Kind 44

Eigentlich wollte Regie-Legende Ridley Scott die Verfilmung des gleichnamigen Romans KIND 44 in die Hand nehmen. Doch der Macher von „Exodus“ und Co. schien sich der gigantischen Ausmaße dieses Unterfangens bewusst und gab das Zepter kurzerhand an Daniel Espinosa ab. Doch auch dieser scheint der in Russland äußerst zwiespältig aufgenommenen Buchvorlage nichts gewachsen – sein Film ist ein typischer Blender, der vorgibt, wesentlich mehr zu sein, als er eigentlich ist. Warum, das verrate ich in meiner Kritik.

Kind 44

Der Plot

Moskau 1953 – im Arbeiterparadies der Stalinzeit darf es offiziell keine Verbrechen geben und doch: Millionen leben in Angst … und der willkürliche Tod scheint nie weit weg zu sein. Als gefeierter Kriegsheld, der fest an die kommunistischen Ideale und die Zukunft seines Landes glaubt, konnte sich Geheimdienstoffizier Leo Demidow (Tom Hardy) eine Karriere aufbauen und seiner Familie einen bescheidenen Wohlstand sichern. Doch als die grausam zugerichtete Leiche des kleinen Sohnes eines Mitoffiziers aufgefunden wird und der offensichtliche Mord von Generalmajor Kuzmin (Vincent Cassel) zum Unfall erklärt wird, gerät Leos ganze Welt ins Wanken. Als ein weiterer Mord an einem Kind geschieht und Leo gegen den Befehl seiner Vorgesetzten eigene Nachforschungen aufnimmt, sieht er sich schnell ins provinzielle Exil degradiert und schwebt plötzlich mit seiner Familie in tödlicher Gefahr… Der ihm einzig verbleibende rettende Ausweg ist die Mordserie gegen alle Widerstände der Behörden und trotz des widerstrebenden Misstrauens von Milizanführer Nesterow (Gary Oldman) möglichst schnell aufzudecken. Doch schon bald findet sich Leo unerwartet während der Jagd nach dem Killer auf einer Reise in seine eigene dunkle Vergangenheit: Während sich die Intrigen seines ehrgeizigen Rivalen Wassili (Joel Kinnaman) wie eine Schlinge immer enger um seinen Hals legen, droht ihn ausgerechnet die Suche nach der Wahrheit immer weiter von seiner Frau und einzigen Verbündeten Raisa (Noomi Rapace) zu entfremden. Wem kann Leo nun noch vertrauen?

Kritik

Noch bevor das Kriegsdrama „Kind 44“ das Licht der internationalen Lichtspielhäuser erblickte, geriet das von „Safe House“-Regisseur Daniel Espinosa inszenierte und von Ridley Scott produzierte Mammutprojekt in die bevorzugt russischen Schlagzeilen. Dort wurde der Start der Romanverfilmung nämlich noch vor dem offiziellen Release-Datum gecancelt. Als offizieller Grund wurde angegeben, dass man sich bei der Inszenierung des hochkarätig besetzten Films nicht an historische Fakten halten würde, um Russland somit beabsichtigt in ein schlechtes Licht zu rücken. Romanautor Tom Rob Smith, der sich schon zu Zeiten der Buchveröffentlichung der russischen Presse stellen musste, verteidigte das fertige Projekt so, wie er auch schon seine eigenen Ergüsse einst vor den Journalisten begründete: Die Geschichte, in der ein Geheimdienstoffizier in Russland hinter die Serienmorde von insgesamt 44 Kindern zu kommen versucht, orientiert sich atmosphärisch zwar stark an den reellen Nachkriegs-Gegebenheiten der frühen Fünfzigerjahre, doch sein innerhalb dieser Dekade angesiedelter Kriminalfall ist vollkommen fiktiv. Mit viel Fingerspitzengefühl widmet sich Espinosa den von einer solchen Tat beeinflussten Seelen. Effekthascherei oder Sensationsgier auf Kosten realer Geschehnisse? Fehlanzeige! Doch es lässt sich definitiv nicht leugnen, dass neben den Charakteren der Story vor allem das Land Russland der Leidtragende ist. Denn die bedrückende Kulisse der Stalinzeit ist hier nicht bloßes Erzählmittel, sondern erwächst mit der Zeit zum Haupt-Antagonist.

Kind 44

Da Daniel Espinosa nicht daran gelegen ist,mit seiner neuesten Produktion einen Beitrag zum Feel-Good-Kino abzuliefern, muss die Nachwirkung der Leinwandereignisse auf andere Art und Weise herrühren. In erster Linie ist „Kind 44“ ein Schauspielerfilm. Tom Hardy („Mad Max: Fury Road“) und Noomi Rapace („The Drop – Bargeld“) agieren in ihren Hauptrollen auf höchstem Niveau und geben „Kind 44“ eine starke, wenn auch vom Schicksal gezeichnete Seele. Die Interaktion der sich gegenseitig anziehenden und abstoßenden Figuren ist gelungen und treibt die sich zum Großteil schleppende Story mehr voran, als die eigentliche Handlung selbst. Auch in den Nebenrollen finden sich diverse Hochkaräter Hollywoods, wenngleich die Besetzung dieser nicht immer vollkommen ersichtlich ist. Vincent Cassel („Black Swan“) agiert irgendwo zwischen Gut und Böse, lässt von seiner unnahbaren Ausstrahlung jedoch viel vermissen. Gary Oldman („The Dark Knight Rises“) kommt mit seiner Performance nicht über den Status „anwesend“ hinaus und Joel Kinnaman („Run All Night“) ist ebenfalls damit überfordert, mithilfe seiner Figur das Leinwandgeschehen zu akzentuieren. Was hingegen funktioniert, ist die Interaktion der Charaktere. Wer warum zu wem steht und wie sich die Beziehungen der Figuren entwickeln, ist ob einer genau beobachteten Spielweise der Akteure fein anzusehen. Ein Großteil der Filmatmosphäre rührt hingegen von der Atmosphäre der Dekade her.

