Everybody’s Talking About Jamie

Ursprünglich für’s Kino geplant, erscheint die gleichnamige Filmadaption des Broadway-Musicals EVERYBODY’S TALKING ABOUT JAMIE nun direkt auf Amazon Prime und entpuppt sich als lebensbejahende, schrille Ode daran, das Anderssein als Normalität zu akzeptieren – ein wenig wie Ryan Murphys „The Prom“. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.

OT: Everybody’s Talking About Jamie (UK/USA 2021)

Der Plot

Der 16-jährige Jamie (Max Harwood) hat einen ungewöhnlichen Traum: Sein Coming-Out hat er schon lange hinter sich. Sein nächster Schritt ist nun die öffentliche Bekenntnis, unbedingt eine Dragqueen sein zu wollen. Doch Jamie sieht sich bereits jetzt häufig Mobbing und Ausgrenzung durch seine Mitschülerinnen und Mitschüler ausgesetzt. Wie also soll er seine Liebe zum Drag ausleben, ohne dabei in die völlige Isolation zu rutschen? Glücklicherweise hat Jamie nicht nur eine äußerst verständnisvolle Mutter (Sarah Lancashire) und eine beste Freundin (Lauren Patel), die ihm zur Seite stehen, sondern auch ein ungeheures Selbstbewusstsein. Und so steht sein Plan fest: Zum Abschlussball will er in Kleid und High-Heels aufkreuzen – koste es, was es wolle.

Kritik

Die Parallelen zwischen Jonathan Butterells schriller Dragparade „Everybody’s Talking About Jamie“ und Ryan Murphys Broadwaymusical-Adaption „The Prom“ sind unübersehbar. Abgesehen davon, dass es sich bei zwei Filmen um musikkonzentrierte Filmvarianten hocherfolgreicher Musicals handelt, sind auch die Themen sehr ähnlich. Beide Geschichten spielen an einer High-School. Beide Geschichten arbeiten auf den Abschlussball hin. In beiden Filmen steht eine jeweils bereits ihrer Homosexualität geoutete Hauptfigur im Zentrum. Und in beiden Filmen ist das Happy End eine öffentliche Bekenntnis zum selbst gewählten Lebensstil. In „Everybody’s Talking About Jamie“ verfolgt der Protagonist den Traum, als Dragqueen zum Abschlussball zu gehen. In „The Prom“ (Prom, zu Deutsch: Abschlussball) möchte Protagonistin Emma mit ihrer bisher geheim gehaltenen Freundin dorthin gehen und ihre große Liebe endlich der Öffentlichkeit präsentieren. Jonathan Butterell, der schon die Bühnenvariante von „Everybody’s Talking About Jamie“ inszenierte, und Ryan Murphy übernehmen für die Leinwandadaption die knallbunte Attitüde ihres Vorbilds und liefern ihrem Publikum eine mitreißende Reise durch die Gefühlswelt festentschlossener Teenager, die anders als etwa in Greg Berlantis herausragendem Coming-of-Age-Film „Love, Simon“ längst wissen, was sie vom Leben erwarten. Jetzt müssen sie es nur noch den Menschen um sich herum klarmachen.

Für Newcomer Max Harwood ist „Everybody’s Talking About Jamie“ die erste Filmrolle, die er mit Bravour meistert.

