In den Gängen

Der neue Film von Regisseur Thomas Stuber wurde für vier deutsche Filmpreise nominiert und konnte den Preis in der Kategorie „Beste männliche Hauptrolle“ für sich verbuchen. Letztlich benötigt IN DEN GÄNGEN aber ohnehin keine Awards, um großartig zu sein. Mehr dazu verrate ich in meiner Kritik.
Der Plot
Christian (Franz Rogowski) ist neu im Großmarkt. Schweigend taucht er in das unbekannte Universum ein: die langen Gänge, die ewige Ordnung der Warenlager, die surreale Mechanik der Gabelstapler. Bruno (Peter Kurth), der Kollege aus der Getränkeabteilung, nimmt sich seiner an, zeigt ihm Tricks und Kniffe, wird ein väterlicher Freund. Und dann ist da noch Marion (Sandra Hüller) von den Süßwaren, die ihre kleinen Scherze mit Christian treibt. Als er sich in sie verliebt, fiebert der ganze Großmarkt mit. Doch Marion ist verheiratet – aber nicht sehr glücklich, wie es heißt.
Kritik
Es kommt nicht selten vor, dass besonders detailverliebten Filmemachern attestiert wird, das Besondere im Alltäglichen zu erkennen. Jason Reitman hat diese Kunst perfektioniert, oder auch ein Jim Jarmusch. Im deutschen Film ist so eine erzählerische wie inszenatorische Zurückhaltung seltener, doch wenn sie einer beherrscht, dann Thomas Stuber. Sein Boxerdrama „Herbert“ wurde 2015 für sein gleichermaßen bewegendes wie betont unaufdringliches Erscheinungsbild gefeiert, in dessen Mitte sich Peter Kurth, der auch in „In den Gängen“ eine wichtige Rolle spielt, unsterblich machte. Zweieinhalb Jahre später ist der gebürtig aus Güstrow stammende Schauspieler und Filmpreis-Träger (eben für seine Performance in „Herbert“) nur noch einer von vielen in einem Ensemble, das erneut nicht aus einem Film zu stammen scheint, sondern aus dem echten Leben. Anstatt der Welt des Boxsports nimmt Stuber in „In den Gängen“ einen Großmarkt ins Visier, aus dem er eine Art gesellschaftlichen Mikrokosmos spinnt: Verschiedene Abteilungen reihen sich wie Länder aneinander, die darin beschäftigten Mitarbeiter leben harmonisch nebeneinander her sowie gemeinsam miteinander und verfolgen alle ihren eigenen Plan vom Leben. Die Streits, Konflikte, aber auch kleine Erfolge und Freundschaften, die in den langen Supermarkt-Gängen ausgetragen werden, ließen sich eins zu eins auch auf die echte Welt übertragen. Und in der Mitte bildet sich zaghaft eine kleine, sympathische Liebelei, die außerhalb des Großmarkts jedoch keine Chance hat.
Wenn wir in den ersten Minuten mit Hauptfigur Christian konfrontiert werden, wissen wir über diese zunächst erst einmal gar nichts. Das ändert sich auch im weiteren Verlauf des Films nur bedingt, denn dieser Christian ist äußerst schweigsam und wenn er doch einmal Worte verliert, beziehen sich diese in der Regel auf das Geschehen im Großmarkt und weniger auf private Angelegenheiten. Dasselbe gilt für einen Großteil der weiteren Figuren, doch selbst, wenn Peter Kurths Bruno aus seiner Vergangenheit erzählt oder Christian ein wenig über die von ihm angehimmelte Marion verrät, sind in „In den Gängen“ alle Figuren gleich. Selten hatte man das Gefühl, ein Skript (Thomas Stuber und Clemens Meyer) schere sich so wenig um den sozialen und gesellschaftlichen Background seiner Charaktere, wie hier – und das ist in diesem Fall ausschließlich positiv zu verstehen. Sobald früh morgens die Mitarbeiter an ihrer Arbeitsstelle eintreffen, findet die Welt außerhalb der riesigen Regale, der meterlangen Gänge und der schweren Metalltüren nicht mehr statt. Selbst die Kunden wirken hier wie Fremdkörper in einem hermetisch abgeriegelten Mikrokosmos, in dem die Finesse beim Einräumen der Süßigkeitenregale viel mehr zählt, als das Gehalt auf dem Konto – denn das ist sowieso bei allen gleich. Zum Statussymbol wird hier stattdessen die Erlaubnis, mit einem Gabelstapler fahren zu dürfen.
