Old

Ein neuer Film vom einst als „Regiewunderkind“ gefeierten Filmemacher M. Night Shyamalan gleicht immer dem Griff in eine Wundertüte. So auch bei OLD, einer melancholischen Abhandlung über das Älterwerden. Ob der häufig auf sein Dasein als Twistrider reduzierte Regisseur diesmal überzeugt oder danebenliegt, das verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Eigentlich sollte es ein paradiesischer Familienurlaub werden. Doch als das Elternpaar Guy und Prisca (Gael García Bernal, Vicky Krieps) mit seinen beiden Kindern Trent und Maddox sich auf Empfehlung des Hoteldirektors an einem einsamen Strand erholen will, geraten sie in den Bann eines schockierenden Phänomens: Sie werden rasend schnell alt. In wenigen Minuten altern sie mehrere Jahre. Und mit ihnen auch die zahlreichen anderen Besucherinnen und Besucher dieses abgeschiedenen Ortes. Während sich innerhalb der Gruppe langsam der Wahnsinn breit macht, bis es niemand mehr wagt, dem Anderen zu vertrauen, versuchen ein paar von ihnen dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Dazu müssen sie erst einmal herausfinden, weshalb gerade sie ausgewählt wurden. Zufall? Schicksal? Mit der Zeit erkennen die Gefangenen Gemeinsamkeiten in ihrer Lebensgeschichte. Doch der Ursprung all dessen ist viel schockierender, als sie ahnen könnten…
Kritik
Regisseur und Drehbuchautor M. Night Shyamalan ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Wundertüte. Dabei meint man als halbwegs erfahrener Filmfan eigentlich schon grob zu wissen, was einen wohl erwartet, wenn man ein Kinoticket für einen Film des indischen Filmers löst. Bekannt wurde dieser nämlich durch seinen Neunzigerjahre-Kultfilm „The Sixth Sense“, mit dem er das inszenatorische Gimmick des „Twists“ – also einer unvorhergesehenen Handlungswendung – auf ein neues Level hob. Seither gilt das Psychodrama, in dem Haley Joel Osment alias Cole Bruce Willis einst Visionen von toten Menschen offenbarte, als Inbegriff der erzählerischen Überraschung. Für Shymalan Fluch und Segen zugleich. Der Grund: All seine nächsten Filme – von „Unbreakable – Unzerbrechlich“ über „Signs – Zeichen“ bis hin zu „The Visit“ – mussten sich in der Rezeption häufig die Reduktion auf ihren Überraschungseffekt gefallen lassen. Wer in einen Shyamalan-Film geht, der erwartet am Ende eine spektakuläre Wendung – und sei diese nur die, dass sich ein Film plötzlich als die Fortsetzung eines anderen entpuppt (Stichwort: „Split“). Diese Art der Herangehensweise hat Shymalan mit Filmen wie „The Village – Das Dorf“ sicher auch selbst befeuert (und sich in „Das Mädchen aus dem Wasser“ überdeutlich an der schreibenden Presse abgearbeitet), doch was nicht selten unter den Tisch fällt sind der Unterhaltungswert und – allen voran – die Subtexte der von Shyamalan erzählten Geschichten. Schon „The Sixth Sense“ war im Kern eine Auseinandersetzung mit dem Tod, „Signs“ eine Abhandlung über die Angst vor dem Fremden und „Glass“ – so misslungen er auch gewesen sein mag – ein Gegenentwurf zum modernen Superheldenkino. Was ist nun also „Old“?

Guy (Gael García Bernal) und seine Frau Prisca (Vicky Krieps) ahnen, dass an diesem Strand etwas nicht stimmt…
Zunächst einmal ist „Old“ nach dieser anfänglichen Beschreibung des „Mysteriums M. Night Shyamalan“ durch und durch ein Film, den man kaum jemand Anderem zutrauen würde. Nur wenige Filmemacher:innen trauen sich heutzutage noch, in ihren Filmen „einfach mal zu machen“, ohne sich ihre Herangehensweise von einem großen Filmstudio diktieren zu lassen. Und was dabei herauskommt, wenn sich Shymalan sehr wohl kreativ einschränken muss, dafür ist etwa das kläglich gescheiterte Will-Smith-Vehikel „After Earth“ das beste Beispiel. In „Old“ kann der Autorenfilmer endlich mal wieder freidrehen; Zumindest den Umständen entsprechend. Denn sein Survival-Horrordrama basiert lose auf Pierre-Oscar Lévys und Frederick Peeters Graphic Novel „Sandcastle“, die Shymalan einst von seinen Töchtern geschenkt bekam und zu seiner jüngsten Arbeit maßgeblich inspiriert haben soll. Auch wenn er manche Details wie etwa die Figurenkonstellation für die Übertragung auf die Leinwand abänderte, so besinnt er sich doch im Kern auf ähnliche Themen: Ängste, Tod und vor allem die Furcht vor dem Älterwerden, die Shymalan selbst häufig im Hinblick seiner alternden Eltern überkommt. Trotzdem beginnt „Old“ erst einmal leichtgängig. Wir lernen die im Zentrum der Geschichte stehende Familie kennen, erkennen früh, dass es hinter der harmonischen Fassade große Probleme gibt und auch, dass innerhalb dieser vierköpfigen Gemeinschaft längst ein allgemeines Wissen über den zerrütteten Zustand derselben existiert. M. Night Shymalan – so ironisch dies im Zusammenhang mit seinen Arbeiten auch klingen mag – spielt von Anfang an mit offenen Karten. Dasselbe gilt für die Zeichnung sämtlicher anderer Charaktergruppen, die im weiteren Handlungsverlauf noch hinzukommen. Auch wenn er dafür mitunter Dialoge zurate zieht, die einzig und allein dem Zweck des Erklärens dienen. Nun denn: Das gesprochene Wort war an Shyamalans Arbeiten nie die größte Stärke.
