Je suis Karl

„Deutschstunde“-Regisseur Christian Schwochow nimmt sich mit JE SUIS KARL nicht das erste Mal der deutschen Politik – ganz gleich ob in der Vergangenheit oder Gegenwart – an. Sein neuester Film nun ist laut und unbequem. Und auch ein klein wenig zärtlich. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Irgendwo in Berlin. Nicht irgendwann – heute. Ein Paket im Flur. Alex (Milan Peschel) ist Ehemann und Vater dreier Kinder. Er vergisst den Wein im Auto. Und wird anschließend durch eine verheerende Explosion aus der Routine seines Alltags gerissen. Er findet im Taumeln danach seinen Halt nicht wieder. Maxi (Luna Wedler) ist seine Tochter und eine kraftvolle junge Frau, die losgeht, in das, was Leben heißt. Die sich ihr Abnabeln anders vorgestellt hat, wütend wird und Fragen stellt. Der charismatische Karl (Jannis Niewöhner) ist längst losgegangen und scheint die Antworten zu haben, die Maxi noch sucht. Er fängt Maxi ab und auf. Kennt ihre Wut und das Ventil. Ist resolut, blitzgescheit und verführerisch tanzt er mit ihr auf des Messers Schneide. Als Teil einer Bewegung. Heute in Berlin. Morgen in Prag. Bald in Strasbourg – in ganz Europa. Es ist eine Machtergreifung.
Kritik
Selbst wer kein Wort des Französischen mächtig ist, ist in den vergangenen Jahren notgedrungen über die Vokabel „Je suis“ – zu Deutsch: „Ich bin“ – gestolpert. Notgedrungen deshalb, da die Wortherkunft, nämlich die Anschläge auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo vom 7. Januar 2015, längst keine schöne ist. „Je suis Charlie“, also „Ich bin Charlie“, wurde damals zu einer Solidaritäts- und Mitleidsbekundung in den sozialen Netzwerke; und fand im Nachhinein viele Nachahmer. Etwa nach der Terrorattacke auf dem Berliner Breitscheidplatz („Je suis Berlin“), oder – längst nicht so ernst gemeint wie ursprünglich von den Schöpfern des Ausrufs beabsichtigt – „Je suis Böhmermann“, als der Satiriker nach seinem umstrittenen Schmähgedicht auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu einer Staatsangelegenheit wurde. „Je suis Karl“ heißt nun der neueste Film von Christian Schwochow („Deutschstunde“), was ein Stückweit ein Spoiler ist. Aber entscheidend an dem Drama ist diesmal weniger das Wie, sondern vielmehr das Was. Was führt dazu, dass am Ende von „Je suis Karl“ dieser Ausruf getätigt wird? Schwochow kreiert den Weg zu der Antwort, die eigentlich gar keine ist, als deutliche Anklage gegen dieses Was. Vielleicht hier und da sogar zu deutlich. Aber die Thematik, das Aufbegehren der „Neuen Rechten“, ist eben kaum eine, die sich subversiv herausarbeiten lässt. Erst recht nicht dann, wenn sie aus der Perspektive einer sich durch die äußeren Umstände leicht verführbaren, jungen Frau erzählt wird, die einfach nur Halt im Leben sucht.
