3096 Tage

Daran, ob man die Erlebnisse eines wahren Martyriums zwecks Unterhaltung auf die große Leinwand bringen darf, scheiden sich die Geister. Nach dem unvollendeten Drehbuch des 2011 verstorbenen Bernd Eichinger versucht 3096 TAGE den Entführungsfall der 1998 verschleppten Natascha Kampusch nachzuerzählen, ohne dabei zu urteilen oder dokumentarisch zu werden. Ob der „Wüstenblume“-Regisseurin Sherry Hormann dieses schwierige Unterfangen gelingt, lest Ihr in meiner heutigen Kritik. 

Der Plot

Am 2. März 1998 wird die zehnjährige Österreicherin Natascha Kampusch auf dem Weg zur Schule verschleppt. Bei ihrem Entführer handelt es sich um Wolfgang Priklopil, einen arbeitslosen Nachrichtentechniker. Bei Nataschas Eltern geht keine Lösegeldforderung ein, denn Priklopil will kein Geld: Er will Natascha besitzen. Acht Jahre lang befindet sich Natascha in der Gewalt eines kranken Mannes, bis ihr eines Tages die Flucht gelingt, Ihr Entführer nimmt sich das Leben und der Entführungsfall Natascha Kampusch geht als einer der spektakulärsten Kriminalfälle Österreichs in die Geschichte ein.

Kritik

Mit „3096 Tage“ schafft es nicht das erste Mal die Verfilmung eines realen Verbrechens auf die große Kinoleinwand respektive den Fernsehschirm. „Der Tanz mit dem Teufel“ thematisierte 2001 den Entführungsfall des Richard Oetker, ein Film wie „From Hell“ macht sich den unheimlichen Charme eines Jack the Ripper zunutze und glaubt man Kultregisseur Tobe Hoper, bediente sich gar der Terrorfilm „The Texas Chainsaw Massacre“ – zumindest teilweise – an wahren Geschehnissen: Stichwort Ed Gein. Seit jeher faszinieren die Menschen wahre Verbrechen, unabhängig davon, wie nah an der Realität diese schlussendlich verfilmt werden. Dass jedoch besonders der Fall Natascha Kampusch vorab für gespaltene Reaktionen unter den Zuschauern sorgen würde, war abzusehen. Zwar sollte sich nach der Zustimmung der Hauptgeschädigten zum Film kaum mehr wer darüber Gedanken machen, ob ebenjene eine derartige Ausschlachtung ihrer Geschichte gewollt hätte – immerhin hat Kampusch den Streifen nicht nur vorab abgesegnet, sondern wirkte auch am Drehbuch mit. Worüber man hingegen streiten kann, ist die Frage nach dem Warum. Warum kehrt Kampusch, die in der Öffentlichkeit immer wieder betonte, kein Opfer zu sein, ihr Innerstes so sehr nach außen und gibt in „3096 Tage“ schließlich auch ihren letzten Rest an Privatsphäre auf, indem sie sogar Sexszenen abnickte, über die sie in ihrem Buch vehement schwieg?

Gleich vorab: Diese Frage beantwortet der Film nicht. Denn „3096 Tage“ urteilt nicht. Er schildert. Und drängt den Zuschauer damit unweigerlich in die Rolle des Voyeurs. Das Publikum kann nur zuschauen und die Ereignisse auf sich wirken lassen. Einen bestimmten Zweck, abseits der Dokumentation des Martyriums, hat der Streifen demnach nicht. Die ganz offensichtlich als Drama angelegte Produktion gibt sich Mühe, keine Emotionen zu provozieren. Dieses Unterfangen könnte ohne die ebenso brillante wie unbekannte Besetzung schief gehen und den Zuschauer kalt lassen, tut es aber nicht. Die Leistungen der Darsteller sind nicht nur auf Weltklasseniveau angesiedelt, sondern vor allem die optische Ähnlichkeit zu den Figuren, auf denen der Film basiert, ist einer der Gründe, weshalb „3096 Tage“ funktioniert. Gerade die kleine Amelia Pidgeon, die Kampusch in der ersten dreiviertel Stunde verkörpert, liefert Schauspielkunst ab, von der sich Kinderdarsteller wie Emma Schweiger eine Scheibe von abschneiden könnten. Schlüsselszene ist eine minutenlange Naheinstellung auf das Gesicht der Jungdarstellerin, das in diesem Moment vor Verzweiflung und Trauer nur so sprüht.