„M. Night Shymalan – so ironisch dies im Zusammenhang mit seinen Arbeiten auch klingen mag – spielt von Anfang an mit offenen Karten.“
Doch nicht nur die Fassade der Protagonistenfamilie bröckelt von Anfang an, auch der Urlaubsort offenbart zahlreiche Widerhaken. So azurblau das Meer lockt, so verführerisch die Cocktails und Candybars den Touristinnen und Touristen Genuss versprechen, so sehr reißen Bilder wie der plötzliche, aus medzinischer Sicht allerdings vollkommen unrealistisch dargestellte Grand-Mal-Anfall von Epilepsiepatientin Patricia (Nikki Amuka-Bird) oder die missmutigen Blicke anderer Gäste die vermeintliche Idylle ein. Shyamalans Kameramann Mike Gioulakis (dass dieser auch Jordan Peeles „Wir“ fotografiert hat, ist in vielen Momenten sichtbar) unterstützt dieses sich subversiv aufbauende Unbehagen, indem er eine Szenerie häufig mehrmals abfilmt, um zu suggerieren, dass sich hier entweder in kurzer Zeit etwas verändert hat oder es aber noch deutlich mehr zu entdecken gibt als beim ersten Schwenk angedeutet. Ein Mechanismus, den Gioulakis bisweilen auch überstrapaziert, aber er erweist sich doch als weitaus angenehmer als etwa die Verwendung klassischer Jumpscares, um das Publikum damit in eine ständige Hab-Acht-Haltung zu drängen. Wenngleich sich „Old“ sogar grob dem Genre des Horrorkinos zuordnen lässt – in etwa vergleichbar mit den frühen Filmen eines Yorgos Lanthimos („The Killing of a Sacred Deer“), die immer auch mit Genremotiven gespielt haben, ohne sie ausschließlich zu bedienen – geht M. Night Shymalan gewohnt behutsam vor, um sein Publikum in Unsicherheit zu wiegen. So kristallisiert sich alsbald heraus, dass nicht die Prämisse selbst hier das Horrorszenario ist, sondern all das, wofür sie steht. Denn natürlich ist es auf den ersten Blick verdammt schockierend, wenn ein eben noch wenige Jahre altes Kind wenige Sekunden später das Antlitz eines Teenagers besitzt. Betrachtet man die Geschichte allerdings aus den Augen eines um die körperliche Gesundheit seiner Eltern besorgten Filmemachers, so lässt sich hieraus vor allem eines Ableiten: Nicht das Altern ist schockierend, sondern der Gedanke daran, dass es nicht aufzuhalten ist. Und so versteht sich „Old“ in erster Linie als ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit, eingebettet in eine an „Herr der Fliegen“ erinnernde Versuchsanordnung darüber, was passiert, wenn plötzlich mehrere fremde Menschen an einem unbeobachteten Ort sind und partout nicht mehr von hier weg können.
