Stillstehen

Mit STILLSTEHEN ist Regisseurin Elisa Mishto ein Film rund um eine kantige Hauptfigur gelungen, die es ihren Zuschauern nicht immer einfach macht. Doch ihr auf ihrer steinigen Reise zu begleiten, lohnt sich. Am Ende versteht man auch ihr noch so vermeintlich sinnloses Verhalten besser. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.

Der Plot

Julie (Natalia Belitski) lebt nur nach ihrem eigenen Grundsatz: Nichts tun. Und mit Nichts meint sie Nichts: Sie studiert nicht, arbeitet nicht, sie hat keine Freunde. Sie will einfach nur stillstehen. Um sich dem „normalen“ Leben zu entziehen, lässt sich Julie regelmäßig in ihre psychiatrische Wunschklinik einweisen. Hier kennt man sie, hier weiß man, wie sie tickt. Dass Julie ohne Gummihandschuhe nicht aus dem Haus geht, oder notfalls auch mal ein Lama aus dem Zoo auf einen Rave entführt, wundert niemanden mehr. Man lässt sie in Ruhe. Das ändert sich schlagartig, als sie erfährt, dass ihr Erbe aufgebraucht ist und Agnes (Luisa-Céline Gaffron) in ihr Leben tritt: eine vermeintlich naive Krankenschwester und ihre neue Betreuerin, die stets bemüht ist, alles richtig zu machen. Julie erkennt schnell, dass ihr bisheriges perfektes Nichtstun auf der Kippe steht. Sie fasst einen folgenschweren Entschluss: Um weiterhin stillstehen zu können, muss sie sich bewegen.

Kritik

Psychisch angeknackste Personen sind für Autoren und Regisseure ein gern genommener Aufhänger, um die Welt einmal aus einem ganz neuen Blickwinkel zu betrachten. Doch allzu häufig werden da lieber die Augen vor der Realität verschlossen. So ein Feelgood-Erlebnis ist ja auch für die Betroffenen selbst sicher viel ermutigender als irgendein niederschmetternder Problemfilm. Am Ende sind im Idealfall alle Probleme beseitigt; vermeintliche „Normalität“ wird zum Happy End. Der Grund dafür ist aber sicher nicht nur die Scheu vor dem Unbekannten, sondern auch, dass es Depressive, Personen mit Borderline-Syndrom, Zwängen und so weiter auch ihrem Umfeld nie leicht machen, an sie heranzukommen. Und so wurde vor einigen Jahren die Depressionsstudie „Mängelexemplar“ von der damaligen Regiedebütantin Laura Lackmann zum Teil harsch verrissen, weil die Hauptfigur ja so verdammt nervig sei. Dabei gehörte die emotionale Sprunghaftigkeit ganz einfach zu ihrem sehr realistisch veranschaulichten Krankheitsbild. Regisseurin und Autorin Elisa Mishto wagt mit ihrem Kinofilmdebüt „Stillstehen“ nun einen ähnlichen Anlauf, allerdings ohne klar auszuformulieren, mit welcher psychischen Störung ihre Hauptfigur Julie belastet ist. Allzu genaues Wissen darum benötigt man als Zuschauer aber auch gar nicht, um dem Weg dieser komplexen Frau interessiert zu folgen. Dafür geht Hauptdarstellerin Natalia Belitski („In Zeiten des abnehmenden Lichts“) viel zu sehr in ihrer Rolle auf und macht auch allzu sprunghafte Verhaltensweisen zu jedem Zeitpunkt vollkommen greifbar.

Die unerfahrene Krankenschwester Agnes (Luisa-Céline Gaffron) soll Julies neue Betreuerin werden.

