May December

Irgendwo zwischen soapiger Schauspielsatire und mitreißendem Charakterdrama zeigt Regisseur Todd Haynes mit MAY DECEMBER, wie faszinierend es sein kann, verschiedene Tonalitäten zu einem großen Ganzen zusammenzufügen, bis er ganz zum Schluss offenbart, was denn tatsächlich der Kern des Ganzen ist.

OT: May December (USA 2023)

Darum geht’s

Vor vielen Jahren war Gracie (Julianne Moore) in einen von der Presse ausgeschlachteten Skandal verwickelt. Ihre Beziehung zu einem 26 Jahre jüngeren, minderjährigen Jungen endete für sie in einer Haftstrafe. An der Liebe zu ihrem heutigen Ehemann (Charles Melton) änderte das allerdings nichts. Mittlerweile sind Joe und Gracie verheiratet und haben zusammen drei Kinder. Als ein Film über die Affäre der beiden gedreht werden soll, erscheint die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman) bei dem Ehepaar, um die beiden zu Recherchezwecken ein paar Tage zu begleiten. Ihr Absichten sind dabei genauso schwer zu durchschauen, wie die Beziehung zwischen Joe und Gracie zu durchdringen. Je tiefer Elizabeth bohrt, desto mehr Geheimnisse kommen ans Tageslicht…

Kritik

Die Veröffentlichungspolitik von „May December“ ist, gelinde gesagt, seltsam. Bereits vor über einem Jahr feierte der erfrischende Mix aus Schauspielersatire und Familien-/Charakterdrama seine Weltpremiere in Cannes und wurde dort sehr wohlwollend aufgenommen. Anschließend tingelte Todd Haynes‘ 13. Langfilm durch die Programme aller möglichen Filmfestivals von Sydney über Zürich bis London. Im November startete er dann vereinzelt in den Kinos, unter anderem in Irland, Taiwan und Israel. Auch in den USA, allerdings limitiert. Dann folgte der Dezember: Hier kamen nun diverse Nationen (Kanada, Ungarn, Japan und viele mehr) in den Genuss einer Netflix-Veröffentlichung. Auch in den Vereinigten Staaten war „May December“ ab sofort über die Onlineplattform verfügbar. Der Streamingstart in Deutschland, ebenfalls am 4. Dezember geplant, wurde ein paar Tage vorher allerdings zurückgezogen, nur um kurze Zeit später doch noch einen Kinostart in hiesigen Gefilden anzukündigen – fast ein halbes Jahr später. Damit ist Deutschland das letzte Land, in dem „May December“ erscheint, kurz nachdem zuvor noch eine Handvoll anderer Länder ebenfalls einen Kinostart spendiert bekamen. Immerhin findet sich diese Veröffentlichungspolitik zum Teil auch im Filmtitel wieder, wenn man bedenkt, dass die Premiere im Mai und der reguläre (Netflix-)Release in den USA im Dezember stattfand…

Gracie (Julianne Moore) und Joe (Charles Melton) sind zusammen, seit sie 36 und er 13 war.

Dabei steht der Titel eigentlich für etwas ganz Anderes, nämlich für den großen Altersunterschied zwischen der von Julianne Moore („Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“) gespielten Gracie und ihrem Ehemann Joe, dargestellt von Charles Melton („The Sun is also a Star“). Zwischen den beiden liegen 23 Jahre. Ihre Beziehung begann, als sie bereits 36, er dagegen noch minderjährig war. Von dieser Zeit, die für Gracie mit einer mittlerweile abgesessenen Gefängnisstrafe endete, zeigt Todd Haynes („Vergiftete Wahrheit“) nichts. Die Erinnerungen an diese Zeit finden ausschließlich in Gesprächen statt, die Gracie und einige ihrer Weggefährt:innen mit der Schauspielerin Elizabeth führen. Sie soll Gracie in einem Film über die skandalöse Affäre spielen. Die von Natalie Portman („Black Swan“) verkörperte Method Actress ist eine faszinierende Persönlichkeit. Irgendwo zwischen übergriffig, beruflich hochengagiert und skandallüstern. Die von ihr stets in eine intime Richtung gelenkten Gespräche mit Gracie sind zuweilen undurchschaubar. Wie viel liegt ihr wirklich daran, ihr Vorbild realitätsgetreu zu verkörpern und wieviel davon ist in Wirklichkeit pure, sensationslustige Neugier? Haynes illustriert diesen Zwiespalt in raffinierten Einzelszenen, basierend auf dem Skript von Samy Burch und Alex Mechanik, das seit 2020 auf der Black List der vielversprechendsten, unveröffentlichten Drehbücher stand. Für beide ist es das erste Spielfilm-Skript. Im Anbetracht ihrer beeindruckenden Beobachtungsgabe kaum zu glauben.