Wer nach dem Einstieg in unsere Kritik direkt keine Lust mehr hat, „Everybody’s Talking About Jamie“ eine Chance zu geben, etwa weil er „The Prom“ nicht mochte oder sich denkt, es genüge dann doch, einen von beiden Filmen zu sehen, wenn diese sich so ähnlich sind, dem sei an dieser Stelle versichert: Besonders überzeugend sind hier weniger die Gemeinsamkeiten als vielmehr die feinen Nuancen des Unterschieds. Diese beginnen schon bei der Zeichnung der Hauptfigur. Zwar steht Emma in „The Prom“ ganz selbstverständlich zu ihrer Homosexualität, ist allerdings eher eine der ruhigen Sorte und zelebriert ihr Lesbendasein längst nicht so selbstbewusst wie Jamie seine Sexualität. Die jeweils erste, von der Hauptfigur selbst vorgetragene Musicalnummer der Filme passt dann auch wie die Faust auf’s Auge zur ihrer Gesamtattitüde. „Just Breathe“ ist eine ruhige Ballade, in der Emma auf durchaus gewitzte Weise, aber doch mit ernstem Grundton und ohne jedwede visuelle Überstilisierung ihr Coming-Out im streng konservativen Indiana infragestellt, einfach weil es ohne dieses so viel einfacher für sie wäre. Für „Don’t Even Know It“, der Eröffnungsnummer von „Everybody’s Talking About Jamie“ dagegen, verwandelt sich Jamies Klassenzimmer spontan in eine pompöse Glitzer-und-Glamour-Show, in der Jamie in auffälligem Kostüm sämtliche Mitschülerinnen und Mitschüler um sich versammelt, um gemeinsam mit ihnen eine Ode an seine Exzentrik und sein Selbstbewusstsein zu schmettern. Zwar irritiert es, dass sich hier auch jene einreihen, die eigentlich zu den Bullys gehören. Trotzdem stellt Newcomer Max Harwood („Everybody’s Talking About Jamie“ ist seine erste Filmrolle!) schon hier seine enorme Leinwandpräsenz unter Beweis, mit der er die weiteren 100 Minuten prägen wird.

„Besonders überzeugend geraten hier weniger die Gemeinsamkeiten von ‚Everybody’s Talking About Jamie‘ und Ryan Murphys ‚The Prom“ als vielmehr die feinen Nuancen des Unterschieds.

Trotzdem kommt auch „Everybody’s Talking About Jamie“ längst nicht ohne ruhige, melancholische Töne aus. Denn so entschlossen Jamie seinem Traum, eine Dragqueen sein zu wollen, verfolgt und auf dem Weg dorthin mit ungemeinem Verve Hatern und Skeptikern den Wind aus den Segeln nimmt, so sehr hadert er eben auch im stillen Kämmerlein mit seinem Entschluss; Einfach, weil er letztlich ja auch bloß ein typischer Teenager ist, der sich aller Entschlossenheit zum Trotz immer noch selbst finden muss. Daher überzeugen in „Everybody’s Talking About Jamie“ nicht zuletzt vor allem die intimen Momente zwischen Jamie und seiner Mutter sowie Jamie und seiner besten Freundin. Obwohl letztere nicht damit hinterm Berg hält, dass sie Jamies Drag-Traum durchaus bedenklich findet; Schließlich bekommt sie jetzt schon mit, mit was für Anfeindungen sich ihr bester Kumpel bisweilen auseinandersetzen muss, bloß weil er schwul ist. Nebendarsteller Sarah Lancashire („Yesterday“) dagegen stellt sich zu jeder Sekunde hinter ihren Sohn, bestärkt ihn und ist aufrichtig stolz auf seinen Lebensweg. Ganz im Gegensatz zu ihrem geschiedenen Ex-Mann und Jamies Vater (Ralph Ineson), der seinen Sohn nie akzeptiert hat und im Laufe des Films sogar komplett verstößt. Natürlich hat all das auch ein Stückweit etwas Schematisches. Es genügt ja schon der Blick auf die dramaturgische Ähnlichkeit zwischen „The Prom“ und „Everybody’s Talking About Jamie“, um festzustellen, dass der schon für die Bühnenvariante zuständige Autor Tom MacRae gewisse Stationen einer solchen Selbstfindungsgeschichte gefühlt bloß abarbeitet, einfach weil gewisse Dinge in diesem Kontext eben dazugehören. Vielleicht hat aber auch genau dieser Umstand einen augenöffnenden Zweck: Da beide Filme auf wahren Ereignissen beruhen, ist es schlicht erschreckend, dass sich Menschen wie Emma und Jamie auch im wahren Leben noch immer den gleichen Vorurteilen ausgesetzt sehen. Das war schon in „Love, Simon“ nicht anders.

