Enfant Terrible

Eine außergewöhnliche Persönlichkeit wie Regielegende Rainer Werner Fassbinder bedarf ein außergewöhnliches Porträt – genau so eines, wie es der nicht minder umstrittene Filmemacher Oskar Roehler mit seinem ENFANT TERRIBLE vorlegt. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.

OT: Enfant Terrible (OT 2020)

Der Plot

Als der 22-jährige Rainer Werner Fassbinder (Oliver Masucci) 1967 die Bühne des Antiteaters in München stürmt und kurzerhand die Inszenierung an sich reißt, ahnt niemand der Anwesenden, dass dieser dreiste Typ einmal der bedeutendste Filmemacher Deutschlands werden wird. Schnell schart der einnehmende wie fordernde Mann zahlreiche Schauspielerinnen, Selbstdarsteller und Liebhaber um sich. Er dreht einen Film nach dem nächsten, die auf den Festivals in Berlin und Cannes für Furore sorgen. Der junge Regisseur polarisiert: beruflich wie privat. Aber die Arbeitswut, die körperliche Selbstausbeutung aller Beteiligten und der ungebremste Drogenkonsum fordern bald ihre ersten Opfer.

Kritik

Oskar Roehlers „Enfant Terrible“ sollte in diesem Jahr ursprünglich an der Croisette gezeigt werden – und hätte Hauptdarsteller Oliver Masucci („Er ist wieder da“), glaubt man Brancheninsidern, mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit die Goldene Palme als bester Hauptdarsteller eingebracht. Da das prestigeträchtige Filmfestival von Cannes allerdings wie so viele andere Veranstaltungen im Jahr 2020 aufgrund der Corona-Pandemie ausfallen musste, muss Roehler auf die Zusatz-PR, die so eine Präsentation in Cannes (und im besten Fall auch noch ein Preisgewinn) mit sich bringt, verzichten. Immerhin beim Hamburger Filmfest fungierte „Enfant Terrible“ jetzt als Eröffnungsfilm – nicht ganz so viel Prestige wie in Frankreich, aber besser als nichts. Und doch ist es einfach wahnsinnig schade, dass Masuccis herausragende Performance als Regie-Psycho Rainer Werner Fassbinder dadurch deutlich weniger Aufmerksamkeit erhält, als sie vermutlich durch ihre Cannes-Präsentation erfahren hätte. Denn einen Film wie „Enfant Terrible“ einem Publikum schmackhaft zu machen, das nicht von sich aus Interesse für die darin porträtierte Person aufbringt, ist ja an sich schon schwer genug. Und dann geht Roehler („HERRliche Zeiten“) mit seiner bühnenhaft-schlichten, bruchstückhaften Inszenierung auch noch einen Schritt weiter – und sagt sich in Gänze von den Sehgewohnheiten eines Gelegenheitspublikums los. Wie schon die Filme von Fassbinder selbst ist eben auch „Enfant Terrible“ längst nicht für jeden was. Und doch sollte ihn jeder sehen, da man sonst einen der besten deutschen Filme des Jahres versäumt.

Rainer Werner Fassbinder (Oliver Masucci) schart seine Freunde (Katja Riemann, Felix Hellmann, Désirée Nick, Frida Lovisa Hamann) um sich.

„Enfant Terrible“ ist gleich in dreierlei Hinsicht der optimale Titel für einen – nein, insbesondere diesen! – Film über Rainer Werner Fassbinder. Einmal beschreibt er natürlich die hier porträtierte Person selbst. Der 1982 in München verstorbene Regievirtuose gilt zwar bis heute als einer der ganz Großen seiner Zunft und hat mit Werken wie „Welt am Draht“, „Angst essen Seele auf“ und der 14-teiligen TV-Serie „Berlin Alexanderplatz“ (Fernseh-)Film- und -Seriengeschichte geschrieben. Gleichwohl geriet er Zeit seines Lebens immer wieder ins Zentrum von Kontroversen. Mal, weil er mit seinen Werken – insbesondere am Theater – antisemitische Klischees befeuerte, dann wiederum weil sein Umgang mit Schauspielerinnen und Schauspielern stets von einer Form der Leidenschaft geprägt war, die sich je nach Sichtweise leicht als Aggression oder Manie deuten ließ. In „Enfant Terrible“ zeichnet Drehbuchautor Klaus Richter („Der Trafikant“) Fassbinder als eine Person des absoluten Widerspruchs; als eine, mit der nicht jeder klarkommen kann und will, aber deren Faszination man sich partout nicht entziehen kann. Es ist ein Drahtseilakt, die bisweilen gleichermaßen physisch wie psychisch brutalen Ausraster Fassbinders nicht als ausschließlich abstoßende Manierismen zu porträtieren und sie gleichsam nicht mit einem Schulterzucken der Marke „Tja, so war er halt!“ abzutun. „Enfant Terrible“ zeigt Fassbinder als im Privaten und Zwischenmenschlichen durch und durch streitbare Persönlichkeit, beschönigt seine ausladende Egotour zu keinem Zeitpunkt, erklärt sie aber auch gleichermaßen zum Eckpfeiler seiner Kreativität. Rainer Werner Fassbinder ist in seinem eigenen Biopic keine heroische Ikone, sondern ein Grenzgänger zwischen Genie und Wahnsinn.

