Victoria

Dieser Film setzt Maßstäbe: Sebastian Schippers Thrillerdrama VICTORIA wurde in einem einzigen Take gedreht und erzählt von der verhängnisvollen Nacht einer Clique, die nach und nach auf die schiefe Bahn gerät. Dabei schafft es der Regisseur, eine Atmosphäre zu kreieren, die den Zuschauer immer weiter in ihren Bann zieht, bis er selbst schließlich zum Teil dieser schwerwiegenden Tour-de-Force wird. Nach diesem Film wird man das deutsche Genrekino nie wieder totsagen. 

Victoria

Der Plot

Die junge Spanierin Victoria (Laia Costa) genießt während eines Urlaubs das pulsierende Berliner Nachtleben. Vor einem Szene-Club trifft sie auf eine Männerclique, bestehend aus dem zurückhaltenden Sonne (Frederick Lau), dem Draufgänger Boxer (Franz Rogowski), sowie den beiden Freunden Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff). Die vier lauten, aber doch harmlosen Jungs nehmen das hübsche Mädchen in ihre Mitte und zeigen ihr Berlin von einer ganz anderen Seite. Die Gruppe genießt die freie Zeit auf Dächern über der Hauptstadt und feiert in Untergrund-Bars, bis Victoria die Gruppe verlässt, um ihrer Arbeit in einem kleinen Café nachzugehen. Es dauert nicht lange, bis die jungen Männer dort aufkreuzen, um ihre neue Freundin um einen Gefallen zu bitten. Es winkt das verlockende Angebot, mithilfe eines Banküberfalls das große Geld zu machen. Infolgedessen gerät Victoria in einen tödlichen Strudel aus Aktion und Reaktion, bis die Morgendämmerung sie Stunden später wieder ausspuckt. Nichts wird von nun an so sein, wie es einmal war…

Kritik

Sebastian Schipper ist alles andere als ein Vielfilmer. Zwischen 1999 und 2015 brachte er lediglich drei Produktionen auf die große Leinwand; eine Zahl, über die Mainstream-Könige wie Til Schweiger und Co. nur müde lächeln können. Trotzdem ist Schippers Einfluss auf die deutsche Filmlandschaft nicht weniger essentiell. Mit „Absolute Giganten“ sowie „Ein Freund von mir“ gelangen dem gebürtigen Hannoveraner echte Kultperlen. 2009 folgte das Drama „Mitte Ende August“ und jetzt, sechs Jahre später, meldet sich Schipper erneut aus einer kreativen Pause zurück – und das mit einem Paukenschlag, wie ihn das immer wieder totgesagte, deutsche Genrekino schon lange nicht mehr erlebt hat. Sein Thrillerdrama „Victoria“ wurde auf der Berlinale mit Standing Ovations gefeiert, denn obwohl der Regisseur nichts erzählt, was man nicht schon vielfach anderswo hat präsentiert bekommen, ist sein Film doch eine kleine Revolution. „One Night, One City, One Take“ heißt es vollmundig auf dem deutschen Kinoplakat und letzteres wird in diesem Kinojahr alle Blicke auf sich ziehen und den Jurys nationaler Filmpreise garantiert den einen oder anderen Award abluchsen. Sebastian Schipper dreht seinen Film in einem einzigen Take. Und anders als es Produktionen wie „Birdman“ zuletzt vorgaben, ist diese Versprechung in diesem Fall auch kein ausgeklügelter Coup der Cutter, sondern eine Tatsache: Der Norweger Sturla Brandth Grøvlen („Um jeden Preis“) setzt seine Kamera im Laufe der zweieinhalb Stunden tatsächlich nicht einmal ab. Eine technische Meisterleistung, durch die Schipper auch inhaltlich Pluspunkte zu sammeln weiß.

Victoria

„Victoria“ steht und fällt lange Zeit mit der Interaktion der Darsteller. Das mit 140 Minuten äußerst großzügig bemessene Leinwandspektakel, für das es Sebastian Schippers Angaben zufolge lediglich drei Anläufe brauchte, konzentriert sich insbesondere in der ersten Stunde kaum auf ein ausgewogenes Storytelling. Auch ist ihm nicht daran gelegen, dass der Zuschauer mithilfe gängiger Sehgewohnheiten in Sicherheit gewogen wird. Schipper hantiert munter mit den beiden Sprachen Deutsch und Englisch, verzichtet dabei sogar auf die im Deutschkino obligatorische Verwendung von Untertiteln und hebt die dadurch entstehenden Sprachbarrieren besonders hervor. Eine Story, die anhand üblicher Versatzstücke aufgebaut wird, eine Einleitung hat, die in einen situationsbedingten Höhepunkt gipfelt und schließlich von einem Finale abgeschlossen wird, scheint allenfalls durch. Stattdessen besteht das  Grundgerüst von „Victoria“ aus Dialogen und aus einer sich sukzessive aufbauenden Atmosphäre, die den Geist einer Berliner Nacht hervorragend einzufangen weiß. Sebastian Schipper, der gemeinsam mit seinem Kameramann das Drehbuch schrieb, nutzt die einzigartige Bildsprache, um das pulsierende Wabern der Hauptstadt direkt auf den Zuschauer zu übertragen. Dass die Hauptfiguren dabei nicht unbedingt als zur Identifikation einladende Sympathieträger fungieren, wird durch den Fokus auf die nächtlichen Spannungen hervorragend aufgewogen. Der Zuschauer bleibt nicht in der beobachtenden Position, denn so böten die Leinwandereignisse kaum genug dramaturgischen Unterbau. Stattdessen lässt es Sturla Brandth Grøvlens Kameraarbeit zu, dass das Publikum direkt ins Geschehen involviert wird. Es wird Teil dieser verhängnisvollen Nacht, wird von der Clique direkt in die Mitte genommen und hat schließlich genau denselben Streifzug vor sich, wie Victoria und ihre neuen Freunde.

