Relic

Das Horrordrama RELIC feierte seine Weltpremiere auf dem Sundance Filmfestival – und das als Genrefilm, wohlgemerkt. Das lässt Filmliebhaber aufhorchen. Und tatsächlich bekommen die es hier mit einem weiteren symbolisch aufgeladenen Grusler zu tun, der unter seiner buchstäblichen Oberfläche viel mehr verbirgt als einen bloßen Schocker. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Kay (Emily Mortimer) und ihre Tochter Sam (Bella Heathcote) besuchen das Haus ihrer Mutter und Großmutter Edna (Robyn Nevin), das am Stadtrand mitten in einem Wald liegt. Von ihren Nachbarn haben sie die besorgte Nachricht erhalten, dass Edna schon lange nicht mehr gesehen wurde, weshalb die beiden Frauen vom Schlimmsten ausgehen. Tatsächlich finden sie das Haus leer vor. Die Wände und das Obst auf dem Tisch sind von Schimmel übersäht. Außerdem hat Edna kurz vor ihrem Verschwinden neue Schlösser an Fenstern und Türen angebracht sowie verschiedene Notizen im Haus verteilt, die von einfachen Erinnerungen wie „Pillen einnehmen“ bis hin zu bedrohlichen Anweisungen wie „folge ihm nicht“ reichen. Doch da Edna an Demenz leidet, können Mutter und Tochter nicht mit Gewissheit sagen, dass all das nichts mit ihrer Krankheit zu tun hat. Ein paar Tage später taucht Edna überraschend wieder auf, hat allerdings keine Erinnerungen daran, wo sie in der Zwischenzeit gewesen ist. Und das ist nicht das einzig Merkwürdige an der Geschichte…
Kritik
Jake Gyllenhaal („Stronger“) und die Russo-Brüder („Avengers: Endgame“) befinden sich derzeit an völlig unterschiedlichen Stationen innerhalb ihrer Karriere. Während der eine schon seit Jahren verzweifelt darum spielt, endlich seine längst überfällige Oscar-Nominierung zu erhalten, sitzen die anderen beiden gerade an ihrem ersten Spielfilm nach ihren furiosen Beiträgen zum Marvel Cinematic Universe, wodurch die Messlatte für ihr nächstes Werk natürlich recht hoch liegt. Nun kommen diese beiden Parteien aber erst einmal zusammen, denn sowohl Gyllenhaal als auch Anthony und Joe Russo sahen das Potenzial in Natalie Erika James‘ Langfilmdebüt „Relic“, das Anfang des Jahres auf dem Sundance Filmfestival seine Weltpremiere feierte. Beide begleiteten das Projekt als Produzenten, verhalfen ihm also unter anderem zum notwendigen Kleingeld, wobei „klein“ hier tatsächlich wörtlich zu verstehen ist. Mit den Budgets eines „Infinity War“ oder „Endgame“ kann „Relic“ natürlich nicht mithalten; genauso wenig mit den Einspielergebnissen, die sich bislang auf rund eine halbe Million Dollar belaufen. Doch das Horrordrama, das von einschlägigen Seiten bereits als geistiger Nachfahre von „Hereditary“ bezeichnet wird, könnte sich als Geheimtipp und Sleeperhit erweisen, wenn sich erst einmal herumgesprochen hat, dass der Film tatsächlich nicht allzu weit von „Der Babadook“, „It comes at Night“ oder eben auch „Hereditary“ entfernt ist.

Drei Generationen: Großmutter Edna (Robyn Nevin), Tochter Kay (Emily Mortimer) und Enkelin Sam (Bella Heathcote).
Beobachtet man die aktuellen Horrorfilmtrends entdeckt man neben diversen Sequels und Remakes, Netflix-Serien und mal mehr, mal weniger gelungenen Blumhouse-Billigproduktionen (was in diesem Fall übrigens keineswegs abfällig gemeint sondern einfach eine Tatsache ist) vor allem eine Art „neuen intellektuellen Horror“. Die zum Vergleich mit „Relic“ herangezogenen Kandidaten erzählen in erster Linie von Verlust, Trauer und der Angst vor dem anderen. Erst in zweiter Instanz wollen sie den Zuschauer über klassische Horrorfilmmechanismen schockieren. Ergänzt man diese Auflistung zudem mit ähnlich Gelagertem wie „Midsommar“, „Get Out“ oder „Suspiria“ kommen sogar noch toxische Beziehungen sowie der Konflikt zwischen Individualismus und Gruppenzwang, Rassismus und die politischen Unruhen des deutschen Herbstes hinzu. Gewiss: Der Horrorfilm hat sich schon immer vom weltpolitischen Geschehen beeinflussen lassen, doch selten kamen dabei Filme heraus, die sich nicht (nur) an den adrenalingierigen Mainstreamzuschauer, sondern vor allem an Fans tiefgründiger Geschichten – oder nennen wir es der Einfachheit halber einfach „an ein Arthousepublikum“ – richten. „Relic“ lässt sich nun – mehr noch als alle anderen – am schwersten in die Karten schauen. Noch lange nachdem der Abspann über die Leinwand respektive den Fernseher gerollt ist, weiß man als Zuschauer nicht so recht, ob das gerade Gesehene nun (auch) klassischer Horror, oben eben doch vorwiegend Symbolik war. So viel lässt sich sagen: „Relic“ erzählt von dem schmerzhaften Schicksal einer Demenzkranken und – vor allem – ihren sie umsorgenden Familienmitgliedern, die mit der Situation völlig überfordert sind.
