Tully

Nach seinem mit „#Zeitgeist“ enttäuschenden Ausflug ins World Wide Web, widmet sich Jason Reitman mit TULLY wieder einer Geschichte im Hier und Jetzt und überzeugt einmal mehr durch eine beeindruckende Lebensnähe. Mehr dazu verrate ich in meiner Kritik.

Der Plot

Marlo (Charlize Theron) hat gerade erst ihr drittes Kind bekommen, als ihr Bruder Craig (Mark Duplass) ihr ein besonderes Geschenk macht: Eine „Night nanny“, die sich nachts um die Kinder kümmern soll, damit sich Marlo und ihr Mann Drew (Ron Livingston) von den Strapazen des Tages erholen können. Marlo ist zunächst skeptisch gegenüber dem Gedanken, Hilfe von einer fremden Person anzunehmen, doch als sie die junge, schlaue und witzige Nanny namens Tully (Mackenzie Davis) kennenlernt, entwickelt sich eine einzigartige Freundschaft zwischen den beiden Frauen und Marlo blüht das erste Mal seit Jahren so richtig auf…

Kritik

Mit „Thank You For Smoking“, „Juno“ und „Up in the Air“ hat sich der kanadische Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Jason Reitman direkt zu Beginn seiner Karriere einen Namen als auf realitätsnahe Inszenierungen spezialisierter Filmemacher gemacht. Dann folgten mit „Labor Day“ und „#Zeitgeist“ ausgerechnet zwei bei der Kritik weniger positiv aufgenommene Arbeiten direkt aufeinander und das mühevoll aufgebaute Renommee war futsch. Dabei überzeugte die zaghaft-romantisch inszenierte, ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen einem Geiselnehmer und seiner Geisel immerhin uns noch so sehr, dass wir „Labor Day“ 2013 zu unseren Lieblingsfilmen des Jahres zählten, während „#Zeitgeist“ leider viel zu bemüht das Thema der digitalen Vernetzung anging, um an die leichtfüßig-selbstverständliche Erzählweise anzuknüpfen, mit der sich Reitman seine treue Fangemeinschaft aufbauen konnte. Zwischen „#Zeitgeist“ und seinem neuesten Langspielfilm „Tully“ ließ er nun bewusst vier Jahre vergehen, inszenierte zwischendurch einige Episoden der TV-Serie „Casual“, produzierte das immens unterschätzte Jake-Gyllenhaal-Vehikel „Demolition“ und kehrt nun zu seinen Ursprüngen zurück, um sich zugleich völlig neu zu erfinden. „Tully“, in dem er nach „Young Adult“ ein weiteres Mal auf Charlize Theron („Gringo“) als Hauptdarstellerin zurückgreift, ist pures Reitman-Kino und doch eine grundlegende Abkehr davon. Auf Letzteres wollen wir aus Spoilergründen nicht allzu detailliert eingehen, wichtig ist ohnehin nur eines: „Tully“ ist selbst unter den unangepasst-authentischsten Programmkino-Beiträgen immer noch eine Ausnahmeerscheinung – genauso wie Charlize Theron selbst.

Marlo (Charlize Theron) as Marlo and und ihr Sohn Jonah (Asher Miles).

Um sich die Wandelbarkeit der gebürtigen Südafrikanerin einmal vor Augen zu führen, muss man den Blick auf Charlize Therons Vita gar nicht bis zu ihrem ultimativen Durchbruch im Jahr 2003 zurückschweifen lassen, als sie für ihre Weltklasse-Performance „Monster“ den Oscar als beste Hauptdarstellerin erhielt. Allein in den vergangenen vier Jahren mimte sie die toughe Actionheldin („Mad Max: Fury Road“, „Atomic Blonde“), die knallharte Schurkin („Fast & Furious 8“), die Boss Bitch („Gringo“) das zerbrechliche Opfer („Dark Places“) und machte an der Seite von Seth McFarlane Faxen bis weit unterhalb der Gürtellinie („A Million Ways to Die in the West“). So abgegriffen diese Formulierung auch sein mag, so sehr trifft sie im Falle Therons den Nagel auf den Kopf: Diese Frau kann einfach alles spielen! Insofern ist es ein Glücksfall, dass Jason Reitman sie für die Verkörperung der dreifachen Mutter Marlo gewinnen konnte, denn ohne die einnehmende Präsenz und ihren Mut zur völligen Selbstaufgabe, wäre ein Film wie „Tully“ gar nicht möglich. Als zunächst Hochschwangere und später frisch gebackene Dreifach-Mum kennt Theron keine Hemmungen, wenn es darum geht, die Strapazen, denen sich der weibliche Körper vor, während und nach der Geburt ausgesetzt sieht, glaubhaft auf die Leinwand zu bringen. Den vielzitierten „Mut zur Hässlichkeit“ muss Theron dabei gar nicht aufbringen – womit sie punktet, ist ein Mut zur Normalität abseits hochglanzbildtauglicher Leinwand-Happiness. „Tully“ ist letztlich der weitaus subtilere Beitrag zur „Liebe deinen Körper“-Bewegung – davon können sich die Macher von „I Feel Pretty“ noch etwas abschauen.

