Hillbilly-Elegie

Pünktlich zu (eigentlichen) Oscar-Saison platziert Netflix die Filmadaption des umstrittenen Bestsellers HILLBILLY-ELEGIE vereinzelt in US-Kinos und weltweit auf seiner Streamingplattform. Doch einen Preisregen dürfte es abseits der Darstellerkategorien kaum geben. Warum, das verraten wir in unserer Kritik.

OT: Hillbilly Elegy (USA 2020)

Der Plot

J. D. Vance (Gabriel Basso), ein früherer Marine aus dem Süden Ohios und derzeit Jurastudent in Yale, steht kurz davor, den Traumjob seines Lebens zu ergattern, als eine Familienkrise ihn in die Heimat zurückruft, die er eigentlich vergessen wollte. J. D. bekommt es nun mit den komplizierten Verhältnissen seiner Familie aus den Appalachen zu tun, unter anderem mit der schwierigen Beziehung zu seiner suchtkranken Mutter Bev (Amy Adams). Mithilfe der Erinnerungen seiner Großmutter Mamaw (Glenn Close) – der resoluten und brillanten Frau, die ihn großgezogen hat – lernt J. D. bald, die unauslöschlichen Spuren zu akzeptieren, die seine Familie in seinem eigenen Werdegang hinterlassen hat.

Kritik

Auf dem Papier lesen sich die Zutaten hervorragend: Der zweifach Oscar-prämierte Regisseur Ron Howard (2002 für „A Beautiful Mind“) adaptiert mit Schützenhilfe von Amy Adams („American Hustle“) und Glenn Close („Die Frau des Nobelpreisträgers“) den umstrittenen Bestseller „Hillbilly-Elegy“ von J.D. Vance. Umstritten deshalb, weil die Memoiren des aus den Appalachen stammenden Juristen bis heute mit als Veranschaulichung dafür dienen, weshalb es im Jahr 2016 einem polternden Nicht-Politiker wie Donald Trump gelingen konnte, zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt zu werden. „Hlllbilly-Elegie“ porträtiert eine Gesellschaft der Ausgestoßenen und veranschaulicht anhand von wegbrechender Infrastruktur im US-amerikanischen Hinterland die Beweggründe der einstigen Arbeiterklientel, jemanden wie Trump zu wählen respektive auf seine Versprechen, Arbeitsplätze zu schaffen und das Verkehrssystem auszubauen, hereinzufallen. Im Mittelpunkt des Buches steht die Familie des Autors; auf rund 300 Seiten schildert er das schwierige Verhältnis zu Mutter und Großmutter, er erzählt von dem toxischen Miteinander, von physischer und psychischer Gewalt, aber auch von Zusammenhalt – und vor allem davon, wie der wirtschaftliche Zusammenbruch in seiner Heimatstadt die Familiensituation beeinflusste. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, wenn J.Ds Familie nicht stetig vor den Trümmern ihrer Existenz gestanden hätte…

Lindsay (Haley Bennett), Großmutter Mamaw (Glenn Close) und Bruder J.D. (Owen Asztalos).

Im Deutschen trägt das Buch den Untertitel „Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“ – der Film nicht. Und das hat auch allen Grund. Denn Drehbuchautorin Vanessa Taylor („Shape of Water – Das Flüstern des Wassers“) spart für die Leinwandversion konsequent jedweden politischen Subtext aus. Nun war „Hillbilly-Elegie“ nie ein „politisches Buch“, sondern zog sich seinen politischen Beigeschmack aus den geschilderten Umständen. Die Rückschlüsse auf die Trumps Erfolg wurden nie von dem Autor selbst gezogen, sondern entstanden später automatisch, da nur wenige Monate nach der Veröffentlichung die US-Wahl stattfand und ihren bekannten Ausgang nahm. Vielleicht wollte Taylor einfach nur nicht ein weiteres Mal in dieselbe Kerbe schlagen, vielleicht fand sie das Familienleben des Autors schlicht und ergreifend spannender – nicht jede Leinwandadaption eines Buches muss sich sklavisch an die Vorlage halten. Dass Taylor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch um J.Ds Familie herum also keinerlei Beachtung schenkt – oder man ihn sich lediglich anhand von Szenen wie dieser, in der Großmutter Mamaw auf Essensmarken angewiesen ist – halbwegs zusammenreimen kann, ist also erstmal gar kein Todesurteil. Nur leider versäumen es Taylor und Regisseur Ron Howard („Im Herzen der See“), die Lebensumstände der Familie Vance lebensecht einzufangen und legen stattdessen einen weichgespülten Armutsporno ohne Charakter vor.

„Vielleicht wollte Taylor einfach nur nicht ein weiteres Mal in dieselbe Kerbe schlagen, vielleicht fand sie das Familienleben des Autors schlicht und ergreifend spannender – nicht jede Leinwandadaption eines Buches muss sich sklavisch an die Vorlage halten.“

