Nomadland

Mit ihrer melancholischen Sinnsuche NOMADLAND, in der sie einer selbsternannten, modernen Nomadin auf ihrem Leben zwischen Zivilisation und Einsamkeit folgt, gehört Regisseurin Chloé Zhao zu den großen Favoritinnen in der diesjährigen Award-Season. Wie gerechtfertigt dieser Frontrunner-Status ist, das verraten wir in unserer Kritik.

OT: Nomadland (USA/DE 2020)

Der Plot

Wie viele ihrer Landsleute hat auch Fern (Frances McDormand) nach der großen Rezession im Jahr 2008 alles verloren was ihr lieb war. Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch einer Industriestadt im ländlichen Nevada packt sie ihre Sachen und bricht in ihrem Van auf, ein Leben außerhalb der konventionellen Regeln als moderne Nomadin zu erkunden. Dabei macht sie die Bekanntschaft mit vielen Gleichgesinnten, muss aber auch feststellen, dass das auf den ersten Blick so verwegene Leben auch seine Tücken mit sich bringt. Doch Fern ist fest davon überzeugt, der Zivilisation ein für alle Mal den Rücken zu kehren…

Kritik

Die Regisseurin Chloé Zhao hat sich innerhalb weniger Jahre zu einer der aufregendsten Filmemacherinnen ihrer Generation gemausert. Nach „Songs my Brother taught Me“ und „The Rider“ noch mit einem Geheimtipp-Status versehen, erarbeitete sich die gebürtige Chinesin 2019 den Regieposten für den Marvel-Blockbuster „The Eternals“, der nach aktuellem Stand noch in diesem Jahr in die Kinos kommen soll. Bevor wir erfahren, ob die Indie-Filmerin ihren markanten Inszenierungsstil auch in einer Multimillionen-Studioproduktion unter Beweis stellen durfte, oder sich allzu sehr den Vorgaben des Disney-Konzerns beugen musste, stellt sie in ihrem dritten Langspielfilm „Nomadland“ noch einmal eindrucksvoll ihre herausragende Beobachtungsgabe unter Beweis. Ihr Film ist das sensible Porträt der modernen Nomadin Fern. Einer Frau, die sich als Reaktion auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch ihres Heimatortes für ein Leben ohne festen Wohnsitz entschied und nun in einem Van von Bundesstaat zu Bundesstaat respektive von Job zu Job reist. Die Inhaltsbeschreibung könnte die Tonalität von „Nomadland“ kaum besser einleiten: Der Traum vom selbstbestimmten Leben fernab der Zivilisation hat etwas Verwegenes, so (fast) frei von gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Verpflichtungen. Trotzdem ist Ferns Entscheidung ja nicht aus völlig freien Stücken entstanden, sondern eine Folge dessen, dass das ihr Halt gebende System schlicht nicht mehr existiert – genauso wie die Postleitzahl ihres Heimatortes. Ganz schön melancholisch.

Fern (Frances McDormand) und Dave (David Strathairn) genießen das Leben in der Einöde.

„Nomadland“ basiert lose auf Jessica Bruders Sachbuch-Bestseller „Nomadland: Surviving America in the Twenty-First Century“, in dem die Journalistin das Leben moderner Nomadinnen und Nomadin als Reaktion auf den wirtschaftlichen Kollaps im US-amerikanischen Hinterland schildert. Die Männer und Frauen, die sich daraufhin für ein nicht-sesshaftes Lebensmodell entschieden, reisen als sogenannte Arbeitsnomad:innen von Ort zu Ort und bleiben immer dort ein wenig länger, wo es gerade Arbeit gibt. Im Film tritt Fern etwa Kurzarbeitsstellen in einer Burgerküche sowie als Reinigungsfrau auf einem Campingplatz an. So unvorstellbar eine solche Lebensweise auf den ersten Blick klingen mag, so selbstverständlich (und eben alles andere als exotisch) bereitet sie Chloé Zhao in ihrem Film auf. Dabei kommt es der Regisseurin zugute, dass sie bereits in „The Rider“ auf ähnlichem Terrain unterwegs war. Auch in ihrem vielfach preisgekrönten Cowboy-Drama von 2017 changiert Zhao gekonnt zwischen fiktionalem Drama und dokumentarischer Aufbereitung eines wahren Schicksals, indem sie die an den als Vorlage dienenden, echten Ereignissen beteiligten Männern und Frauen anbot, sich in „The Rider“ selbst zu spielen. Der Film unterliegt zwar einer Spielfilm-Dramaturgie, da hier jedoch keine Schauspielerinnen und Schauspieler Rollen verkörpern, sondern normale Menschen nachspielen, was ihnen tatsächlich widerfahren ist, besitzt „The Rider“ einen durch und durch dokumentarischen Charme.

„So unvorstellbar eine solche Lebensweise auf den ersten Blick klingen mag, so selbstverständlich (und eben alles andere als exotisch) bereitet sie Chloé Zhao in ihrem Film auf. Dabei kommt es der Regisseurin sehr zugute, dass sie bereits in „The Rider“ auf ähnlichem Terrain unterwegs war.“

