303

Knapp drei Stunden lang lässt Hans Weingartner seine beiden Hauptfiguren im Roadmovie 303 über den Sinn und Unsinn des Lebens philosophieren. Am Ende verrät sich der Film selbst und tauscht erzählerische Cleverness gegen eine Vorschlaghammer-Auflösung. Mehr dazu verrate ich in meiner Kritik.

Der Plot

Jan (Anton Spieker) ist davon überzeugt, dass der Mensch von Natur aus egoistisch ist. Deswegen ist er auch nicht weiter überrascht, als ihn in Berlin seine Mitfahrgelegenheit versetzt. Jule (Mala Emde) hingegen glaubt, dass der Mensch im Kern empathisch und kooperativ ist, und bietet Jan einen Platz in ihrem „303“ Oldtimer-Wohnmobil an. Beide sind unterwegs Richtung Atlantik. Jan will nach Spanien, um seinen leiblichen Vater kennenzulernen, Jule zu ihrem Freund nach Portugal. Eigentlich soll es gemeinsam nur bis Köln gehen, doch mit jedem Kilometer eröffnet sich etwas mehr von der Welt des Anderen. Macht der Kapitalismus den Menschen zum Neandertaler? Führt Monogamie ins Unglück und kann man sich aussuchen, in wen man sich verliebt? Die beiden durchqueren Frankreich und erreichen Spanien, ihre fesselnden Gespräche werden immer persönlicher. Und es fällt ihnen immer schwerer, sich nicht ineinander zu verlieben…

Kritik

Obwohl Arbeitgeber bei der Einstellung neuer Kräfte heutzutage als erstes nach Flexibilität verlangen, ist in der schnelllebigen Welt von heute fast jede einzelne Lebensminute durchgeplant. Sogar einst solch romantischen Dinge wie Dating geben wir in die Hände von ausgeklügelten Computerprogrammen, um bloß nichts dem Zufall zu überlassen und selbst beim Nichtstun produktiv zu sein. Regisseur Hans Weingartner („Die fetten Jahre sind vorbei“) hat daher Recht, wenn er sein neuestes Projekt als „Anti-Tinder-Film“ bezeichnet, denn in dem Roadmovie „303“ geht es knapp zweieinhalb Stunden lang ausschließlich um die im Dialog stattfindende Annäherung zwischen Mann (Jan) und Frau (Jule). Doch nicht nur inhaltlich wirkt der Film dadurch entschleunigend. Dieser Eindruck erstreckt sich auch bis hin zur Entstehungsgeschichte, denn Weingartner schrieb satte 20 Jahre an den Texten und unternahm den Original-Trip von Berlin über Frankreich bis hin nach Portugal mit den Hauptdarstellern selbst – und das sind immerhin über 3000 Kilometer. Hinter „303“ steckt trotz minimaler Geschichte der maximale Aufwand. Da ist es nur konsequent, dass man den beiden Protagonisten eine entsprechende Leinwandzeit einräumt, um sich über Gott, die Welt, vor allem aber über sich selbst und die Funktionalität der Liebe auszutauschen. Letztlich ist aber selbst das noch zu wenig, denn während ansonsten jedes noch so unwichtige Detail in seine Einzelteile zerlegt wird, bleibt Weingartner bei einem der wichtigsten derart oberflächlich, dass „303“ dadurch auf einen Schlag viel von seinem guten Eindruck einbüßt. Und die sympathischsten Zeitgenossen sind seine beiden Protagonisten bei näherer Betrachtung leider auch nicht, womit sie aber immerhin den gesellschaftlichen Zeitgeist sehr authentisch widerspiegeln.

Jan (Anton Spieker) und Jule (Mala Emde) machen sich auf die Reise in eine ungewisse Zukunft…

Natürlich ist es für einen gelungenen Film grundsätzlich erst einmal nicht ausschlaggebend, ob die Figuren sympathisch sind, oder nicht. In der Regel müssen sie vor allem interessant sein. Im Falle von „303“ ist das allerdings ein wenig anders, denn hier geht es schließlich nicht um eine ausgeklügelte Story, sondern um zwei Menschen, die mit ihrer Mischung aus Persönlichkeit und Klugheit dazu in der Lage sein müssen, den Zuschauer über 145 Minuten lang bei der Stange zu halten, obwohl auf der Leinwand – von diversen malerischen Urlaubsziel-Shots einmal abgesehen – nicht allzu viel passiert. Die improvisiert wirkenden, allerdings von Anfang an exakt so durchgeplanten Dialoge funktionieren die meiste Zeit über; und das, obwohl sie mit treffsicheren Beobachtungen unserer Gesellschaft, wissenschaftlichen Theorien über alle möglichen Themen und Kritik an unserer Lebensweise nur so vollgestopft sind, dass sie in dieser Konzentration niemals im wahren Leben stattfinden würden. Gleichwohl sind die von Weingartner auf die Leinwand gebrachten zweieinhalb Stunden ja auch nur eine Art Highlight-Zusammenschnitt einer insgesamt sehr viel längeren Reise. Da sich in die Gespräche auch immer wieder vereinzelt Albernheiten und Banalitäten mischen, gelingt es dem Autorenfilmer, den Eindruck von diesen zwei überdurchschnittlich weisen Zeitgenossen die meiste Zeit über glaubhaft zu machen und aufrechtzuerhalten. Doch um an den Beginn dieses Absatzes anzuknüpfen: Selbstverständlich ist das nicht. Denn vor allem Jule ist ein Figurentyp, der es dem Zuschauer von Anfang an nicht einfach macht, mit ihr und ihren Ansichten zu connecten.