Wenn man es ganz genau nimmt, ist das titelgebende Stillstehen eigentlich eine falsche Fährte. Denn auch, wenn sich Protagonistin Julie selbst vorgenommen hat, ihr Leben an sich vorbeiziehen zu lassen, keinem Beruf nachzugehen und als Höchstes ihrer Gefühle maximal wahllos Autos oder Häuser anzuzünden, dann spricht man hier sicherlich nicht von einer völlig tatenfreien Person. Es ist vielmehr so, dass sich die von Natalia Belitski wunderbar ambivalent und einfühlsam verkörperte Julie an keinerlei Auflagen hält; Es ist nicht sie, die stillsteht, sondern alles um sie herum – einfach, weil Julie nichts davon so richtig wahrnimmt. Stattdessen lebt sie in ihrer eigenen Welt und sieht darin auch keinerlei Probleme. Solange darunter zu verstehen ist, dass sie zu jeder Tages- und Nachtzeit Gummihandschuhe trägt, so redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist und nach Lust und Laune mit fremden Typen schläft, ist dagegen auch nichts einzuwenden. Doch „Stillstehen“ ist kein Film über gewöhnliche Berliner Hipster, sondern ein bisweilen arg niederschmetterndes Porträt einer psychisch Kranken, deren Drang zur Brandstiftung nicht ihr größtes Problem ist. Gleichwohl lassen sich ihre verschiedenen Spleens und Eigenheiten kaum unter einem Oberbegriff zusammenfassen. Autos anzünden, keinen Fokus finden, sich selbst verletzen – Julie tut alles und nichts und das bisweilen sogar sehr gezielt mit Blick darauf, einfach nur wieder in die Psychiatrie eingeliefert zu werden, weil sie hier immerhin halbwegs mit den Menschen und Abläufen vertraut ist.

Wie im eingangs für einen Vergleich herangezogenen „Mängelexemplar“ ist dieses unberechenbare Verhalten Julies auch eine Herausforderung an das Publikum. Und damit meinen wir nicht, dass natürlich auch ein Reiz daraus entsteht, dass hier zu jeder Zeit scheinbar alles passieren kann. Stattdessen ist Julie eine sehr widersprüchliche Figur, die mal wie ein kleines Kind wirkt, sehr anhänglich ist, nur um ihren näheren Bekanntenkreis im nächsten Moment vor den Kopf zu stoßen und gegen sämtliche ihre auferlegten Regeln verstößt. Doch nur mithilfe dieser unnahbaren Charakterzeichnung gelingt Elisa Mishto auch der so notwendige, authentische Anstrich, der das Publikum erst so richtig in das Leben einer psychisch Kranken hineintreibt. Mishto stellt den Zuschauer sogar selbst vor die Wahl, Julie zu mögen oder nicht, indem sie nicht ständig verzweifelt um ihre Gunst buhlt. Kitsch, Gefühlsduselei und die Vorgabe exakter Emotionen sucht man in „Stillstehen“ vergebens. Und dennoch ruht sie sich nicht auf den Ecken und Kanten ihrer Figur aus. Nur so betrachtet sie ihren Charakter angemessen allumfassend und auch den Umgang mit psychisch labilen Personen. Erst recht, wenn in der zweiten Hälfte die Figur der Agnes aufs Parkett tritt.

Ein kurzer Auftritt von Katharina Schüttler wird zu einem von vielen Highlights in Elisa Mishtos Film „Stillstehen“.

Wenngleich sich Mishto ein wenig darin verhebt, ein auf beiden Seiten ausgewogenes Psychogramm zu erzählen (auch zu Agnes gibt es immer wieder arg beklemmende Hintergrundinformationen; etwa dass sie ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrer eigenen Tochter pflegt – hier kratzt die Inszenatorin allerdings nur an der Oberfläche), bleibt Julie immer im Fokus. Und doch sind es vor allem die intimen Momente zwischen den beiden Frauen, indem sich beide gegenseitig in ihren Weltsichten beeinflussen und so lernen, ihre Umgebung mit anderen Augen wahrzunehmen. Das klingt ein wenig nach Klischee, wird allerdings immer wieder von stark geschriebenen Einzelszenen durchbrochen. Ein kurzer Auftritt von Katharina Schüttler („Die Hochzeit“) sei hierfür als bestes Beispiel genannt. Auch die regelmäßig stattfindenden, kühlen Gespräche zwischen Julie und ihren Therapeuten holen „Stillstehen“ immer dann wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn sich abzeichnet, dass der Film hier und da in die Gefälligkeit abdriften könnte. Was allerdings nicht bedeutet, dass es dem Film nicht an Humor mangeln würde- Nur streut Elisa Mishto diesen nur derart subtil ein, dass man gar nicht auf die Idee käme, im nächsten Moment laut loszuprusten, sondern die vergangene Szene lieber noch einmal überdenkt, um dann zu überlegen, ob man doch einmal kurz schmunzelt, oder der vergangene Moment eigentlich noch viel, viel tragischer war.

Fazit: Ein ambivalentes Psychogramm einer ambivalenten Figur: So und nicht anders gelingt ein allumfassender Blick auf kaum greifbare, psychische Erkrankungen. Und Natalia Belitski ist eine absolute Entdeckung!

„Stillstehen“ ist ab dem 17. Juni in den deutschen Kinos zu sehen.

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