Die Inszenierungsweise von Espinosa macht deutlich, dass sich der Filmemacher ganz bewusst von den Mechanismen eines adrenalingeladenen Suspensestückes loslöst, um sich vielmehr auf der Dramaebene zu entfalten. An sich würde gerade das Setting von „Kind 44“ dazu einladen, ein starkes Stück Kriegsdramakino aus den Gegebenheiten herauszuholen, doch mit den vielen Ansätzen und dem unfokussierten Drehbuch einschließlich der beliebigen Regieführung gestaltet sich das Endergebnis bisweilen träge. Das brodelnd-unheilvolle Flair von „Kind 44“ lässt sich zwar nicht leugnen und erweist sich rückwirkend auch als wesentlich nachhaltiger, denn der thrillertypisch oberflächliche Nervenkitzel. Doch auf der Hälfte des Films bleibt das sukzessive Anziehen der Spannungsschreibe plötzlich aus. Daniel Espinosa reißt so viele unterschiedliche Handlungsfäden an, dass er diesen irgendwann nicht mehr Herr wird. Obwohl im Mittelpunkt die titelgebenden Kindsmorde stehen, verschwendet das Drehbuch viel Zeit für die Hintergründe sämtlicher Figuren und das Formen der äußeren Umstände. Das ist an sich nicht falsch, immerhin trägt gerade das doch einen Großteil zu beißenden Stimmung bei. Doch die Charaktere bleiben dem Publikum ob ihrer unnahbaren Zeichnung seltsam fern und der eigentliche Plotfokus gerät über die detaillierte Auseinandersetzung mit der Stalinzeit immer wieder zu weit in den Hintergrund. Die ausladende Spielzeit von rund zweieinhalb Stunden lässt „Kind 44“ mancherorts zerfahren wirken. Eine Straffung um eine halbe Stunde scheint hier der Schlüssel zum Erfolg, denn so hätten sich alle Beteiligten auf das essentiell Wichtige konzentrieren und den interessanten roten Faden deutlicher betonen können.

Gary Oldman

Technisch fischt „Kind 44“ in hollywoodtypischem Dramagewässer. Kameramann Oliver Wood („Anchorman – Die Legende kehrt zurück“) beschränkt sich auf dunkle, satte Farben und schwache Kontraste, um die Schauspieler mit der Umgebung verschmelzen zu lassen. Die authentisch anmutenden Kulissen können sich sehen lassen, doch Wood weiß den Szenerien selten einen echten Alleinstellungswert beizumessen. Auch der Score von Jon Ekstrand („Agent Hamilton 2“) ist beliebig und suhlt sich in vermeintlich anspruchsvollem Betroffenheitskitsch, der die Kernaussage von „Kind 44“ perfekt zusammenfasst: Wie schon dem Roman geht es auch Daniel Espinosa darum, die Eindrücke der damaligen Zeit mit den sich nach und nach wandelnden Moralvorstellungen der Menschen zu erfassen. Leider hat sich der Regisseur jedoch dafür entschieden, die Charaktere und ihre Facetten lediglich anzureißen. Das Handeln der Figuren wird nicht hinterfragt und folglich bleiben jene dem Zuschauer egal. Was bleibt, ist das fassungslose Staunen über die osteuropäische Vergangenheit. Und letztlich lässt sich an diesem Aspekt zudem erkennen, weshalb der Film in Russland für Entrüstung sorgte: Die fiktive Geschichte legt zu wenig Wert auf ihre frei erfundenen Figuren und verlässt sich allein auf ihre desolate Atmosphäre, der zu keinem Zeitpunkt auch nur eine zusätzliche Dimension abgerungen wird. Somit dient das politische System der stalinistischen Ära dem Film als simpel gezeichneter Antagonist. Die Existenz der Schrecken jener Zeit lässt sich zwar nicht leugnen, jedoch ist die Monotonie derer Schilderung aus filmischer Sicht wenig reizvoll – und dass sich russische Politiker so einen niederschmitternden Blick auf ihr Land verbitten, verwundert im aktuellen politischen Klima leider auch nicht.

Fazit: „Kind 44“ verkauft sich als hochanspruchsvoller Thriller für Zuschauer, die Spannung abseits üblicher Hollywoodkost suchen. Doch die mitreißende Atmosphäre dient nur dem einfältigen Schein, denn Daniel Espinosa interessiert sich nicht für seine Figuren, sodass sich „Kind 44“ nach und nach äußerster Beliebigkeit hingibt.

„Kind 44“ ist ab dem 4. Juni in den deutschen Kinos zu sehen.

Ein Kommentar

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