In „Je suis Karl“ geht es um die sogenannte „Re/Generation“. Einer von jungen Erwachsenen auf den Weg gebrachten, identitären Bewegung mit dem sämtliche Sympathien auf sich ziehenden Karl an der Spitze, der in etwa so mitreißende Reden hält wie einst Fred Hampton die Black-Panther-Community dazu aufforderte, für ihre Rechte einzustehen. Mit dem großen Unterschied, dass es der Re/Generation nicht darum geht, sich aus rassistischen Strukturen zu befreien, sondern die selbst welche schafft. Wodurch der Vergleich mit einem anderen radikalen Rhetoriker der Weltgeschichte deutlich näher liegt. Im Hinblick darauf, wie die Re/Generation und generell die Neuen Rechten agieren, wirkt dieses Bild vom Führer fast veraltet. Denn die Neuen Rechten nutzen heutzutage vielmehr den Schutz des Gruppenzusammenhalts, anstatt sich auf einen einzelnen Sprecher oder eine einzelne Sprecherin zu verlassen. Und all jenen, die es tatsächlich in hohe Ämter der Politik geschafft haben, lassen sich schon allein vom Auftreten genauso wenig etwaige Führerqualitäten zusprechen. Deutlich näher am Hier und Jetzt ist dagegen die Darstellung der Bewegungsmitglieder. Denn die nachwachsende Generation von Rassistinnen und Rassisten kommt eben nicht mehr mit kahlrasiertem Kopf und „Sieg heil!“-Rufen daher (in einer Szene wird eine Re/Generation-Zugehörige sogar vor versammelter Truppe dafür gerüffelt, dass sie ebendiesen Ausruf von sich gibt. Klar: Sonst würde die Gruppe aus ihrer Deckung heraustreten!). Stattdessen gehen diese Menschen viel subtiler vor. Und zwar derart, dass selbst die aus einer bekennend linken Familie stammende Maxi dem Charme der Re/Generation, vor allem aber ihrem Anführer Karl, verfällt.
„Im Hinblick darauf, wie die Neuen Rechten agieren, wirkt dieses Bild vom Führer fast veraltet. Denn die Neuen Rechten nutzen heutzutage vielmehr den Schutz des Gruppenzusammenhalts, anstatt sich auf einen einzelnen Sprecher oder eine einzelne Sprecherin zu verlassen.“
Dass „Je suis Karl“ mit einer Handkamera-Szene beginnt, in der ihre Familie einem Flüchtling über die Grenze nach Deutschland verhilft, stößt das Publikum mit der Nasenspitze auf Maxis politischen Background. Auch hier lässt sich leicht argumentieren, dass es Christian Schwochow respektive sein Thomas Wendrich („Ich und Kaminski“) mit ihrer Einordnung in Links und Rechts ein wenig zu gut meinen; „Je suis Karl“ ist definitiv kein Film der Grautöne. Gleichsam ist er (mit einigen wenigen Ausnahmen) einer, der fast vollständig aus der Perspektive der jungen Maxi erzählt. Ihre Wahrnehmung der Ereignisse ist hier der Schlüssel. Ihre Zugehörigkeit zu einer linken Familie empfindet sie als selbstverständlich – und die Überführung eines Flüchtlings über die Grenze entsprechend triumphal. Natürlich erhöht es auch die Fallhöhe: Dass sich selbst ein Mensch wie sie von der Re/Generation anreizen lässt, unterstreicht die (hier eben als sehr erfolgreich dargestellten) Methoden der Neuen Rechten. Und doch relativieren sowohl der intensive Beginn von „Je suis Karl“ als auch Luna Wedlers herausragende Performance diesen potenziellen Schwachpunkt. Schmerzhaft intensiv und radikal schildern die ersten Filmminuten das Zusammenbrechen eines Familienidylls und Maxis Wegbrechen der eigenen Identität, die im Umfeld von Vater, Mutter und Geschwistern so sicher zu sein schien. In einer Szene, in der die „Das schönste Mädchen der Welt“-Darstellerin ihren Schmerz nur so aus sich herausschreit, während der von Milan Peschel („Beckenrand Sheriff“) gespielte, wie gelähmt danebenstehende und den Verlust von Frau und Kindern im Folgenden in sich gekehrt und depressiv mit sich selbst auszumachen versuchende Vater das vollständige Gegenteil eines solchen Wutausbruchs verkörpert, beeindruckt Wedler vor allem auch durch ihre kraftvolle Physis. Wenn Maxi anschließend sichtbar leer und kraftlos durch Berlin wandert, benötigt es keine weiteren Erklärungen mehr: Dieses Mädchen hat alles verloren. Vor allem sich selbst.
