Amelie rennt

Regisseur Tobias Wiemann lässt in AMELIE RENNT ein Mädchen gegen sich selbst und ihre Krankheit kämpfen – und bleibt dabei trotzdem sympathisch. Ein Drahtseilakt zwischen Betroffenheitsstudie und aufbegehrendem Abenteuer. Mehr dazu in meiner Kritik.

Der Plot

Amelie (Mia Kasalo) ist 13, eine waschechte Großstadtgöre und womöglich das sturste Mädchen in ganz Berlin. Amelie lässt sich von niemanden etwas sagen, schon gar nicht von ihren Eltern (Susanne Bormann und Denis Moschitto), die sie nach einem lebensbedrohlichen Asthmaanfall in eine spezielle Klinik nach Südtirol verfrachten. Genau das, was Amelie nicht will. Anstatt sich helfen zu lassen, reißt sie aus. Sie flüchtet dorthin, wo sie garantiert niemand vermutet: Bergauf. Mitten in den Alpen trifft sie auf einen geheimnisvollen 15-Jährigen mit dem sonderbaren Namen Bart (Samuel Girardi). Als der ungebetene Begleiter ihr das Leben rettet, stellt Amelie fest, dass Bart viel interessanter ist, als anfangs gedacht. Gemeinsam begeben sich die beiden auf eine abenteuerliche Reise, bei der es um hoffnungsvolle Wunder und echte Freundschaft geht.

Kritik

Wer an einer unheilbaren Krankheit leidet, hat zwei Möglichkeiten: Man kann sie akzeptieren, oder ignorieren. Nach außen wirkt Letzteres oft naiv und kindisch, doch wer nicht selbst in der Situation ist, kann oft nicht nachvollziehen, was in Menschen vorgeht, die sich mit Dingen auseinander setzen müssen, die für ihr Umfeld in weiter Ferne liegen. In „Amelie rennt“ geht es um genau dieses Thema, denn die Hauptfigur Amelie will ihr schweres Asthma partout nicht annehmen. Stattdessen versucht sie zu leben, wie jeder normale Mensch und wenn sie nicht gerade an ihre körpereigenen Grenzen stößt, weil ihr verkleinertes Lungenvolumen sie daran hindert, ein herkömmliches Leben zu führen, gelingt ihr das auch. Ans Außenseiterdasein hat sie sich indes ebenso gewöhnt, wie an ihre (über-)fürsorglichen Eltern, denn ganz tief drinnen weiß sie, dass sie sich nicht ewig gegen ihre Krankheit und die ihr auferlegte Therapie sträuben kann. Diese Amelie wäre in weniger fähigen Händen eine äußerst anstrengende Figur. Möchte man ihr doch zu jedem Zeitpunkt zurufen, wie verantwortungslos sie handelt und damit nicht nur sich selbst in Gefahr bringt, sondern auch ihre Eltern in Angst versetzt. Doch in den Händen des Drehbuchautorinnen-Duos Natja Brunckhorst (spielte in „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ die Hauptfigur der Christiane F.) und Jytte Merle Böhrnsen („Einmal bitte alles“) wird aus dieser Amelie eine komplexe Figur, die sich zwischen Angst, Wut, Trauer und Aufbegehren zu einer greifbaren Teenagerin entwickelt, der man es zwar gönnt, dass diese endlich zur Vernunft kommen möge, der man die Angst vor der Ungewissheit aber zu keinem Zeitpunkt nachsieht.

Amelies Eltern sollen am eigenen Leib spüren, wie anstrengend das Atmen für ihre Tochter ist.

„Amelie rennt“ wurde auf der diesjährigen Berlinale in der Kategorie „Generation kplus“ gezeigt und damit in einer Sektion, in der man sich darauf spezialisiert hat, Geschichten aus der Sicht von Kindern zu präsentieren. Ein klassischer Kinderfilm ist die Regiearbeit von Tobias Wiemann („Großstadtklein“) damit aber nicht, denn inszenatorisch und erzählerisch hält sich der Filmemacher betont zurück. „Amelie rennt“ ist ein ruhiges Familiendrama mit Abenteuerflair und einigen komödiantischen Einschüben, wobei es sich bei Letzterem fast schon um die schwächsten Momente handelt. Hierfür werden nämlich hauptsächlich vereinzelte Figuren herangezogen. So etwa Amelies Zimmernachbarin Steffi (Shenia Pitschmann), deren Merkmal neben der an der Grenze zur Karikatur gezeichneten Überdrehtheit vor allem das zweifelhafte Talent ist, immer im genau falschen Moment am falschen Ort zu sein und mit ihrer Naivität das ruhige Gefüge der Atemklinik durcheinanderzuwirbeln – im wahrsten Sinne des Wortes. Solche Szenen halten sich in Grenzen, wirken innerhalb der sonst so bodenständigen Erzählung unrhythmisch. Da ist es ein Glück, dass die Leinwand-Debütantin ihre Figur trotz der so kurzen Screentime mit Herz ausstattet und sie nicht bloß wie eine anstrengende Klischeefigur erscheinen lässt. Und für die besorgten Eltern der so griesgrämig-pessimistisch auftretenden Amelie ist eine solche Frohnatur bisweilen sogar eine echte Wohltat.