„Wie viel liegt ihr wirklich daran, ihr Vorbild realitätsgetreu zu verkörpern und wieviel davon ist in Wirklichkeit pure, sensationslustige Neugier? Haynes illustriert diesen Zwiespalt in raffinierten Einzelszenen, basierend auf dem Skript von Samy Burch und Alex Mechanik.“

Wenn Elizabeth Gracie beim Schminken zusieht um ihr Make-Up anschließend in nahezu besessener Akribie nachzuzeichnen, beeinflusst dieser Anflug von Manie die Tonalität des Films maßgeblich. Auch eine Szene, in der sich die Schauspielerin am Ort des ersten erotischen Stelldicheins zwischen Gracie und Joe (das Hinterzimmer einer Tierhandlung) selbst befriedigt, inszeniert Haynes abgehoben und überzeichnet, als wäre das Ganze an die Stilistik eines Schundromans angelehnt. Es gibt aber auch einfühlsame Gespräche zwischen den beiden Frauen, in denen ehrliches Interesse für die Situation durchscheint. Es fühlt sich an, als würde man einer Journalistin bei einem Interview zuschauen, ohne zu wissen, ob sie nun für ein boulevardeskes Schmierblatt oder ein seriöses Reportagemagazin arbeitet. Die Antwort auf die Frage liefert Todd Haynes übrigens tatsächlich gen Ende, weshalb „May December“ auch erst mit der aller letzten Szene seine Absichten, bisweilen sogar seine Genreeinordnung offenbart. Möglich also, dass sich der Film beim zweiten Schauen ganz anders anfühlt als beim ersten Mal.

Elizabeth trifft sich nicht nur mit Gracie, sondern sucht auch das Gespräch mit Familie und Freund:innen.

Todd Haynes unterstreicht den Wankelmut seiner Figuren sowie die Unberechenbarkeit des Skripts mit einer hochspannenden Inszenierung. Schon ein Blick auf die aller erste Szene genügt, um seine Sicht auf die Dinge zu durchschauen. Während der Vorbereitungen auf ein Familien-BBQ steht Gracie vor dem Kühlschrank und stellt fest, dass nicht genügend Hotdogs für den Grillabend vorhanden sind. In diesem Moment zoomt Christopher Blauvelt („Emma.“) mit seiner Kamera in übereifriger Geschwindigkeit auf das enttäuschte Gesicht der Protagonistin. Zusammen mit einem dramatischen Streicher ist die Assoziation mit einer spanischen Telenovela nicht weit hergeholt. Und von solchen Momenten der Überdramatisierung gibt es im Film viele, was die Schwere aus der skandalumwitterten Thematik vollends herauslöst. Der Film schwankt stets zwischen Soap- und ernsthafter Dramaattitüde, ist dabei aber so stilsicher inszeniert, dass die einzelnen Elemente einander ausbalancieren, anstatt sich im Wege zu stehen. „May December“ ist gewiss ein widersprüchlicher, gerade deswegen aber so reizvoller Film, dessen Schauspielensemble dem Affen ordentlich Zucker gibt.

„Der Film schwankt stets zwischen Soap- und ernsthafter Dramaattitüde, ist dabei aber so stilsicher inszeniert, dass die einzelnen Elemente einander ausbalancieren, anstatt sich im Wege zu stehen.“

Während Natalie Portman immer exakt so aufspielt, dass sie die Grenze zum Overacting zwar streift, aber nie überschreitet, wirkt Julianne Moore wie das Gegenstück zum groß angelegten Spiel ihrer Kollegin. Auch hier ergänzen sich die beiden Enden des darstellerischen Spektrums perfekt, verschmelzen ineinander wie Ying und Yang. Und dazwischen hat Charles Meltons Joe einige besonders anrührende Szenen, etwa im Dialog mit seinem Sohn Charlie (Gabriel Choung), zu dem er den Zugang zu verlieren droht. Allem Kitsch und Überdrama zum Trotz, ist „May December“ vor allem als Porträt einer stets unter Beobachtung stehenden, unkonventionellen Familie und Liebe wahrlich mitfühlend und mitreißend. Die romantische Beziehung zwischen Gracie und Joe fühlt sich, dem riesigen Altersunterschied zum Trotz, stets aufrichtig an. Auch, wenn man ohne eine rudimentäre Kenntnis des Plots zunächst tatsächlich denken könnte, die beiden seihen nicht Ehemann und Ehefrau, sondern Sohn und Mutter. Auch bei der Zeichnung des familiären Zusammenlebens ist es erneut das Wechselspiel der Gegensätze, das es so spannend macht, den Vorkommnissen in „May December“ zuzusehen. Schließlich findet die Skandalisierung dieser familiären Konstellation vor allem von außen statt, während sich innerhalb alle mit der Situation arrangiert haben, sie zum Beispiel auch für die Kinder ganz normal ist.

Elizabeth folgt Gracie überall hin.

Es ist vielleicht die einzige Schwäche von „May December“, dass sich die Kreativen dazu entschieden haben, ihre Geschichte auch außerhalb der vier Wände des großen, luxuriösen Anwesens der Familie spielen zu lassen. Der Film hätte als reines Kammerspiel vielleicht sogar noch besser funktioniert, die Intensität zwischen den beiden Frauen noch weiter hochdrehen können. Die Szenen, in denen Elizabeth mit einigen von Gracies Weggefährt:innen spricht, sind inhaltlich relevant, brechen allerdings konsequent die zum Zerreißen gespannte Spannung zwischen ihr und Gracie auf. Trotzdem ist es natürlich interessant zu hören, was Andere über Gracies und Joes Beziehung, insbesondere über ihre Anfänge zu berichten haben. Und so unangenehme Begegnungen wie zwischen Gracie und ihrem Ex-Mann samt Kindern muss man einfach gesehen haben, um das inflationär verwendete Wort Cringe mal wieder so richtig schön nachzufühlen.

Fazit: Todd Haynes gelingt mit „May December“ ein stilsicher inszeniertes Wechselspiel zwischen absurd überzeichneter Satire mit Soap-Einfluss und intensivem Charakterporträt, bei dem er sich erst ganz zum Schluss in die Karten schauen lässt.

„May December“ ist ab dem 6. Juni 2024 in den deutschen Kinos zu sehen.

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