Climax

Gaspar Noé provoziert erneut – diesmal mit einer spektakulären Tanzperformance, die nach ein paar Schlucken Sangria zuviel hoffnungslos aus dem Ruder läuft. Was CLIMAX zu einem der spannendsten Filmexperimente des Jahres macht, das verraten wir in unserer Kritik.

Der Plot

Eine Tanzgruppe quartiert sich für Proben in einem abgelegenen Übungszentrum ein. Bei der Abschlussparty mischt ein Unbekannter Drogen in die Sangría und verursacht damit einen kollektiven Höllentrip. Aus Angst wird Paranoia, aus unterschwelliger Aggression offene Gewalt, aus Zuneigung unkontrollierte Begierde. Die energetische Choreographie löst sich in Chaos auf, die Tänzer taumeln, stolpern und tanzen weiter in höchster Ekstase bis zum Morgengrauen als die Polizei eintrifft und das ganze Ausmaß entdeckt.

Kritik

„Ihr habt ‘Menschenfeind‘ verachtet, ‘Irréversibel‘ gehasst, ‘Enter the Void‘ verabscheut und ‘Love‘ verflucht – jetzt probiert es mal mit ‘Climax!‘“ – so steht es auf einem der Plakate, die für Gaspar Noés neuen Film angefertigt wurden und als wäre dieser Frontalangriff auf den irritierten Zuschauer nicht schon aussagekräftig genug, prangt daneben auch noch ein Porträt des argentinischstämmigen Regisseurs, der dem Zuschauer direkt ins Gesicht schaut. Ganz so, als wisse er genau, was für Reaktionen er auf seinen neuesten Streich zu erwarten hat. Diese waren in Cannes, wo der Film seine Weltpremiere feierte, allerdings so frenetisch wie bei kaum einem anderen Noé-Projekt zuvor. Man könnte fast meinen, mit „Climax“ habe er Einiges an streitbarer Kunst aus den vergangenen Jahren wieder gut gemacht; und dabei ist sein neuester Film gar nicht unbedingt zugänglicher als das, was er bisher gemacht hat. In den 95 Minuten seiner vollends aus dem Ruder laufenden Tanzparty stellt der Mann, dessen Name ohne die Beschreibung enfant terrible eigentlich nicht vollständig ist, wieder einmal die Sehgewohnheiten seines Publikums auf den Kopf. Und das sagen wir nicht, weil er das auch buchstäblich macht, wenn sich die Kamera irgendwann um 180 Grad dreht, sondern weil sein Film in Aufbau und Ablauf einfach Grenzen sprengt, von denen man vorher gar nicht wusste, dass man sie sprengen kann.

Auf der eskalierenden Party kommen sich die Gäste näher…

Zu solchen, eigentlich selbstverständlichen Strukturen und inszenatorischen Formen zählen schon Banalitäten wie die Credits; „Climax“ beginnt mit dem Abspann, platziert den Vorspann einfach mitten im Film und endet mit dem Filmtitel – derartige Kleinigkeiten könnte man Noé genauso gut als Effekthascherei vorwerfen. Ein wenig mit den ungeschriebenen Gesetzen des Filmemachens spielen, einfach weil man es kann, ist ja erst einmal kein Geniestreich. Gleichzeitig beweisen sie jedoch auch zwei Dinge: Zum einen zeigt das Ergebnis, dass vor dem gebürtig aus Buenos Aires stammenden Auteur kein noch so sicher geglaubtes Filmelement sicher ist, zum anderen kann man so etwas aber auch nur machen, ohne dabei das Tempo eines Films vollständig durcheinander zu bringen, wenn man ein Gespür für Rhythmus hat. Gaspar Noé besitzt dieses Gespür und stellt das in jedem seiner Filme auf andere Art und Weise zur Schau. Hier lässt er durch den sukzessive steigenden Herzschlag seines Films eine wörtlich zu nehmende Sogwirkung entstehen, die den Zuschauer viszeral auf eine ähnliche Ebene hebt, wie die Figuren. Die ausgelassene Freude, die Ohnmacht, die Eskalation – all diese erzählerischen wie inszenatorischen Etappen, von denen die eine wie selbstverständlich in die nächste übergeht, bilden das Herzstück von „Climax“ und machen die in dieser Extremsituation agierenden Figuren fast zur Nebensache. Gaspar Noé erzählt (wieder einmal) nur auf der zweiten Ebene eine richtige Geschichte. In erster Linie geht es um das Schaffen eines Gefühls – „Climax“ ist Raserei.

