Zu weit weg

Regisseurin Sarah Winkenstette schafft mit ZU WEIT WEG ein dramatisches Gegenstück zum flippigen deutschen Kinderkino und erzählt mit Anspruch und Gefühl eine Geschichte über zwei ganz unterschiedliche Jungs. Ob das überzeugt, verraten wir in unserer Kritik.

Der Plot

Da sein Heimatdorf einem Braunkohletagebau weichen soll, müssen Ben (Yoran Leicher) und seine Familie in eine andere Stadt ziehen. Während sich seine Schwester schnell einfügt, bleibt Ben in seiner neuen Schule für längere Zeit ein Außenseiter. Und auch im neuen Fußballverein laufen die Dinge für den im alten Club als so talentiert betrachteten Stürmer nicht wie gewohnt. Zu allem Überfluss gibt es dann auch noch einen weiteren Neuling an der Schule. Der syrische Flüchtling Tariq (Sobhi Awad) wird (ungewollt) zum neuen Mittelpunkt der Klasse und beweist dann auch noch auf dem Bolzplatz großes Talent. Nun muss sich zeigen, ob Ben fähig ist, das Konkurrenzdenken abzuschütteln und die Gemeinsamkeiten mit seinem „Kontrahenten“ zu entdecken …

Kritik

Regisseurin Sarah Winkenstette hat bereits 2013 bewiesen, dass sie es versteht, gelungene Produktionen für Kinder zu fabrizieren: Sie half, die Kinder-Realitysendung „Kann es Johannes?“ auf die Beine zu stellen, in der Moderator Johannes Büchs einem Kind innerhalb von 48 Stunden eine Sportart näher zu bringen versucht. Für das WDR-Projekt gewann sie 2014 den Kinder-Medien-Preis Goldener Spatz. Seither inszenierte sie unter anderem für den Kinderfernsehen-Dauerrenner „Schloss Einstein“. Mit „Zu weit weg“ unterstreicht Sarah Winkenstette nun endgültig ihren Status als eine Medienschaffende, die sehenswerte Kinderunterhaltung schafft: Die meisten deutschen Kinderfilme dieser Tage sind nämlich entweder quietschig-flippig, moralinsauer oder sehr simpel gestrickt – während die gelungenen Ausnahmen zumeist höchst kreativ und voller Ironie und gesunder Albernheit sind. Einen ruhigen, dramatischen deutschen Kinderfilm, der obendrein seine Themen mit Ernst und Haltung, trotzdem aber ohne erhobenen Zeigefinger behandelt, gab es schon länger nicht mehr zu sehen. „Zu weit weg“ schafft da nun Abhilfe.

In seinem alten Verein war Ben (Yoran Leicher) ein talentierter Stürmer. Nun muss er sich in seinem neuen Verein erstmal beweisen.

Winkenstette erzählt ihren Stoff in gemütlichen, genau beobachtenden Szenen mit wenigen Dialogen. Oft sind es allein die mit scharfem Auge konstruierten Bildkompositionen und die ausdrucksstarken Gesichter der Jungdarsteller, die Inhalte übertragen. Und wenn die Figuren sprechen, dann in lebensnahen Dialogen, in denen sich die Kinder im frühen zweistelligen Alter davor scheuen, sich zu sehr zu öffnen. Es gibt keine aufgesetzte, gekünstelte Jugendsprache, keine kleinliche Ausformulierung sämtlicher Gefühlstumulte, die jemand gerade durchmacht, und ebenso wenig sprechen die Kinderfiguren wie gedruckt. „Zu weit weg“ erzählt auf diese feinfühlige, ruhige Art von zwei Jungen, die nach eigenem Gefühl zu weit weg von Zuhause sind. Für Ben ist schon der Umzug von einem Dorf in die nächstgelegene, etwas größere Gemeinde wie die Reise auf einen anderen Stern. Er muss mit einer neuen Stellung auf der sozialen Leiter eines Fußballvereins klar kommen, damit, dass seine neue Klasse anders tickt als seine alte und damit, dass sich seine Schwester so viel besser anpasst als er. Er fühlt sich abgehängt und orientierungslos – und dann ist da der Flüchtling Tariq, der wirklich weit, weit weg von seiner Heimat ist. Dass Tariq trotzdem schneller Freunde findet als er, macht Ben neidisch und zornig – und Jungschauspieler Yoran Leicher brilliert darin, exakt diese Facette des Angepisstseins zu treffen. Dank Leichers Spiel kommt Ben nicht kleinlich, unsensibel oder weinerlich rüber, sondern lässt sich als sympathischer Junge, der jedoch mit der Gesamtsituation überfordert ist und daher seine schlechteren Seiten zeigt, verstehen. Und wie sich seine Dynamik mit Tariq verbessert, ist völlig glaubwürdig.

Newcomer Sobhi Awad gibt Tariq als freundlichen, dankbaren Jungen, dem dennoch eine große Melancholie innewohnt, weil er seine Heimat und seine Familie vermisst. Dank dieser Figur macht „Zu weit weg“ (nicht nur) seinem jungen Publikum die Sorgen und Ängste Geflüchteter greifbar – und das, ohne als Moralpredigt rüber zu kommen. Stattdessen ergründet der Film diese Thematik empathisch und sukzessive, indem sie Tariq als komplexen, realen Jungen zeichnet, zu dem wir eine Bindung aufbauen – wodurch wiederum seine Probleme verständlich und dringlich werden. Die Lösungen des Konfliktes zwischen Ben und Tariq sowie ihrer individuellen Konflikte erfolgt auf eine kindgerechte, findige Weise, ohne den dramatischen Tonfall des Films unwirklich zu brechen. Allein die etwas schwammige Tonabmischung trübt den Gesamteindruck von „Zu weit weg“: Stellenweise muss man sich schon arg konzentrieren, um die Dialoge zu verstehen, und das könnte unruhigere, junge Gemüter, von denen der Film mit seiner gemächlichen Erzählweise ja schon was abverlangt, vielleicht zum Kippen bringen. Eltern, die wissen, dass ihre Kinder gewillt sind, aufmerksam zuzuhören, erhalten mit diesem Film aber eine starke Gelegenheit, ihnen die Themen Offenheit, Toleranz und Einfühlungsvermögen zu vermitteln.

Zwischen Ben und Tariq (Sobhi Awad) entwickelt sich eine Freundschaft.

Fazit: Sarah Winkestettes „Zu weit weg“ ist ein zeitgemäßer, dramatischer Kinderfilm über das Können, sich in andere hineinzuversetzen.

„Zu weit weg“ ist ab dem 12. März 2020 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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