Wenngleich „Victoria“ ein wenig braucht, eh der Zuschauer überhaupt einen Zugang zum Geschehen erhält, steigert sich die Sogwirkung der sich nach und nach aufbauenden Spannung mit der Zeit umso mehr. Dabei werden die zu Beginn noch lediglich punktuell auftretenden, starken Einzelszenen wie die Momente auf dem Dach oder ein Vier-Augen-Gespräch zwischen Victoria und Sonne von alltagsbedingtem Leerlauf unterbrochen. Für den ungeahnten Zuschauer ergibt sich schnell so etwas wie eine inszenatorische Berg-und-Tal-Fahrt. Doch die Belohnung für das zwischenzeitliche Zähne Zusammenbeißen ist ein eklatanter Tonfallwechsel, mit dem Schipper seinem Film nach rund einer Stunde in eine völlig neue Richtung lenkt. Von nun an wird aus dem verspielten Coming-of-Age-Film, der den Freiheitsdrang einer vermeintlich verlorenen Generation in den Mittelpunkt stellt, ein knallharter Thriller. Die Konsequenz innerhalb des Genre-Wechsels findet sich besonders im Tempo wieder. Wo sich Schipper zunächst (zu) viel Zeit lässt, drückt er ab sofort immens auf die Tube und lässt auf Aktionen direkte Reaktionen folgen. Der Zuschauer als Begleiter der Truppe kommt da kaum hinterher und genau das ist auch das anvisierte Ziel von „Victoria“: Das anfängliche In-Sicherheit-Wiegen, zusammen mit dem Gedanken, Sonne, Boxer, Blinker und Fuß seien trotz ihres eher rauen Umgangstons eigentlich ganz nette Kerle, weicht einer kaum einschätzbaren Tour-de-Force, in der nicht nur die Hauptfiguren ihre Moralvorstellungen überdenken, sondern so schnell Entscheidungen treffen müssen, dass die inszenatorische und thematische Bandbreite von „Victoria“ ins schier Unermessliche ausartet.

Victoria

Der Zuschauer kann sich dieser Ekstase irgendwann einfach nur noch hingeben. Er leidet mit, zittert zusammen mit den Hauptfiguren und muss schließlich darauf verzichten, zu überlegen, wie er in den jeweiligen Situationen handeln würde. Die anfänglich noch wohlüberlegte Identifikation weicht dem intuitiven Bewerten und dem ungläubigem Kopfschütteln darüber, dass Sebastian Schipper innerhalb einer Zweieinhalbstunden-Echtzeit-Handlung ein Feuerwerk an Twistrides abfackelt. Doch damit entfernt sich das Publikum nicht etwa emotional vom Geschehen; im Gegenteil. Ab dem Moment, in welchem unseren mittlerweile liebgewonnen Hauptfiguren die Sicherungen durchbrennen, ist der mittlerweile vollkommen reizüberflutete Zuschauer mehr denn je mit ihnen auf Augenhöhe. Fast scheint es so, als würde die ausweglose Situation aller Beteiligter das Publikum und die Akteure zusammenschweißen; die Akteure, die in „Victoria“ in einer ganz eigenen Liga spielen. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf der spanischen Newcomerin Laia Costa, die mit einer solchen Passion ans Tagwerk geht, dass sie den Film wohl auch alleine stemmen könnte, wenn da nicht allen voran Frederick Lau („Traumfrauen“) wäre, der ihr in vielen Szenen fast die Show stiehlt. Die Chemie zwischen den beiden passt sich der wabernden „Alles ist möglich“-Kulisse des Settings an. Die Leidenschaft, die zwischen dem Pärchen entfacht, ist vorsichtig und echt, doch die Lovestory-Prämisse drängt sich nie in den Vordergrund. Das trifft indes auch auf Burak Yigit („Willkommen bei Habib“) und Franz Rogowski („Love Steaks“) zu, die das Gestehen eher im Hintergrund beeinflussen.

Fazit: Basierend auf einem zum Großteil improvisierten Skript ist die Geschichte in „Victoria“ weniger der typische Crime-Thriller, denn vielmehr das kinematographische Abbild eines zur vollkommenen Freiheit neigenden Lebensgefühls. Die Darsteller saugen dieses in sich auf und geben es ungefiltert an den Zuschauer weiter. Das auf der Leinwand gezeigte Geschehen fühlt sich so echt an wie das wahre Leben – gerade deshalb ist „Victoria“ besonders. Natürlich liegt das Hauptaugenmerk des Films auf der bahnbrechenden, technischen Aufbereitung. Doch gerade dieser ist es zu verdanken, dass sich ein eigentlich so simpler Plot anfühlt wie die pure Innovation. Vereinzelten Leerlauf und Schwierigkeiten, sich mit den Sichtweisen der Hauptfiguren anzufreunden, sind nicht zu leugnen. Doch das sind kleine Schönheitsfehler im vielleicht besten, deutschen Film der vergangenen Jahre!

„Victoria“ ist ab dem 11. Juni bundesweit in den Kinos zu sehen!

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