Wie Gaspar Noé diese Raserei schließlich inszeniert, lässt sich am ehesten als das „‘mother!‘ der Tanzfilme“ beschreiben: Nach einem aus vielsagenden Monologen über die Wertigkeit des Tanzens bestehenden Prolog beginnt „Climax“ mit einer von mehreren spektakulären Tanzsequenzen. Keine von diesen penibel bis ins kleinste Detail choreographierten Jazzdance-Performances, in der sich das Spektakel daraus ergibt, dass sich alle wie synchronisiert zur Musik bewegen. Hier dominieren wildeste Körperbewegungen verschiedener Tanzstile, jeder tanzt für sich, verrenkt sich bis in schwindelerregende Höhen. Doch obwohl jeder auf sich allein gestellt agiert, werden die sich verbiegenden, drehenden und voller Leidenschaft sprudelnden Körper alsbald zu einer homogenen Masse. Man kann sich kaum sattsehen an dem, was man da gerade auf der Leinwand geboten bekommt, einfach weil es sehr selten ist, dass man derartige Tanzkunst überhaupt sieht. Hier zahlt es sich aus, dass Noé ausschließlich mit ausgebildeten Tänzern gearbeitet hat. In den 19 Drehtagen, basierend auf einem Skript, das ursprünglich nur aus drei Seiten bestand, drehte der Regisseur chronologisch, ließ die Talents erst ihre Körperkunststücke zelebrieren und zog daraus die Energie für die wenigen Spielszenen, die jedoch zum Großteil ebenfalls improvisiert wurden. Männer reden mit Männern über Frauen, Frauen reden mit Frauen über Männer, Männer reden mit Männern über Männer und Frauen mit Frauen über Frauen – schon bald ist die Stimmung sexuell aufgeladen; auch weil sich hier Menschen ganz unverblümt über Themen wie gleitmittelfreien Analverkehr unterhalten. Doch so prollig und vielleicht hin und wieder gezielt provokativ das auch sein mag, entwickelt sich all das stets aus der Situation heraus. Nichts wirkt gestellt, kein Satz und keine Handlung einzig und allein auf die Dramaturgie abzielend. Die Atmosphäre, die gesagten Worte, die Menschen – all das verschmilzt zu formvollendeter Leidenschaft. Bis alles eskaliert.

Ist in der Sangria LSD drin?

Ob in der selbst den kurzen Trailer dominierenden Sangria tatsächlich LSD drin ist, ist eines von vielen Mysterien, die „Climax“ umgibt (gezeigt und im Nachhinein aufgelöst wird das nämlich nie) – doch zumindest die Suggestion, dass hier gerade ein bewusstseinsänderndes Mittel an den Wahrnehmungen der Protagonisten schraubt, gelingt Gaspar Noé tadellos. Dabei verzichtet er darauf, die Ereignisse aus der Sicht der Betroffenen zu zeigen. In „Climax“ bleibt die flirrende, hemmungslos um die Charaktere herumfliegende Kamera von Noés Stammkameramann Benoît Debie („Grenzenlos“) immer Betrachter von außen. Trotzdem könnten die Aufnahmen verstörender kaum sein. Während aus den Boxen von dröhnenden Electrobeats (hoffentlich drehen die Kinos den Film so richtig schön laut auf!) bis hin zu Disco-Evergreens einmal das gesamte Potpourri an feiertauglicher Partymukke aufgefahren wird (inklusive eigens für diesen Film komponierte Remixe und Kombinationen aus bekannten Songs und Filmmusik), spielen sich vor den Augen des Publikums Szenerien ab, die vor allem dann so richtig ins Mark treffen, wenn man vorab nicht allzu viel über sie weiß. Dabei ist „Climax“ nicht einmal besonders brutal. Stattdessen ergibt sich der wortwörtlich zu verstehende Schlag in die Magengrube vor allem aus der schieren Masse an Dingen, die den Feierwütigen hier zuzustoßen. In Kombination mit einigen wirklich dramatischen und dadurch erst im Kontext so richtig schockierenden Szenen, machen Gaspar Noé und seine fabelhafte Tanz- und Schauspielcrew eines mal wieder sehr deutlich: Den abgefuckten Drogeneskapaden des Regisseurs gibt man sich zwar nur allzu gern hin, in der Haut der all das am eigenen Leib durchlebenden Figuren möchte man danach allerdings auf keinen Fall stecken.

Fazit: Gaspar Noé ist es mit „Climax“ wieder einmal gelungen, einen Film zu drehen, den es so kein zweites Mal gibt. Sein Tanzpsychodrama ist die pure Raserei, den man erst einmal überstehen muss, um ihn anschließend zu lieben, oder zu hassen. Wir entscheiden uns für Ersteres!

„Climax“ ist ab dem 6. Dezember in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

Ein Kommentar

  • so fantastisch die Tansszenen sind und auch positiv hervorzuheben ist, dass die vielen Figuren mit all ihren Neigungen und Sehnsüchten einzeln vorgestellt werden, sodass man ein Bild vom modernen pluralistischen Paris bekommt; so sehr verläuft sich die Handlung besonders nach Einnahme der mit einem ‚Rauschmittel versetzten Bowle in wirrem Geschwätz. Auf die Dauer nervt das nur.
    Unverzeihlich auch dass der DJ in einer der Tanzszenen vom legendären Discohit von Patrick Hernandez „Born to be Alive“ nur den Intro in einer Endlosschleife runterrattern läßt. Jeder, der den Hit kennt, fiebert nur auf Patricks Songeinlage „People from the Street, I like it..“. Doch die bleibt aus. So fühlt man sich wie in einem Ferrari, mit rechtem Fuss auf Vollgas, mit dem linken auf Vollbremse.
    Unverzeihlicher Fauxpas!
    Wer einen modernen Tanzfilm will, wird durch das wirre Geschwafel dazwischen der volle Genuss vergällt.
    Riesenchance vertan!

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