Regisseur Tobias Wiemann inszeniert Amelies Aufenthalt im Südtirol aus zwei verschiedenen Perspektiven: Auf der einen Seite zeigt er den Ablauf in der Klinik, die Theorie hinter den verschiedenen Atemübungen, deren Sinn und Zweck sowie die Bemühungen der Betreuer, die meist deutlich jüngeren Patienten zur Mitarbeit zu motivieren. Auf der anderen Seite sind da aber auch Amelies Vorbehalte gegen derartige Therapien, die die angewandten Methoden schon mal vor versammelter Mannschaft infrage stellt. Infolge der ihr vermeintlich entgegen gebrachten Ignoranz verschwindet Amelie und will es vor allem sich einmal mehr beweisen, indem sie beschließt, ganz allein auf den Gipfel zu klettern. Dass sie sich hierbei auf einen der ortsansässigen Bauernjungen als Begleitung verlassen kann, wird der Szenerie ein wenig von ihrer allzu dramatischen Fallhöhe genommen – dass das junge Mädchen ihre unvernünftige Odyssee heil überstehen wird, steht angesichts der Genreinszenierung ohnehin nie außer Frage. Doch an „Amelie rennt“ gefällt nicht bloß die jederzeit glaubwürdige Interaktion zwischen dem jungen Mädchen und ihrem Begleiter Bart – einer echten Frohnatur. Sondern vor allem, wie sich im Skript aus kleinen Beobachtungen große Themen entspinnen. Da sorgt ein kleiner Scherz von Amelie schon mal dafür, dass sich ihr Gegenüber auf unerwartete Weise öffnet und ein verloren gegangenes Asthma-Spray wird nicht etwa für eine dramatische Wendung genutzt, sondern verschiebt in dem Moment nur die folgenden Szenen minimal in eine optimistische, die Botschaft „Glaub an Dich selbst – aber lass Dir helfen!“ in eine subtil-euphorische Richtung, sodass sich alles, was in „Amelie rennt“ passiert, genau so abgespielt haben könnte.

Samuel Girardi spielt Bart, Amelies Begleiter.

Das Spektakulärste an „Amelie rennt“ ist vermutlich das Setting, denn die südtiroler Alpen laden nicht bloß zu atemberaubenden Landschaftsaufnahmen ein, sondern ummanteln die Geschichte außerdem mit einer hübschen, wenngleich nicht unbedingt zurückhaltenden Symbolik. Mit ihren Ecken, Kanten und ihrer Unverrückbarkeit spiegeln sie gleichermaßen Amelie selbst wieder, während sich für die Reise zu sich selbst und dem Selbstbeweis, sehr wohl körperlich anstrengende Tätigkeiten auszuüben, kein Ort besser eignen würde, als dieser, an welchem die Luft nach oben ohnehin immer dünner wird. So wird das Bergpanorama unweigerlich zur dritten Hauptfigur, während Tobias Wiemann erzählerisch zwischen den vorsichtigen Neckereien zwischen Amelie und Bart sowie den besorgten Menschen im Tal hin- und herspringt. Jerry Hoffmann („Hitman: Agent 47“) mausert sich als zuvorkommender, die Belange seiner jungen Patienten ernst nehmender Betreuer zum Filmliebling – er steht stellvertretend für genau jenen Typ Mensch, dem sich Erkrankte am ehesten öffnen, da von ihrer Seite aus keine Vorwürfe zu erwarten sind, sondern erstgemeintes Verständnis. Und genau so ernst, wie dieser Matthias seine Schützlinge nimmt, behandeln die Macher ihre Figuren. Am Ende gönnt man Amelie ihren Triumph noch einmal eine Spur mehr, da hier nicht das konstruierte Drehbuch für ein Happy End verantwortlich ist, sondern Fingerspitzengefühl und Menschenkenntnis.

Fazit: „Amelie rennt“ ist ein mit viel Fingerspitzengefühl inszeniertes Abenteuerdrama rund um eine junge Frau, die es sich und ihrer Umwelt beweisen will. Dabei nimmt Regisseur Tobias Wiemann nicht bloß seine Hauptfigur sowie ihr privates Umfeld zu jedem Zeitpunkt ernst, sondern macht aus kleinen Beobachtungen Momente größter Emotionen. Ein wahrhaftiger, ehrlicher und ehrlich optimistischer Film.

„Amelie rennt“ ist ab dem 21. September in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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