Hinzu kommt eine unaufgregte und extrem sensible Erzählweise. Die meiste Zeit spielt der Streifen in dem drei mal vier Meter großen Verlies, in welches Natascha gesperrt wurde. In modrigem Licht fristet Kampusch hier ihr Dasein und so kommt es, dass auch mal über 20 Minuten schlichtweg nichts passiert. So reiht sich eben kein Ereignis an das nächste, um die Erzählung möglichst zügig voranzubringen. Stattdessen sorgt diese realistische Art der Inszenierung, die dem Zuschauer viel Zeit dafür einräumt, sich früher oder später gedanklich in die Position Kampuschs zu begeben, dafür, dass „3096 Tage“ das Publikum körperlich fordert.  Die von Michael Ballhaus einfangenen Bilder schaffen zudem eine beklemmende Atmosphäre, die die Enge des Verlieses gekonnt einfangen. Dass man den Streifen nicht in diesem einheitlich modrigen Look dreht, sondern die seltenen Aufnahmen außerhalb des Verlieses in besonders grellem Licht erschienen ließ, erhöht die Diskrepanz zwischen den „zwei Welten“, außerhalb des Verlieses und innerhalb. Da wird schließlich ein durch die geschlossene Jalousie fallender Lichtstrahl zu einem Hoffnungsschimmer im wahrsten Sinne des Wortes. Dagegen wirken die grobmotorischen Vergewaltigungsszenen fast fehl am Platz, entwickeln dadurch aber auch erst ihre Durchschlagskraft.

Die zwei Charaktere, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, liefern derweil ein packendes Kammerspiel ab. Auf der einen Seite der Verrückte: Wolfgang Priklopil. Der Norweger Thure Lindhardt („Illuminati“, „The Spiral“) verkörpert den perversen Entführer mit solch einer Boshaftigkeit, dass man als Zuschauer dazu verleitet ist, ihm bei nächster Gelegenheit an die Kehle zu springen. Priklopil ist kein Antagonist oder klassischer Bösewicht, der gerade aufgrund dessen einen gewissen Reiz versprüht (ich nenne es den Hannibal Lecter-Effekt). Priklopil ist einfach gestrickt, niederträchtig und abartig. Einen Zugang zu ihm finden oder gar etwas charmant-böses: unmöglich! Ihm gegenüber steht Antonia Campbell-Hughes („Silent Witness“, „Albert Nobbs“). Bis auf die Knochen abgemagert verkörpert sie ein zerbrechliches Geschöpf, dem es jedoch gelingt, ihr Äußeres nicht nach außen zu kehren. Denn während der Film an sich sämtliche Geschehnisse ohne Ausnahme dokumentiert und öffentlich macht, bleibt über das Innenleben der Natascha Kampusch nahezu alles verborgen. Ihre Handlungen sind widersprüchlich, etwa wenn sie einerseits versucht, Macht über ihren Entführer auszuüben, es ihr aber im letzten Moment schließlich doch nicht gelingen mag. Zusammen mit der Äußerung der „echten Natascha“, dass sie kein Opfer sei, hinterlassen derartige Szenen ein merkwürdiges Gefühl beim Zuschauer.

„3096 Tage“ ist ohne Frage ein ansehnliches Drama, das auf ein Publikum, das sich mit dem Entführungsfall nicht auseinandergesetzt hat, keinerlei Reiz ausüben wird. Der Streifen kommt ohne viel Effekthascherei daher, besitzt kaum Szenerien, die ohne viel Dialog auskommen und zieht seine Wirkung aus dem großartig besetzten Hauptdarsteller-Paar und die Sogwirkung, die ebenjenes auf die Zuschauer ausübt. Dennoch bleibt schlussendlich die Frage nach dem Sinn, den der Film erfüllt. Man erhält eine dokumentarisch anmutende Chronik eines der wohl spektakulärsten Entführungsfälle der Welt. Die qualitativ hochwertige Besetzung verleiht „3096 Tage“ ungeheuer viel Authentizität. Dennoch gab sich Regisseurin Sherry Hormann Mühe, keine Fragen zu beantworten. Stattdessen konfrontiert sie das Publikum mit Ereignissen, die uns der Streifen als wahr verkauft. Ob sie es sind oder hie und da nicht doch der Fantasie von Drehbuchautoren entstammen, bleibt offen. Um in allen Belangen eine glaubwürdige Nacherzählung zu schaffen, hätte es wohl doch eher eine Dokumentation gebraucht.

„3096 Tage“ ist ab dem 28. Februar in den deutschen Kinos zu sehen.