Der Trailer verkauft „Old“ bisweilen als Horrorfilm. Aus Marketingsicht liegt das nah – schließlich wurden schon andere Filme Shyamalans fälschlicherweise dem Gruselkino zugeordnet, obwohl sie, mit Ausnahme von „The Visit“, längst nicht nur in diesem Genre verortet sind. Obwohl philosophische Fragestellungen über die Zeit, die Notwendigkeit des Alterns, den Sinn von Krankheiten und die (mal mehr, mal weniger tiefsinnige) Auseinandersetzung mit der Wichtigkeit familiärer Bindungen „Old“ klar dominieren, der Film also über weite Stellen vorwiegend Drama ist, gibt es immer wieder graphische Szenen, die schon allein durch ihre Idee schockieren. In einer Szene etwa werden Erinnerungen an eine mittlerweile legendäre Sequenz aus Luca Guadagninos Neuinterpretation des Schauerklassikers „Suspiria“ wach (stellt euch vor, mehrere Knochenbrüche verheilen ohne medizinische Versorgung in Sekundenschnelle – da wächst nun mal nicht alles so zusammen, wie es eigentlich soll!), in einer anderen schockieren der Zeitraffer-Ablauf einer Schwangerschaft mit anschließender Geburt, oder eine in Windeseile stattfindende Vergiftung. Eiskalt über den Rücken läuft es einem allerdings immer dann, wenn die Menschen wieder und wieder an ihrem – mitunter nur minimalen – Körperverfall realisieren, wie wenig Zeit ihnen ihren Berechnungen zufolge noch bleibt. Ebenjene Berechnungen, Abwägungen ob der hier stattfindenden Ereignisse, die Bemühung um Lösungsansätze und das wiederholte, klägliche Scheitern fallen hier und da einmal mehr den unterdurchschnittlichen Schreibfähigkeiten Shyamalans zum Opfer – aber auch der deutschen Synchronisation! Diese wirkt aus gleich mehreren Gründen mit allzu heißer Nadel gestrickt. Zum Einen, weil sich die Soundqualität arg blechern anhört* und sich überhaupt nicht homogen in die restliche Soundkulisse fügt, zum Anderen, weil die platten Übersetzungen die ohnehin nur bedingt vorhandene Subtilität zusätzlich boykottieren. Wenn etwa in einer Szene zwei Menschen einfach nur ein intimes Gespräch führen, sind die beiden auf der deutschen Tonspur kurz vor einer lautstarken Auseinandersetzung. Stärker könnte eine Synchro die Intention des Originals nicht verfälschen.
„Obwohl philosophische Fragestellungen über die Zeit, die Notwendigkeit des Alterns, den Sinn von Krankheiten und die Auseinandersetzung mit der Wichtigkeit familiärer Bindungen „Old“ klar dominieren, der Film also über weite Stellen vorwiegend Drama ist, gibt es immer wieder graphische Szenen, die schon allein durch ihre Idee schockieren.“
Unter den Darsteller:innen liegt der Fokus klar auf Vicky Krieps („Der seidene Faden“) und Gael García Bernal („Salt and Fire“) als dysfunktionales Ehepaar. Wie die beiden ihre Differenzen krampfhaft vor den Kindern geheim halten wollen, schließlich aber doch mit offenen Karten spielen und schlussendlich durch die Situation an sich wieder zusammenwachsen, entspricht zwar gängigen Katastrophenfilmmotiven, wird von den beiden allerdings so überzeugend dargeboten, dass es dennoch mitreißt. Den Jugenddarstellern ihrer Sprösslinge Maddox (Thomasin McKenzie, „Jojo Rabbit“) und Trent (Alex Wolff, „Hereditary“) gelingt es derweil, die Manierismen der Kinderdarsteller eins zu eins auf ihre Performance zu übertragen. Auch das Casting mehrerer Darsteller:innen für verschiedene Altersklassen ist gelungen. „Mad Max: Fury Road“-Star Abbey Lee kommt leider die undankbare Rolle der hysterischen Fitness-Fanatikerin zu, die hin und wieder arg an der Karikatur kratzt (auch hier wieder der Verweis, dass die deutsche Synchronisation diesen Eindruck verfremden könnte). Der Rest des Ensembles agiert routiniert und vollends im Sinne ihrer hier verkörperten Figuren. Und obwohl manch einer von ihnen im Laufe der viel zu kurzen Zeit eine Maske fallen lässt, von denen er vielleicht gar nicht wusste, dass er sie bis dato trug, wächst einem die Gesamtkonstellation hier doch ans Herz. Genauso wie M. Night Shyamalan, der sich in einem Gastauftritt ausgerechnet die Rolle desjenigen sichert, der die Gäste in ihr Verderben schickt. Dieser Mann weiß genau, was für Filme er dreht…
Fazit: Der neue Shyamalan ist eine echte Herausforderung. Twist ja, aber mit einem völlig anderen Zweck als gewohnt. Ein Film, der straight und kompromisslos, aber auch zurückhaltend sein Ziel verfolgt – und im Kern doch ziemlich traurig ist. Herr-der-Fliegen-Vibes und einige ansehnliche Bodyhorror-Spitzen gibt’s on top.
„Old“ ist ab dem 29. Juli 2021 in den deutschen Kinos zu sehen.
*Dass der blecherne Klang nicht etwa ein Problem des Hamburger Pressescreening-Kinos war, sondern der Produktion selbst, ließ sich im Anschluss daran festmachen, dass der Sound auch in anderen Lichtspielhäusern so klang!