„In „Enfant Terrible“ zeichnet Drehbuchautor Klaus Richter Fassbinder als eine Person des absoluten Widerspruchs; als eine, mit der nicht jeder klarkommen kann und will, aber deren Faszination man sich partout nicht entziehen kann.“

Ein Enfant Terrible eben, wie es der Filmtitel ankündigt – und genau so eines ist Oliver Massuci auch. Spätestens seit seinem Leinwanddurchbruch in der Bestsellerverfilmung „Er ist wieder da“ wissen wir, zu was für wahnwitzigen Performances der eigentlich von der Theaterbühne stammende Mime fähig ist. Er verkörperte Adolf Hitler mit einnehmend-impulsiver Intensität, sein Ulrich Nielsen gehört zu den stärksten Figuren im „Dark“-Universum und darüber hinaus überzeugt er in Filmen wie „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ als warmherziger Familienvater. In der Figur des Rainer Werner Fassbinder hat Masucci nun seinen Meister gefunden. Zwar ist dieser zu Beginn von „Enfant Terrible“ gerade einmal 22 Jahre alt (und starb ja bereits mit 36 Jahren an einer Überdosis aus Alkohol, Kokain und Schlaftabletten), doch mit dem zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 28 Jahre älteren (!) Schauspieler hätte es Roehler, der mit Masucci bereits für „HERRliche Zeiten“ zusammenarbeitete, nicht besser treffen können. Im Laufe der satten 134 Filmminuten wird Masucci in einer bravourösen Tour-de-Force zum ebenjenem Enfant Terrible, das säuft, keift, aber in vielen Momenten auch ungemein zärtlich ist. Eine Darbietung wie diese hätte in den falschen Händen rasch ins Karikatureske abdriften können; und hin und wieder suchen Roehler und Masucci sichtbar die Nähe dorthin. Doch sie überschreiten nie die Grenze – Rainer Werner Fassbinder ist trotz seiner fast klischeehaften Manierismen eines wahnsinnigen Perfektionisten, Zynikers und Künstlers stets ein Mensch aus Fleisch und Blut. Das muss er auch sein, schließlich ist es gerade bei jemandem wie ihm wichtig, Schwächen und Fehler in einem Biopic nicht hintenüberfallen zu lassen. Selbst eine augenscheinlich so vollkommen unerreichbare Figur wie Fassbinder wird dadurch nahbar.

Im Nachtclub.

Neben Rainer Werner Fassbinder und Oliver Masucci als ebendieser trifft die Bezeichnung „Enfant Terrible“ zu guter Letzt auch auf den Film selbst zu; und dieser wiederum konnte nur das werden, was er ist, weil ihn jemand wie Oskar Roehler inszeniert hat. Jemand, der selbst schon mit dem ein oder anderen Skandal in Berührung kam und weiß, wie er eine Persönlichkeit wie Rainer Werner Fassbinder zu nehmen hat. Für „Enfant Terrible“ wählt Roehler eine gänzlich andere Struktur wie man es aus klassischen Biopics gewöhnt ist. Wenngleich man dadurch nicht immer ganz die Übersicht über den exakten Zeitablauf behält, ist es durchaus reizvoll, mitanzusehen, welchen Lebensereignissen Fassbinders Roehler hier seine Bühne – übrigens wieder im wahrsten Sinne des Wortes – bietet. Ausufernde Gespräche mit Weggefährten (unter anderem verkörpert von Katja Riemann, Alexander Scheer, Jochen Schropp, Désirée Nick und noch unzähligen weiteren Persönlichkeiten der deutschen Entertainmentszene), derbe Einblicke in die hitzigen Dreharbeiten unterschiedlicher Filmsets, ein gemeinsames Dinner nach einer rauschenden Filmgala – „Enfant Terrible“ erzählt in Kurzfilmmanier einzelne Lebensereignisse aus Fassbinders leben nach und lässt (fast) jede davon ekstatisch ausklingen, um darauf in die nächste Episode überzugehen. Nicht jede ist gleich gut; einige sind ein wenig zu lang, andere erschöpfen sich in Keiferei und Exzentrik, andere berühren in ihrer Sanftheit und Intimität – „Enfant Terrible“ ist ein Kaleidoskop menschlichen Wahnsinns.

„Rainer Werner Fassbinder ist trotz seiner fast klischeehaften Manierismen eines wahnsinnigen Perfektionisten, Zynikers und Künstlers stets ein Mensch aus Fleisch und Blut.“

Die Idee, den gesamten Film in einem zweidimensionalen Theatersetting zu inszenieren und damit die Möglichkeit aufrechtzuerhalten, dass Fassbinders Leben selbst ebenfalls nur eine Inszenierung sein könnte (im Grunde wartet man die ganze Zeit darauf, Oskar Roehler in der Interaktion mit seinem Ensemble zu sehen). Fassbinder sagt es im Film sogar selbst einmal: „Alles ist Film!“ – und bringt es damit auf den Punkt. Denn am Ende sind wir alle nur Teil einer großen Inszenierung.

Fazit: Mit „Enfant Terrible“ gelingt Oskar Roehler ein Biopic über Rainer Werner Fassbinder, das mit einer außergewöhnlichen Inszenierung besticht und in dem Oliver Masucci als ebenjene Regielegende brilliert.

„Enfant Terrible“ ist ab dem 1. Oktober in den deutschen Kinos zu sehen.

Und was sagst Du dazu?