Offenes Geheimnis

Asghar Farhadi sorgte mit all seinen letzten Werken für internationales Aufsehen. Mit OFFENES GEHEIMNIS – im Original: „Everybody Knows“ – durfte er dieses Jahr sogar das renommierte Filmfestival von Cannes eröffnen. Doch wie schlägt sich seine neueste Arbeit im Vergleich zu seinen bisherigen? Das und mehr verraten wir in unserer Kritik.

Der Plot

Anlässlich der Hochzeit ihrer Schwester Ana (Inma Cuesta) reist Laura (Penélope Cruz) von Buenos Aires in ihr spanisches Heimatdorf, wo in wenigen Tagen ein rauschendes Fest steigen soll. Auch Paco (Javier Bardem) ist hier. Mit ihm verbindet sie nicht bloß ihre erste große Liebe, sondern auch einen viele Jahre zurückliegenden Geschäftsdeal, bei dem Laura ihre Anteile vom Familienerbe an ihn verkaufte. Doch darum soll es dieser Tage nicht gehen. Auch nicht um den Neid und die Missgunst gegenüber Paco, der ein gut laufendes Weingut betreibt. Doch am Ende kommt alles anders. Als plötzlich Lauras Tochter spurlos verschwindet und alle Spuren darauf hindeuten, dass sie sich in den Händen brutaler Verbrecher befindet, sind alle persönlichen Fehden für einen Moment unwichtig. Es zählt nur noch, das Mädchen wiederzufinden. Oder hängen die Spannungen innerhalb der Familie und die Entführung irgendwie zusammen..?

Kritik

In den Filmen von Asghar Farhadi („Nader und Simin“, „Le passé“, „The Salesman“) geht es nie ausschließlich um einen einzelnen Konflikt. Stattdessen ist die eigentliche Prämisse grundsätzlich eingebettet in die Studie einer bestimmten Klientel, einer Gesellschaft oder eines Landes. So ist auch „Offenes Geheimnis“ nur vordergründig ein Entführungsthriller. Blickt man hinter die Fassade, so offenbart sich einem eine niederschmetternde Familienchronik, in welcher Probleme und Konflikte viele Jahrzehnte über verschleppt, nicht ausgesprochen und schließlich auch totgeschwiegen werden, bis sie innerhalb weniger Tage allesamt ans Licht kommen. Dieser brodelnde emotionale Mix bildet die erzählerische Grundlage von „Offenes Geheimnis“, worauf Farhadi schließlich einen zwar weitgehend überraschungsarmen, jedoch jederzeit stimmigen und intensiv bebilderten Entführungsplot ausbreitet. Durch die erzählerische Umgebung wird hier jeder zum Verdächtigen. Die möglichen Gründe für die Entführung sind vielfältig und je weiter der Film voranschreitet, desto mehr verstrickt er sich gemeinsam mit seinen Hauptfiguren in Widersprüche. Es ist ein Netz aus Lügen und Geheimnissen, durch das man nur ganz langsam steigt, bis sich am Ende jedes noch so kleine Detail an seine richtige Stelle fügt.

Penélope Cruz und Javier Bardem spielen die Hauptrollen in Asghar Farhadis „Offenes Geheimnis“.

Sowohl der englische Originaltitel, als auch die deutsche Übersetzung treffen den Kern des Inhalts, aber auch eine bestimmte Schwäche des Films sehr genau: Das Geheimnis ist hier tatsächlich sehr offen(sichtlich) und nicht bloß von den Menschen auf der Leinwand weiß ziemlich schnell jeder, welches Mysterium die Familie hier eigentlich umgibt. Aber so viel muss auch gesagt werden: Letztlich geht es in „Offenes Geheimnis“ gar nicht zwingend um das ohnehin Offensichtliche, sondern eher darum, wie das Eine zum Anderen führt. So entwickelt sich der Reiz des Films vor allem dann, wenn man langsam zu bemerken meint, dass hier tatsächlich jeder irgendwie in die Entführung involviert zu sein, oder dass die, die es nicht sind, trotzdem auf irgendeine Art und Weise davon profitieren. Die Einzige, die mit all dem bislang noch nichts zu tun hatte (die aber bereits in einer frühen Szene hinter bedeutsame Details des alles umfassenden Geheimnis gekommen zu sein scheint), ist die Tochter. Und sie ist es schließlich auch, die in dieser ganzen Geschichte das größte Leid durchzumachen hat. Fast scheint es so, als wolle Asghar Farhadi, der erneut auch das Drehbuch zu seinem Film verfasst hat, aufzeigen, dass es kein Entkommen vor den Geistern der eigenen Familie gibt. Ist man in sie hineingeboren, trägt man sie zwangsläufig mit; „Offenes Geheimnis“ ist in diesem Jahr also so etwas wie das „Hereditary“ unter den Dramen.