„‚Relic‘ lässt sich schwer in die Karten schauen. Noch lange nachdem der Abspann über Leinwand respektive den Fernseher gerollt ist, weiß man als Zuschauer nicht so recht, ob das gerade Gesehene nun (auch) klassischer Horror, oben eben doch vorwiegend Symbolik war.“
Von den rund eineinhalb Stunden Laufzeit dauert es über sechzig Minuten, bis sich immerhin so halbwegs abzeichnet, dass sich hinter den Verwirrtheitszuständen von Großmutter Edna möglicherweise nicht bloß die typischen Demenzsymptome verbergen, sondern dass sie vor irgendetwas Angst hat, was so gar nichts mit ihrer Krankheit zu tun hat. Die Zeit davor ist zweifellos die intensivere. Denn wenn die alte Frau eines Tages wie tot – vollkommen leblos und mit aschfahlem Gesicht – wieder vor Tochter und Enkelin steht und das Erstaunen der beiden Frauen über ihre plötzliche Anwesenheit überhaupt nicht wahrzunehmen scheint, dann schwankt man als Zuschauer gleichermaßen zwischen Unbehagen und Mitleid. Robyn Nevin („Gods of Egypt“) spielt die ihren eigenen Sinnen nicht mehr trauende Großmutter nämlich nicht bloß absolut undurchschaubar – man versteht sofort, weshalb es Kay und ihrer Tochter so schwer fällt, mit ihrer geistig ständig abwesenden Mutter respektive Großmutter zu kommunizieren – sondern hat eben auch einfach das notwendige äußere Erscheinungsbild, um sowohl als eine Art „Gruselfigur“ zu funktionieren als auch als bemitleidenswertes Opfer ihres dahinscheidenden Erinnerungsvermögens. So wirken Szenen in denen Edna nachts in der Küche steht und ihr Gesicht hinter ihrer langen weißen Haarpracht verdeckt („Ring“-Samara lässt grüßen!) eben nicht einfach nur gruselig, sondern über allem schwebt die Frage, ob ein Gefühl von Grusel hier überhaupt angebracht ist, wenn „Relic“ letztlich doch „nur“ die tragische Geschichte eines aufgrund einer Demenzdiagnose sukzessive auseinander brechenden Familiengefüges erzählt.
Der bis zuletzt ausnahmslose Verzicht auf Jumpscares – selbst im letzten Drittel, wenn die Ereignisse eskalieren (sofern man davon überhaupt sprechen kann), setzt Regisseurin Natalie Erika James nie auf billige Schockmomente – unterstreicht den primären Dramacharakter von „Relic“. Wenngleich in Richtung Finale vor allem mit den ästhetischen Methoden klassischer Horrorinszenierung gearbeitet wird (das Feeling, das Kameramann Charlie Sarroff mit seiner Arbeit heraufbeschwört, kann sich mit John R. Leonettis Arbeit in „Conjuring“ locker messen lassen), nimmt das nie den Fokus von der tieftragischen Geschichte, die wiederum die bisweilen unerträgliche Spannung unterstützt. Die Andeutungen einer übernatürlichen Präsenz und die Möglichkeit, dass genau das alles nur eine ganz furchtbare Nebenerscheinungen der Demenz ist, befruchten einander gegenseitig. Das macht „Relic“ für die Adrenalinjunkies unter den Horrorfans weitestgehend uninteressant, doch wem noch „Hereditary“ oder „It comes at Night“ zu sehr aufs Genre schielten, der sollte spätestens hieran seine absolute Freude haben.
„Robyn Nevin spielt die ihren eigenen Sinnen nicht mehr trauende Großmutter nicht bloß absolut undurchschaubar, sondern hat eben auch einfach das notwendige äußere Erscheinungsbild, um sowohl als eine Art „Gruselfigur“ zu funktionieren als auch als bemitleidenswertes Opfer ihres dahinscheidenden Erinnerungsvermögens.“
Vermeintliche Versprechungen wie etwa das auf unheimliche Klopfgeräusche aus den Wänden oder verrückte Möbel zwangsläufig etwas Böses folgen muss, lösen die Macher hier selbstbewusst gar nicht erst ein, sondern wählen stattdessen einen ganz eigenen Ansatz, um die rätselhaften Vorkommnisse zu erklären. Und die Auflösung des Ganzen geht dann sogar mehr ans Herz, als viele klassische Dramen über Demenz.
Fazit: In „Relic“ trifft ein tieftrauriges Demenzdrama auf eine klassische Geisterhausgeschichte. Beide Elemente beflügeln sich gegenseitig, sodass man am Ende gar nicht weiß, ob man das alles nun verdammt traurig oder echt gruselig finden soll.
„Relic“ ist voraussichtlich ab Oktober auf DVD, Blu-ray und als VOD erhältlich.