugier („Martyrs“), Alexandre Bustillo und Julien Maury („Inside“) sowie Xavier Gens („Frontier(s)“) sorgte Ajas „High Tension“ für derart viel Aufsehen, dass er drei Jahre später ein US-Remake des Siebzigerjahre-Terrorklassikers „Hügel der blutigen Augen“ inszenieren durfte. Von da an schien der Weg des gebürtigen Parisers vorgezeichnet; Mit „Mirrors“ und „Piranha 3D“ als Regisseur, „P2 – Schreie im Parkhaus“ als Drehbuchautor sowie „Alexandre Ajas Maniac“ als werbender Produzent erfüllte er anschließend brav die Erwartungen, nur um seit 2013 drei Gänge zurückzuschalten. Dem Genre blieb er treu, doch sowohl mit dem unterschätzten Daniel-Radcliffe-Vehikel „Horns“ als auch dem hierzulande lediglich auf DVD und Blu-ray erschienenen Genre-Mix „Das 9. Leben des Louis Drax“ sowie dem massentauglichen Creature-Feature „Crawl“ schien Aja seine blutigen Jahre hinter sich gelassen zu haben. Ein Eindruck, den sein erstes Netflix-Projekt „Oxygen“ bestätigt, in dem Aja, erstmalig seit seinem Debüt auf Französisch, so reduziert auftritt wie nie. Und leider auch so schwach wie nie.

Elizabeth Hansen (Mélanie Laurent) erwacht einsam in einer Kältekammer.

Die Ausgangslage von „Oxygen“ erinnert unweigerlich an Paul Conroys „Buried – Lebend begraben“. In dem 2010 veröffentlichten Kammerspielthriller mit Ryan Reynolds in der Hauptrolle erwacht ein Mann in einem Sarg unter der Erde. Bei sich hat er lediglich ein Feuerzeug (sicher auch als filmisches Zugeständnis ans Publikum – schließlich muss man da unten auch irgendwas sehen können) und ein Telefon zur Kommunikation nach draußen. In „Oxygen“ sorgen medizinische Strahler für die notwendige Beleuchtung und der Kontakt nach draußen geschieht über eine künstliche Intelligenz, die der zunächst namenlosen Protagonistin jedoch erst einmal jedwede Informationen und Hilfe verweigert – schließlich entwickelt sich ein Großteil der Atmosphäre in „Oxygen“ aus der Unwissenheit ob der Situation. Da wäre es arg kontraproduktiv, würde das sich selbst M.I.L.O. („Medizinisches Interface zur Lebenserhaltung“) nennende Betriebssystem sämtliche Wissenslücken der Hauptfigur (und damit auch des Publikums) sofort füllen. Doch tatsächlich gelingt es der hiermit ihr Spielfilmdebüt abliefernden Drehbuchautorin Christie LeBlanc („How to Make a Reality Star“) in der ersten Hälfte erstaunlich gut, M.I.L.O.s Informationsverweigerung glaubhaft zu erklären. Da die junge Frau, die später als Elizabeth Hansen identifiziert wird, völlig ohne jedwedes Wissen ist, sind zunächst schlicht ihre Aufforderungen an das Betriebssystem zu vage, als dass M.I.L.O. ihr irgendwelche hilfreichen Antworten geben könnte – schließlich ist er eine K.I. und kein Mensch. Und je mehr man über die Situation im Gesamten erfährt, desto mehr realisiert man zudem, dass M.I.L.O. gewisse Anweisungen von Elizabeth einfach nicht ausführen kann, weil seine Fähigkeiten dazu nicht ausreichen respektive es das Setting nicht hergibt, diese auszuführen.

„Da die junge Frau, die später als Elizabeth Hansen identifiziert wird, völlig ohne jedwedes Wissen ist, sind zunächst schlicht ihre Aufforderungen an das Betriebssystem zu vage, als dass M.I.L.O. ihr irgendwelche hilfreichen Antworten geben könnte – schließlich ist er eine K.I. und kein Mensch.“

Doch nicht nur die Frage danach, wie zum Teufel Elizabeth in diese missliche Lage geraten ist (und damit einhergehend: ob und wie sie wieder aus ihr herauskommen wird), bildet das atmosphärische Grundgerüst von „Oxygen“, sondern auch die dem Film überhaupt erst ihren Titel verleihende Sauerstoffknappheit, mit der sich die Protagonistin konfrontiert sieht. Gerade einmal 35 Prozent H2O und somit nur noch wenige Stunden bleiben ihr, um sich aus der Kältekammer zu befreien oder Hilfe von außen zu organisieren. Dieses buchstäbliche Herunterzählen eines Countdowns verleiht Elizabeths Notsituation von Anfang an eine ungeheure Dringlichkeit, da sich die symbolische Schlinge um ihren Hals kontinuierlich zuzieht – und er gibt den Erzählrhythmus vor: „Oxygen“ spielt nahezu in Echtzeit. Dank dieser simplen, aber effektiven Zutaten gerät der Film in der Anfangsphase ungemein intensiv; Und obwohl Alexandre Aja respektive seinem Stamm-Kameramann Maxime Alexandre („Shazam!“) nur dieses einzige, wenige Quadratmeter große Setting der Kältekapsel zum Bespielen haben, stellt sich dank verschiedener visueller Schwerpunkte bei den Perspektiven und Schärfen, der ungemeinen Detailvielfalt in der Setausstattung und natürlich dem vor allem im Close-Up hervorragend zur Geltung kommenden Mienenspiel der Hauptdarstellerin Mélanie Laurent („6 Underground“) nie ein Gefühl der Redundanz ein. Vor allem eine Szene, in der sich die Kamera ausnahmsweise mal aus der Kältekapsel heraus begibt und zeigt, was sich um diese herum befindet, erweist sich als regelrecht berauschend. Und so leidet man mit jeder verstrichenen Minute mehr mit ihrer Elizabeth mit; Doch ausgerechnet, wenn es erste Antworten auf ausstehende Fragen gibt, knickt atmosphärisch „Oxygen“ ein.