Was Asghar Farhadi dagegen nicht ganz so gut gelingt, ist es, die vielen losen Handlungsfäden und (sowohl richtige, als auch falsche) Fährten miteinander zu verknüpfen. Die im Mittelpunkt des Geschehens stehende Familie besteht zwar nicht umsonst aus so vielen Mitgliedern, von denen jedes unterschiedlich zu den anderen steht, dadurch Motive haben könnte, oder eben auch nicht, und generell ganz eigene Auswirkungen auf die Familiendynamik haben. Doch wo Farhadi an der einen Stelle sehr präzise Beobachtungen anstellt, die winzige charakterliche Details einzelner Figuren offenlegen, bleibt er anderswo zu vage und streut so schon allein durch seine unausgewogene Betrachtung der Charakterkonstellation unbewusst Brotkrumen dahingehend, was es mit der ganzen Entführung auf sich haben könnte. Als klassischen Whodunit soll man „Offenes Geheimnis“ vermutlich eh nicht bewerten, aber dem Film geht dadurch seine zeitweise aufgebaute Spannung ab, obwohl sie das eigentlich nicht müsste. So ist Farhadis Film zunächst Krimi und dann immer mehr Drama, könnte aber ebenso gut auch beides auf einmal und dadurch vermutlich noch viel stärker sein.

Laura und Paco haben sich seit Ewigkeiten nicht gesehen.

Auch wenn es Penélope Cruz („Mord im Orient Express“) als aufopferungsvolle und zutiefst besorgte Mutter hin und wieder mit ihrem Spiel übertreibt, bildet sie mit ihrem echten Ehemann Javier Bardem („mother!“) als ihre ehemalige Jugendliebe und immer noch enger Vertrauter ein stimmiges und sich tonal größtmöglich voneinander unterscheidendes Hauptdarstellerpaar. Während Laura die Suche nach ihrer Tochter zunächst auf den oberflächlichen Part beschränkt und vor allem nach Tätern von außen sucht (oder nur so tut, als würde sie diese suchen, weil sie ohnehin weiß, wer es war?), ermittelt Paco bald auch in inneren Kreisen und macht es dadurch ebenso schnell glaubwürdig, dass die Kidnapper familienbezogene Wurzeln haben könnten. Mit seiner betont nüchternen Inszenierung, von der sich die bisweilen regelrecht hysterisch aufspielende Cruz umso stärker abhebt, verankert Farhadi das Geschehen so gut es geht im Hier und Jetzt der Realität. Vielleicht ein Wink mit dem Zaunpfahl: in jeder Familie liegen schließlich irgendwelche Leichen im Keller. Einzig die fast schon märchenhafte Atmosphäre, die von dem spanischen Dorf ausgeht, erlaubt dem Zuschauer ein Hauch der Distanz, doch gleichzeitig wirkt der Kontrast zwischen Urlaubsidylle und Entführungsalbtraum umso stärker. Asghar Farhadi ziht einfach jedes mögliche Register, um die ohnehin diffuse Spannung in „Offenes Geheimnis“ noch breiter zu streuen und den Ausgang seiner Geschichte dadurch so lange wie möglich offen zu lassen. Unter diesem Aspekt wirkt ebendieser am Ende fast schon wieder enttäuschend – oder eben wie ein ordentliches Understatement.

Fazit: In „Offenes Geheimnis“ schildert Asghar Farhadi eine dramatische Entführung auf ganz ungewohnte Weise, indem er diese lediglich zum Anlass nimmt, in die charakterlichen Untiefen einer Familie vorzudringen. Das Ergebnis ist in seiner betonten Ruhe extrem beklemmend.

„Offenes Geheimnis“ ist ab dem 27. September in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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