Aus demselben Ansatz zieht Chloé Zhao auch dieses Mal den Reiz aus ihrem Film, denn auch in „Nomadland“ agieren neben Hauptdarstellerin Frances McDormand („Three Billboards outside Ebbing, Missouri“) vorwiegend Laiendarsteller:innen, die sich selbst verkörpern. Dass im Zentrum des Geschehens eine solch herausragende Charaktermimin wie Frances McDormand steht, hätte unter weniger fähiger Regiehand auch böse daneben gehen können, schließlich besteht die Gefahr, dass die darstellerisch zwangsläufig wesentlich erfahrenere Aktrice sämtliche Blicke auf sich zieht. Denn obwohl sich „Nomadland“ vor allem an Ferns Fersen heftet, gibt doch der Filmtitel vor, worum es eigentlich geht: das Nomadenleben selbst. Zwar lebte Frances McDormand zu Vorbereitungszwecken auf ihre Rolle selbst fünf Monate in einem Van und bereiste dabei sieben verschiedene Bundesstaaten, doch David, Linda, Swankie und Co. sind Nomaden und dadurch mindestens genauso wichtig für die authentische Atmosphäre des Films. Schlussendlich agieren hier so ziemlich alle auf Augenhöhe und bilden eine Nomad:innengemeinschaft, der man vor allem deshalb gern zusieht, weil sich jede/r von ihnen auf ganz individuelle Weise mit dieser Lebensweise arrangiert hat. Während die einen sich mittlerweile kaum mehr vorstellen können, ein Teil der Zivilisation zu sein, würden andere ihr Leben in Van und Wohnwagen sofort gegen ein Dach über dem Kopf tauschen.

Kameramann Joshua James Richard sorgt für die stimmungsvollen Bilder in „Nomadland“.

Das Abwägen der Vor- und Nachteile des Nomadenlebens geschieht in „Nomadland“ jedoch nie über plakative Diskussionen mit Pro-Contra-Charakter, sondern kristallisiert sich aus den Erzählungen der Männer und Frauen heraus, die mal verträumt, mal euphorisch, ein anderes Mal jedoch auch niederschmetternd-realistisch ausfallen.  Es kann sich daher lohnen, „Nomadland“ mehr als einmal anzuschauen, um die tonalen Schwankungen in den Stimmen der Einzelnen, ihr Verhalten, ihre Gestik und Mimik ganz genau zu studieren – manchmal ist es bloß ein beiläufiger Nebensatz, der das Wesen einer Figur bis auf den Knochen freilegt. Doch auch wenn das ein oder andere hier veranschaulichte Schicksal mitunter ziemlich zermürbend sein kann – etwa, wenn ein Vater schildert, dass ihn der Tod seines Sohnes indirekt ins Nomadenleben geführt hat – ist „Nomadland“ nie ein pessimistischer Film. Stattdessen nutzt Chloé Zhao die positive „Wir machen das Beste aus unserer Situation“-Gedanken der von ihr porträtierten Nomad:innen als tonalen Antrieb für ihren Film. Das bewahrt sie zu gleichen Teilen davor, romantisch verklärend als auch zu analytisch zu werden. Die Missstände, die Fern in dieses Leben geführt haben, werden zwar nicht beschönigt oder gar unter den Teppich gekehrt, aber es ist nicht Zhaos Anspruch, so etwas wie Lösungen zu finden. Stattdessen war es von Anfang an ihr Bestreben, sich einem Teil der US-amerikanischen Gesellschaft zu widmen, dem sich bislang kaum ein/e Filmschaffende/r angenommen hat.

„Chloé Zhao nutzt die positive „Wir machen das Beste aus unserer Situation“-Gedanken der von ihr porträtierten Nomad:innen als tonalen Antrieb für ihren Film.“

Chloé Zhaos Stammkameramann Joshua James Richards („The Rider“) kleidet „Nomadland“ in eindrucksvoll-unverfälschte Bilder, für die er nur in Ausnahmefällen künstliche Lichtquellen nutzte. Umso intensiver wirken die Farbverläufe am Himmel und die schwelgerischen Landschaftspanoramen. Doch nicht nur die offensichtlichen Bildgewalten entwickeln hier eine schier atemberaubende Wucht. Wenn Richards‘ Kamera Fern in einer minutenlangen Einstellung dabei begleitet, wie diese einmal quer über den Campingplatz ihrer Nomadengemeinschaft spaziert, jede ihr über den Weg laufende Person freundlich grüßt und sich für jeden Bewohner und jede Bewohnerin mitsamt ihres Vans ein paar Sekunden der Aufmerksamkeit nimmt, bekommt man auch ganz ohne verbale Erklärungen ein Gespür für die Faszination dieses im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlosen Lebens.

Fazit: „Nomadland“ hätte sehr leicht ein Problemfilm werden können. Doch Chloé Zhao arbeitet in ihrem modernen Nomad:innenporträt die Faszination für das nicht-sesshafte Leben heraus, ist dabei weder romantisch verklärend noch analytisch nüchtern, sondern im besten Sinne lebensecht.

„Nomadland“ ist ab dem 1. Juli 2021 in den deutschen Kinos zu sehen sein.

Ein Kommentar

  • Maik Schneider

    Eine schreckliche Kritik zu einem überbewertetem Film. Der Film romantisiert dermaßen mit seinen Protagonisten, als wäre jeder (und zwar wirklich jeder) ein geläuterter Sünder, der nur noch in Mantras faselnd, die dortige Zwischenwelt erklärt. Ich bin relativ unvoreingenommen die Geschichte angegangen, außer das Frances McDormand m.E. nach ein gutes Händchen für Filmrollen hat. US-Kitsch par excellence – ich war fast so peinlich berührt wie in Million Dollar Baby – konstruierte Kulissen, konstruierte Charaktere, konstruierter American-Fucking-Life-Style, der gar nicht so schlecht sein mag, mit dem Herz am rechten Fleck, weil ja alle irgendwie sich nicht das Hirn weg gesoffen haben und Todesromantiker sind, wie Hugh Grant.
    Aber das brauch die USA – ab und an mal einen Oscar für einen selbstverklärenden Film.

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