Richard E. Grant ist als Dragqueen kaum mehr als er selbst zu erkennen.

Um nun wieder zu den Gemeinsamkeiten zwischen „Everybody’s Talking About Jamie“ und „The Prom“ zurückzukehren: Auch in Jamies Film helfen der Hauptfigur auf dem Weg ihrer Selbstfindung Personen auf die Sprünge, die einst selbst Jamies Weg gegangen sind und ihren Schützling vor ähnlichen Erfahrungen schützen wollen – und sich dafür gleichermaßen stark und selbstsicher nach außen präsentieren. In „The Prom“ war dafür eine Gruppe schillernder Broadway-Berühmtheiten verantwortlich, in „Everybody’s Talking About Jamie“ schlüpft nun Richard E. Grant („Can You Ever Forgive Me?“) in die Rolle des Mentors. Als Betreiber eines Kostümgeschäfts, der in seiner Freizeit selbst als Dragqueen auftritt (und in seiner Montur kaum mehr als Richard E. Grant zu erkennen ist!), führt dieser Jamie immer dann wieder auf seinen Pfad, wenn sich bei diesem Unsicherheit und Sorge breitmachen. Grants Spiel ist in diesen Momenten ansteckend mitreißend. In einer der besten Szenen des Films aber auch hochemotional: Eine musikalische Bildmontage, die prägende, geschichtliche Momente miteinander vereint, die den Weg hin zur Enttabuisierung der Homosexualität aufzeigen und dabei auch auf schmerzhafte Stationen wie etwas die AIDS-Phobie infolge des frühen Freddie-Mercury-Todes eingehen, lässt einen auch dann noch nicht los, wenn längst der Abspann über den Bildschirm rollt. Überhaupt hat Singer-Songwriter Dan Gillespie Sells, der zu seinen Einflüssen unter anderem Neil Young und eben auch Freddie Mercury zählt, ganze Arbeit geleistet, einen Soundtrack für „Everybody’s Talking About Jamie“ zu kreieren, dessen Nummern nach einmaligem Hören direkt ins Ohr gehen.

Trotzdem kommt ‚Everybody’s Talking About Jamie‘ längst nicht ohne ruhige, melancholische Töne aus. Denn so entschlossen Jamie auch seinem Traum, eine Dragqueen sein zu wollen, so sehr hadert er eben auch im stillen Kämmerlein mit seinem Entschluss.“

Hin und wieder droht „Everybody’s Talking About Jamie“ sein Publikum aber auch zu erschlagen. Jonathan Butterell setzt in den Musicalsequenzen auf rauschhafte Kulissen und knallige Farben, in denen vor lauter Gewusel mitunter der Fokus auf das Wesentliche in den Hintergrund rückt. Natürlich passen die Choreographien hervorragend zu Jamies Charakter. Gleichsam hätte der Film aber auch die ein oder andere aufbrausende Nummer weniger vertragen, um so überragende, stille Momente wie etwa die von Jamies Mutter vorgetragene Ballade „My Boy“ noch ein wenig mehr hervorstechen zu lassen. Trotzdem passt am Ende alles weitestgehend zusammen. Und „Everybody’s Talking About Jamie“ ist abseits seiner ernsten Töne ein fantastischer Feelgood-Film, der ein wenig Glanz und Glamour in diese kalte, graue Jahreszeit bringt.

Fazit: „Everybody’s Talking About Jamie“ ist nach „The Prom“ das zweite, starke Gute-Laune-Musical rund um das (zweite) Coming-Out einer hochsympathischen Hauptfigur, deren Selbstbewusstsein sich im bisweilen überfordernden Pomp der Inszenierung widerspiegelt und dem Publikum im Anschluss diverse Ohrwürmer bescheren dürfte.

„Everybody’s Talking About Jamie“ ist ab sofort bei Amazon Prime streambar.

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