Goliath96

Eine Mutter versucht verzweifelt, einen Draht zu ihrem Sohn zu finden, der sich seit zwei Jahren in seinem Zimmer verkriecht. Weshalb sich GOLIATH96 anzuschauen lohnt, verraten wir in unserer Kritik.

Der Plot

Kristin Dibelius (Katja Riemann) und ihr Sohn David (Nils Rovira-Munroz) haben sich seit zwei Jahren nicht mehr gesehen und gesprochen. Und das, obwohl sie gemeinsam in einer Drei-Zimmer-Wohnung leben. Denn David lehnt jegliche Kommunikation mit seiner Mutter ab. Er geht ihr aus dem Weg, er verbarrikadiert sich fast durchwegs in seinem Zimmer, verlässt es nur gelegentlich, um in Abwesenheit seiner Mutter ins Bad zu gehen oder Tiefkühlpizzen in den Ofen zu schieben, sobald sie schläft. Kristin ist völlig verzweifelt und versteht nicht, weshalb sich ihr Sohn derart von ihr abgewandt hat. Versuche seiner Mutter, ein Gespräch durch die geschlossene Tür zu führen, ignoriert David. Ihrem Umfeld verheimlicht die verzweifelte Mutter das alles. Als Kristin eines Tages ihren Job verliert, nimmt sie die Situation zuhause mehr denn je mit, weshalb sie Hilfe von außen sucht. So erfährt sie von einer Bekannten ihres Sohnes, dass David in Internetforen aktiv ist.  Also meldet sie sich im Drachenbau-Forum an, in dem er als „Goliath96“ agiert. Und trotz leichter Anlaufschwierigkeiten klappt es: „cinderella97“ kommt mit „Goliath96“ ins Gespräch. Doch je vertrauter die Gespräche werden, desto weniger hat Kristin die Situation unter Kontrolle …

Kritik

Das Phänomen Hikikomori ist zwar keineswegs neu, in Japan wurde es 1998 erstmals beschrieben, aber es nimmt stetig Fahrt auf. In einer im März 2019 getätigten Studie war davon die Sprache, dass über eine Millionen Menschen allein in Japan Hikikomori zuzuschreiben sind – dem gezielten Rückzug aus der Gesellschaft, dem Verbarrikadieren in den elterlichen vier Wänden. Auch in Deutschland existieren Kinderzimmer-Einsiedler – und bekommen mit „Goliath96“ bereits das zweite Kinodrama innerhalb rund eines Jahres gewidmet. Wie auch Isabel Prahls „1.000 Arten, Regen zu beschreiben“ wird „Goliath96“ in ruhigen, schneidenden Kameraeinstellungen und reduzierten Dialogen erzählt. Und wie auch Prahls Film nutzt Marcus Richardts Drama ein Wettermotiv, das dem Abschotten entgegengestellt wird. Hier enden aber bereits die Parallelen, da beide Filme unterschiedliche Schwerpunkte setzen und sich nach der anfänglichen, gemächlichen Schilderung der Familiensituation in andere Richtungen begeben.

Kristin erinnert sich an unbeschwerte Kindheitstage mit ihrem Sohn…

Handelt „1.000 Arten, Regen zu beschreiben“ primär von der Familie rund um einen Jugendlichen, der sich isoliert, und davon, wie zerrüttet sie ist, dreht sich „Goliath96“ von den Kontaktversuchen einer Mutter, die ihren Hikikomori-Sohn nicht aufgeben will. Riemann spielt in der Rolle der stets um eine gefasste Fassade bemühten Kristin so gut wie seit Jahren nicht: Man glaubt problemlos, dass ihr Umfeld ratlos bleibt, da Kristin sehr unauffällig und unaufgeregt auftritt – doch wir haben weiteren Kontext und können so, wenn die Kamera an sie heranrückt, kleine nervöse Zuckungen in ihrem Gesicht sehen, wenn sie wieder einmal über den angeblichen Texas-Aufenthalt ihres Sohnes spricht oder sie erneut vergebens versucht, ihn zu einer Reaktion zu bewegen, während sie vor seiner Tür hockt und in einem Selbstgesprächduktus von ihrem Tag erzählt. Dieses Spiel der kleinen mimischen und gestischen Ausdrücke setzt sich auch fort, sobald sich Kristin in einem Drachenbau-Forum anmeldet und dort unter dem Namen ‚cinderella97‘ mit ihrem Sohn kommuniziert, ohne dass er dies bemerkt. Es ist nur ein kleiner Sieg für Kristin, die endlich wieder mit ihrem Sohn reden will, wenn er sich in einem Forum über ihre Frage lustig macht oder besserwisserisch Hilfeleistung gibt – aber es ist ein Fortschritt, und so drückt sich Riemanns Freude durch kleines Mundwinkelverziehen und leichte Stimmfärbungen aus, wenn sie freudig aufatmet.

Regisseur Marcus Richardt, der gemeinsam mit Thomas Grabowsky auch das Drehbuch verfasst hat und hier sein fiktionales Langfilmdebüt absolviert, unterstützt das subtile, gleichwohl intensive Spiel durch seine filigrane, konzentrierte Regieführung. Die Kamera steht zumeist still, ist so nah an Riemann und später auch am ebenfalls dezent, aber ausdrucksstark spielenden Nils Rovira-Munoz, dass man jede Gesichtsregung sieht, aber so weit weg, dass die dunklen, bedrückend leblosen Zimmer von Mutter und Sohn eine klaustrophobische Stimmung erzeugen, während die rudimentären Chatgespräche Welten in den Figuren bewegen.

Mutter und Sohn gehen sich aus dem Weg.

Der punktgenaue Schnitt führt die unausgesprochenen Gedanken und Gefühle weiter aus – nach einem katastrophal aus der Bahn geratenen Videochatversuch (eine Achterbahnfahrt der Emotionen, mehr wollen wir jetzt nicht sagen) schneidet Richard direkt auf den nächsten Morgen und zeigt Kristin, wie sie gedankenverloren in der erdrückend leeren, großen Küche steht. Generell bleibt in „Goliath96“, thematisch passend, vieles unausgesprochen. Etwa, ob Kristin sich bewusst ist, dass sie sich von ihren Freunden abschottet und ihnen somit dasselbe in klein antut, wie ihr Sohn seinen Vertrauten. Was genau zum Bruch in der Familie führte, bleibt ebenfalls unklar. Hell erleuchtete Rückblenden mit Postkarten-Strandmotiven zeigen glückliche Kindheitstage, die auf’s Jetzt zusteuern,, aber selbst wenn David im späteren Verlauf des Films etwas deutlicher wird, bleibt das Gesamtbild lückenhaft – was aber nicht etwa ein Versäumnis der Filmschaffenden ist, sondern uns konsequent in Kristins Lage versetzt.

Fazit: Gefühlvoll, stark gespielt und mit zielsicherer, ruhiger Hand inszeniert: „Goliath96“ ist ein emotional aufgeladenes, aber packend-subtil umgesetztes Drama über’s Abschotten.

„Goliath96“ ist ab dem 18. April in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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