Umso empfänglicher ist sie für die Avancen des verständnisvollen Karl, der ihr nicht nur Nähe, sondern auch Halt verspricht. Dasselbe gilt für die von ihm angeführte Re/Generation, deren Mitgliederinnen und Mitglieder Maxi in ihrem Opferstatus regelrecht hofieren. Dass die junge Frau, ihres ursprünglichen, moralischen Kompasses zum Trotz, ein Teil der Gemeinschaft wird, zeigt Christian Schwochow als zu jedem Zeitpunkt nachvollziehbaren Prozess aus dem Ursprung der Verzweiflung. Vor allem die Tatsache, dass sich Maxi nie selbst radikalisiert, sondern eher mitläuft und die Augen und Ohren vor den eigentlichen Absichten ihres neuen Freundes verschließt (in einer Szene hat sie beispielsweise einfach Kopfhörer auf, als gerade besonders radikale Pläne ausgetauscht werden, trägt zur Plausibilität der filmischen Abläufe bei. Doch „Je suis Karl“ stützt sich nicht ausschließlich auf die sukzessiven Veränderungen seiner weiblichen Hauptfigur. Hin und wieder bricht Schwochow aus Maxis subjektiver Perspektive aus und schildert wahlweise in Rückblenden oder Szenen ohne Maxis Anwesenheit das, was der jungen Frau verborgen blieb und bleibt. Zwar inszenieren die Kreativen diese Zusatzinfos nicht wie einen Twist. Dafür zeichnen sich die einen Entwicklungen zu schnell ab, während Karls Hintergründe sehr früh aufgeklärt werden, als dass sich das Vorausgegangene dadurch in irgendeiner Form entgegengesetzt wahrnehmen ließe. Gleichsam steigern diese gezielten Erzählentscheidungen die Spannung maßgeblich, indem wir Maxi in ein noch viel größeres Verderben rennen sehen, als wir bisher ahnten. Und vor allem stellt sich die Frage danach, wie radikal die Re/Generation wirklich ist, schon bald nicht mehr – und die Gefahr, in der Maxi sich befindet, ist noch präsenter.
„Dass die junge Frau, ihres ursprünglichen, moralischen Kompasses zum Trotz, ein Teil der Gemeinschaft wird, zeigt Christian Schwochow als zu jedem Zeitpunkt nachvollziehbaren Prozess aus dem Ursprung der Verzweiflung.“
Neben Luna Wedler brilliert auch Jannis Niewöhner („Cortex“) in seiner Rolle als redegewandter, verführerischer Anführer, den die Castingverantwortlichen kaum besser hätten besetzen können. Der 29-jährige Krefelder ist nicht bloß einer der begabtesten Mimen seiner Generation, sondern versprüht eine Präsenz, die es für die glaubhafte Verkörperung einer derartigen Figur unbedingt benötigt. Zu keinem Zeitpunkt stellt man infrage, dass Maxi Karl verfällt. Denn der muss eigentlich nicht mehr machen als charmant lächeln. Auch der hier nur selten zu sehende Milan Peschel agiert gewohnt stark. Seine Darstellung erinnert bisweilen an seine preisgekrönte Performance in Andreas Dresens Krebsdrama „Halt auf freier Strecke“. Die große Bühne gehört hier dennoch ganz der jungen Schauspielgeneration. Und die lässt „Je suis Karl“ in den besten Momenten beben und dröhnen.
Fazit: Christian Schwochows „Je suis Charlie“ ist in seiner direkten Darstellung der Methoden Neuer Rechter nicht gerade ein subtiler und damit längst kein kontroverser Film. Doch durch die Erzählperspektive der von Luna Wedler herausragend gespielten Maxi gibt er einen umso deutlicheren Einblick in eine neue Form des Radikalen.
„Je suis Karl“ ist ab dem 16. September 2021 in den deutschen Kinos zu sehen.