Ohne Charakter deshalb, weil sämtliche Veranschaulichungen sozialen und familiären Leids innerhalb der Vance-Familie wie ein Abhaken genretypischer Versatzstücke wirken: Drogen, Missbrauch, Gewalt und soziale Ausgrenzung finden ihre Entsprechung in Szenen, die aus jedem anderen Filmdrama stammen könnten – nur dass sich die meisten von ihnen in der Regel auf einen Konflikt konzentrieren. Sie handeln entweder von Drogenmissbrauch oder Alkoholismus oder Kindesmissbrauch. In „Hillbilly-Elegie“ dagegen geht es um alles und am Ende doch um nichts, denn auch wenn die hier geschilderten Ereignisse der Realität entsprechen (das Buch basiert ja schließlich auf der Lebensgeschichte des Autors), so mangelt es all diesen Szenen klar an Individualität. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich Vanessa Taylor in ihrem Skript vorwiegend von einem Gewaltereignis zum nächsten hangelt. In „Hillbilly-Elegie“ wird durchgehend gekeift, gedroht, beleidigt, gehasst – und der kitschige Überbau vom Familienzusammenhalt besitzt dadurch etwas Bitter-zynisches, fast Manipulatives. Zwar verweigern sich Taylor und Howard im Finale der ultimativen Bigotterie, doch spätestens, wenn im Abspann private Homevideoaufnahmen die vermeintliche familiäre Idylle zeigen (und veranschaulichen, dass die Hauptdarsteller ihren Vorbildern dank Maske und Prothesen wirklich verdammt ähnlich sehen!), kommt man nicht umher, dem sogar direkt ausgesprochenen „Blut ist dicker als Wasser“-Mantra einen riesigen Stinkefinger entgegenhalten zu wollen. Die Vorlage schafft es tatsächlich, die Komplexität der toxischen Familienverhältnisse, die Straßenschläue der Hauptfiguren und den aller dramatischen Vorkommnisse zum Trotz vorhandenen Zusammenhalt der Vances einzufangen. Der Film dagegen präsentiert uns knapp zwei Stunden lang ein ausschließlich abstoßendes Miteinander – und erwartet am Ende trotzdem noch, dass wir J.D. ein schlechtes Gewissen einreden, sollte der sich irgendwann einmal endgültig von seiner Mutter abwenden.

Mutter und Sohn (Gabriel Basso) am Rande der Verzweiflung…

Ron Howards seichte Inszenierung ist vor diesem Hintergrund eigentlich nur konsequent. Kamerafrau Maryse Alberti („Creed – Rocky’s Legacy“) und die Komponisten Hans Zimmer und David Fleming (arbeiteten schon für das „Der König der Löwen“-Remake zusammen) kleiden „Hillbilly-Elegie“ in gefällige, sonnengetränkte Bilder und einen unpassend schwelgerischen Score. Die Zustände im Film sind nicht rau und dreckig, sondern der Inbegriff von Hollywood-Kitsch, für dessen Gefälligkeit auf jedwede Ecken und Kanten verzichtet wurde. Das macht „Hillbilly-Elegie“ zweifelsohne zu einem bemerkenswert kurzweiligen und alles andere als unangenehm anzuschauenden Film – was im Anbetracht des zermürbenden Inhalts nahezu zynisch ist. Doch die Struktur aus Gegenwarts- und Vergangenheitserzählung, in der nicht etwa das geläufige Filmcredo „Show don’t tell“ zu gelten scheint, sondern „Show and tell“, weil einfach alles, aber auch wirklich alles bildlich veranschaulicht und zusätzlich aus dem Off resümiert werden muss, lässt auf der Leinwand (respektive dem Fernsehschirm) immer etwas passieren. Leerlauf – und damit einhergehend: Momente, in denen man das Gezeigte verarbeiten kann – gibt es nicht. Etwas, was man honorieren kann, was aber auch sehr viel über die fehlgeleitete Inszenierung aussagt. Ein Film mit diesem Thema sollte eigentlich nicht eingängig und – ja, auch das nicht – unterhaltsam sein. Symptomatisch dafür steht auch der fiktive Erzählbogen rund um J.D. und seine Freundin Usha (Freida Pinto), deren Verhältnis sich – wie so ziemlich alles – ganz anders darstellt als im Buch.

„Die Zustände im Film sind nicht rau und dreckig, sondern der Inbegriff von Hollywood-Kitsch, für dessen Gefälligkeit auf jedwede Ecken und Kanten verzichtet wurde.“

Bleibt zu guter Letzt noch ein Blick auf die Darstellerleistungen. Dass „Hillbilly-Elegie“ im Vorfeld seiner Veröffentlichung als heißer Oscarkandidat gehandelt wurde, liegt auch an der Verpflichtung der beiden Hauptakteurinnen. Tatsächlich spielen sich Amy Adams und Glenn Close hier die Seele aus dem Leib, auch wenn sie den Kern ihrer Figuren nie so richtig zu fassen scheinen. Die Weisheit der Großmutter bleibt ebenso wenig ausgeschöpft wie der Wahnsinn der Mutter. Aus komplexen Charakteren werden eindimensionale White-Trash-Klischees. Dem Film zufolge haben beide auch nichts anderes verdient. Den Vorbildern gegenüber wirkt eine derartige Verkörperung dagegen fast schon respektlos. Den Oscar dürften die beiden (oder eine von ihnen) daher nur dann gewinnen, wenn die Academy mal wieder nicht das beste, sondern das meiste Schauspiel prämiert.

Fazit: Ron Howard gelingt es in der Verfilmung des Bestsellers „Hillbilly-Elegie“ nicht, den rauen Kern der Vorlage einzufangen und präsentiert uns stattdessen ein gefälliges Familiendrama, dass uns auf zynische Art und Weise einzubläuen versucht, dass Blut immer dicker als Wasser ist.

„Hillbilly-Elegie“ ist ab sofort bei Netflix streambar.

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