Passend dazu steht in „Tully“ kein bestimmtes Ereignis im Mittelpunkt. Jason Reitman wirft vielmehr einen ausführlichen Blick auf den Alltag einer ganz gewöhnlichen Familie. Selbst die Anstellung der engelsgleichen Nacht-Nanny Tully bringt das sehr stabile Gefüge nicht groß durcheinander und ist damit kein „Konflikt“ im eigentlichen Sinne, wenn auch der treibende Handlungsmotor. Drehbuchautorin Diablo Cody (schrieb auch schon die Skripte zu „Juno“ und „Young Adult“) nutzt ihr Auftauchen, um Ordnung in das (vor allem emotionale) Chaos zu bringen. Nun wirft das die Frage auf, inwiefern der Luxus einer solchen Nanny denn etwas mit dem echten Leben zu tun hat – nur die wenigsten Familien der Mittelschicht (wo übrigens auch „Tully“ spielt) können sich schließlich die Hilfe einer Babysitterin leisten. Doch Cody unterwandert diese angebrachte Kritik nicht bloß mit einer cleveren Pointe, sondern macht gleichermaßen deutlich, dass es gar nicht darum geht, emotionale Stabilität mit Perfektion gleichzustellen. Stattdessen gibt sie sich voll und ganz den verborgenen Sehnsüchten ihrer geschätzten Protagonistin hin, der von Tully nicht etwa die besonders schwierigen Aufgaben als Mutter abgenommen werden – im Gegenteil. Die junge Frau, von der man – aus gutem Grund – kaum etwas erfährt, greift Mutter Marlo zwar unter die Arme, Jason Reitman inszeniert diese liebevolle Fürsorge jedoch zu jedem Zeitpunkt als intimes Miteinander unter den beiden Frauen. Schlussendlich lernen sie von der jeweils Anderen Lektionen fürs Leben. Die offenen, authentischen Dialoge tun ihr Übriges, um die per se durchaus abgehobene Prämisse im Hier und Jetzt zu verankern.

Mackenzie Davis beeindruckt in der titelgebenden Rolle der Nacht-Nanny Tully.

Worauf genau die bereits erwähnte Pointe von „Tully“ hinausläuft, sei an dieser Stelle zwar nicht verraten, doch auch ohne näher auf den Inhalt einzugehen, ist sie für eine Regiearbeit Jason Reitmans durchaus als Risiko zu verstehen. Anders als seine bisherigen Filme verlässt sich der kanadische Regisseur diesmal auf die Funktionalität einer bestimmten Idee – doch da er diese sehr subtil und dennoch eindeutig vorbereitet, gewinnt „Tully“ im Finale noch einmal an Durchschlagskraft hinzu. Sie offenbart die ganze Tragik der Geschichte, die Marlo stellvertretend für viele Frauen durchlebt und gibt damit ein klares Statement ab, das es – in komprimierter Form – auch als Tagline auf das deutsche Kinoplakat geschafft hat: So schön das Mutterglück doch ist, es ist hin und wieder doch verdammt hart. Und in Szenen, in denen ausgerechnet eine Charlize Theron ihre vom Stillen versehrten Brüste entblößt, oder sich mit ihrem autistischen Sohn Jonah (Asher Miles Fallica) auseinandersetzen muss, wird die ganze Bandbreite dieser Tatsache deutlich, der Jason Reitman trotzdem mit einer ehrfürchtigen Wärme entgegentritt. Einer Wärme, die sich auch in der Kameraarbeit von Eric Steelberg („Baywatch“) wiederfindet, genauso wie in dem unaufgeregten Score von Rob Simonsen („Begabt – Die Gleichung eines Lebens“). Zu guter Letzt darf ein Blick auf die umwerfende Mackenzie Davis („Blade Runner 2049“) nicht fehlen: Wie einnehmend und undurchdringbar der „Halt and Catch Fire“-Star seiner sehr jungen Figur zu Weisheit und Liebenswürdigkeit verhilft, ist schlicht ganz großes Kino.

Fazit: „Tully“ ist ein würdevolles Plädoyer für sämtliche Facetten des Mutterseins, für das sich Charlize Theron in der Hauptrolle für diverse Filmpreise der kommenden Saison qualifiziert und dem Namen Jason Reitman zu neuem Glanz verhilft.

„Tully“ ist ab dem 31. Mai in den deutschen Kinos zu sehen.

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