Wie ist sie dorthin gekommen? Und vor allem: Kommt sie hier rechtzeitig wieder heraus?

„Oxygen“ ist keiner dieser Filme, die sich erst in der finalen Auflösung in die Karten schauen lassen und hier wahlweise mit einem alles auf den Kopf stellenden Twist, oder einer aus dem Hut gezauberten Überraschung auftrumpfen. Stattdessen entblättert Christie LeBlanc das große Ganze sukzessive und setzt Elizabeth dafür häppchenweise Informationen vor die Nase. Diese erweisen sich entweder als tatsächlich wahr, oder werden bereits wenige Minuten später schon wieder auf links gedreht, weil sich jedwede Stimmen von außen, die mit Elizabeth über das Telefon kommunizieren, nur bedingt als glaubhafte Informant:innen erweisen. Die absolute Entschlüsselung ihrer Situation mit allen großen und kleinen Details offenbart sich zwar tatsächlich erst in den letzten Filmminuten, doch spätestens nach der nach etwa der Hälfte der Laufzeit stattfindenden, genauen Genre-Verortung (die wir aus Spoilergründen an dieser Stelle nicht vorwegnehmen wollen – wer mehr wissen möchte, checkt die Taggs unterhalb dieser Kritik) ist „Oxygen“ plötzlich allzu durchschaubar. Mehr noch: Das zuvor viele spannende, moralische Fragen aufwerfende Skript wählt zur Beantwortung derselben allein durch das finale Setpiece die wohl leichtesten Antworten. Wo bis dato noch intensiv Fürs und Widers abgewogen werden mussten, lässt der weitere Storyverlauf plötzlich ganz klare Antworten zu. Eventuelle moralische Dilemmata werden nichtig und weichen stattdessen im Genre längst durchgekauter Thematiken. Erst wenn gen Ende der zeitweise völlig in den Hintergrund gerückte Sauerstoffabfall wieder dafür sorgt, dass die Intensität der Story ansteigt, kann sich „Oxygen“ nochmal kurz aufbäumen, bevor das allzu versöhnliche Ende wiederum enttäuscht.

„Das zuvor viele spannende, moralische Fragen aufwerfende Skript wählt zur Beantwortung derselben allein durch das finale Setpiece die wohl leichtesten Antworten. Wo bis dato noch intensiv Fürs und Widers abgewogen werden mussten, lässt der weitere Storyverlauf plötzlich ganz klare Antworten zu.“

Die sämtliche darstellerischen Lasten auf ihren Schultern tragende Mélanie Laurent darf in „Oxygen“ eineinhalb Stunden lang intensive Todesangst durchstehen. Dabei gelingt es ihr in den besten Momenten, das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit mit Phasen der plötzlichen Euphorie zu kreuzen. Wann immer ihre Elizabeth dem Ziel – also der Flucht aus der Kammer – ein Stückchen näher zu sein scheint (und sei es nur, weil sie am anderen Ende der Telefonleitung endlich eine Stimme hört), sind diese wenigen Sekunden der Freude wahrlich mitreißend. Es ist schade, dass es auch Laurents Spiel nicht gelingen kann, den Qualitätsabfall der zweiten Filmhälfte von „Oxygen“ zu kompensieren.

Fazit: Alexandre Aja wandelt mit seinem Kammerspielthriller „Oxygen“ zunächst gekonnt auf den Spuren von Paul Conroys „Buried“. Doch trotz einer starken Mélanie Laurent in der Hauptrolle knicken die Story und damit auch die Spannung in dem Moment ein, in dem nach und nach die vielen offenen Fragen beantwortet werden, die zu Beginn noch für die Atmosphäre verantwortlich waren.

„Oxygen“ ist ab dem 12. Mai 2021 bei Netflix streambar.

2 Kommentare

  • Michael Füting

    Über die Argumentation der Kritik hinaus mal die Frage: Brauchen wir wirklich z. Zt. solche Filme, diese Genres??? – Ich dachte immer sowas funktioniert nur in GUTEN Zeiten…

    • Niemand hindert dich daran von morgens bis abends seichte Romanzen und doofe Slapstick-Comedys zu schauen, wenn derlei für dich zu bedrückend ist. Ich jedenfalls will „solche Filme“ sehen. Egal welche „Zeiten“ wir gerade haben.

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