Wie in dieser „Welt in der Welt“ nach und nach das Interesse füreinander erblüht, wird durch die beiden mitreißenden, aber sich gleichermaßen der Zurückhaltung des Films anpassenden Performances von Sandra Hüller („Toni Erdmann“) und Frank Rogowski („Fikkefuchs“) greifbar gemacht. Die etwas forschere Marion und der sehr in sich gekehrte, lediglich in seiner Freizeit hin und wieder mal aus sich herauskommende, seine Umgebung aber trotzdem ganz genau beobachtende Christian liefern sich keine verliebten Spielereien. Nicht einmal für beiläufige Blicke ist Platz, geschweige denn für große Gesten des Verliebtseins; stattdessen wird das gegenseitige Interesse wie selbstverständlich in den Großmarkt-Alltag integriert. Wer Zeit miteinander verbringen will, der teilt sich eben eine gemeinsame Aufgabe. Wie unsicher Christian außerhalb der sicheren Wände des Marktes ist, zeigt sich, als er sich einmal im „normalen Leben“ Marion annähern will. Selbst einfache Konversation scheint ihm nicht möglich. Wenn es jedoch darum geht, in den Geräuschen eines Gabelstaplers das Rauschen des Meeres zu erkennen – eine der berührendsten Szenen des gesamten Films – findet Thomas Stuber dafür die Poesie erneut innerhalb des Marktes, wo es Christian spielend leicht gelingt, sie an seine Verehrte heranzutragen.
Doch Thomas Stuber widmet sich in „In den Gängen“ nicht bloß der Zweierkonstellation des verliebten Pärchens. Mindestens genauso wichtig sind die vielen Nebenfiguren über deren Hintergründe man genauso kleckerweise Informationen erhält, wie über Christian und Marion. Doch genau diese vorsichtige Annäherung an die Menschen mit ihren kleinen und großen Problemen macht den Film so reizvoll – erst recht, weil es zur Aufgabe des Zuschauers wird, für sich zu erkennen, wie tief die sukzessive offengelegten seelischen Narben der vielen Figuren eigentlich sind. Wenn Stuber im letzten Drittel plötzlich einen der Charaktere radikal aus der Handlung entfernt, steht man genauso ratlos vor dieser Entscheidung, wie der Rest der Markt-Belegschaft, als einem bewusst wird, dass man über Niemanden hier tatsächlich Näheres weiß. Die Verantwortlichen unterstreichen den Eindruck, dass ihre Geschichte vorwiegend aus stiller Beobachtung resultiert, mit ihrer unverfälschenden Inszenierung. Mit vereinzelten Songs untermalen sie lieber alltägliche Arbeitsschritte innerhalb des Großmarkts, um aus der Routine etwas Besonderes zu machen, während Kameramann Peter Matjasko („Herbert“) seiner Arbeit einen dokumentarischen Touch verleiht. Hier wird nichts verfälscht, sondern so stehen gelassen, wie es die Umstände eben vorgeben.
Fazit: Thomas Stubers zurückhaltend inszeniertes Charakterdrama „In den Gängen“ ist in seiner Melancholie bezaubernd, in seinen Beobachtungen präzise und bei aller Traurigkeit wunderschön poetisch. Die allesamt herausragenden Darsteller runden diesen fabelhaften Film ab.
„In den Gängen“ ist ab dem 24. Mai in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.