Bevor es Jan und Jule auf ihren Europa-Trip zieht, lernen wir die beiden erst einmal in ihrem alltäglichen Umfeld kennen. Im Falle von Jule bedeutet das: bei ihrer mündlichen Biologie-Prüfung, bei der sie ihrem Prof erst einmal erklärt, dass sie heutzutage nicht mehr auswendig lernen müsse, da sie bei Verständnisschwierigkeiten ja einfach Google fragen könne. Das mag die Einstellung und das technische Selbstverständnis vieler junger Menschen von heute perfekt abbilden, gleichzeitig macht schon diese frühe Szene deutlich: Bequem macht es Jule dem Zuschauer nicht. Das ist authentisch und führt uns lebensnah vor, dass wir kaum jedes Detail an jeder Person mögen können, selbst wenn sie uns im Gesamten sympathisch ist. Das bedeutet aber auch, dass jeder individuell entscheidet, wie sehr ihn solche Details stören. Und da Jules besserwisserische Attitüde im weiteren Verlauf immer mal wieder zum Vorschein kommt, bis sie sich im Finale – der ungewöhnlichen Umstände zum Trotz – auch noch ziemlich daneben benimmt, indem sie die zuvor aufgebaute, zwischenmenschliche Beziehung zu Jan mit Füßen tritt und wortlos abhaut (vielmehr wollen wir aus Spoilergründen an dieser Stelle nicht verraten), wird aus ihr eine Person, bei der es zumindest nicht verwunderlich ist, wenn man ihr nicht automatisch etwas abgewinnen kann. Trotzdem machen die durchweg herausragend-lebensecht geschriebenen Dialoge sie auch zu einem unabdingbaren Element von „303“ und nicht zuletzt ist es Mala Emde („Wir töten Stella“), die aus Jule eine glaubhafte, komplexe und mit Ecken und Kanten versehene Figur macht, die genauso viele nicht für ihr Handeln kritisieren, sondern sich erst recht in ihr und ihrem sprunghaften Verhalten wiedererkennen dürften.

In ihrem 303-Wohnmobil geht es für Jan und Jule 3000 Kilometer von Berlin bis nach Portugal.

Jan, nicht minder intuitiv gespielt von Anton Spieker („Von jetzt an kein Zurück“), gibt im Vergleich dazu die wesentlich rundere Figur ab. Sich an ihr zu stören, ist schon schwieriger, was sich ihm letztlich wiederum leicht zum Vorwurf machen ließe. Vor allem im Zusammenspiel sind Spieker und Emde ein Ereignis, was in erster Linie daran liegt, dass sie die Dialoge wie improvisiert wirken lassen – und die Interaktion der beiden wie selbstverständlich. Während sie sich auf ihrer Fahrt also über Kapitalismus und Kommunismus, die Wichtigkeit der Chemie beim Vorgang des Verliebens oder darüber austauschen, wie sich menschliches Beisammensein auf die Cortisolausschüttung im Körper auswirkt (man muss eben glauben, dass die beiden mit ihren anfang zwanzig ein derart breitgefächertes Fachwissen mitbringen!), rücken die persönlichen Beweggründe für ihre Reise bald so weit in den Hintergrund, bis der Ausgang der Geschichte kaum noch eine Rolle spielt. Jans Aufeinandertreffen mit seinem Vater lässt einen emotional völlig unberührt und wenn Hans Weingartner die zuvor immer wieder einmal am Rande erwähnte Frage, ob Jule das ungeborene Kind nun bekommen soll, oder nicht, schließlich beantwortet, indem gezeigt wird, wie die junge Frau ein paar Sekunden lang auf einem Stein sitzend in die Ferne blickt, fragt man sich schon, wie dieses Paar die Weisheit ob der menschlichen Existenz mit Löffeln gefressen zu haben scheint, aber nicht in der Lage ist, sich ähnlich intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen. Damit verrät sich „303“ letztlich selbst, denn am Ende ist die Substanz in den Gesprächen dann eben doch das Ergebnis von 20 Jahren Dialogarbeit und die hier dargestellte Szenerie damit alles andere als realitätsnah. Und die Figuren sind für Weingartner nur dazu da, ebendiese Dialoge vorzutragen, an ihrem Schicksal scheint der Regisseur aber kaum interessiert.

Fazit: Die in jahrelanger Kleinstarbeit kreierten Dialoge über Gott und die Welt sind das Herzstück des bildschön fotografierten Roadmovies „303“, doch der Regisseur und Autor scheint mehr an den ausformulierten Weisheiten interessiert zu sein, als an seinen bisweilen anstrengenden Figuren, die er in einem vermurksten Finale schließlich völlig alleine lässt.

„303“ ist ab dem 19. Juli in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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