Pieces of a Woman

Das erste große Spielfilmhighlight 2021 startet am 7. Januar auf Netflix. In PIECES OF A WOMAN durchläuft Vanessa Kirby das Drama des Kindsverlustes in all seinen Facetten – das ist dabei zu gleichen Teilen von größter Tragik wie überwältigender Schönheit. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Das Bostoner Paar Martha (Vanessa Kirby) und Sean (Shia LaBeouf) steht kurz davor, Eltern zu werden. Doch ihr Leben ändert sich radikal, nachdem die geplante Hausgeburt in einer Tragödie endet. Damit beginnt für Martha eine jahrelange Odyssee, in der sie nicht nur mit ihrer Trauer, sondern auch mit den stark belasteten Beziehungen zu Sean und ihrer dominanten Mutter (Ellen Burstyn) fertig werden muss. Darüber hinaus muss sie sich der von der Öffentlichkeit verleumdeten Hebamme (Molly Parker) vor Gericht stellen.
Kritik
Heutzutage findet die Auseinandersetzung mit Filmen (und eigentlich auch jedweder anderen Form von Popkultur) oft nur noch in stark verkürzter Form statt. Die Bewertung erfolgt über Schulnoten, Prozentpunkte oder Smileys, die inhaltliche Analyse beschränkt sich – wenn überhaupt – auf einzelne Szenen oder Superlative; dieser oder jener Film ist wahlweise der beste oder schlechteste aller Zeiten, man kennt das. Das ist natürlich nicht überall so und nicht jedes Medium gibt ausführliche Essays zu jedem neuen Kino- oder Streamingstart her. In einer Fernsehzeitung, in der für ein sehr breites Publikum möglichst viele Filme bewertet werden müssen, ist einfach kein Platz für eine seitenlange Besprechung jedes einzelnen Details. Und so wird aus „The Revenant“ eben „der Film, in dem Leonardo DiCaprio mit einem Bären kämpft“, der Science-Fiction-Film „Possessor“ wurde im vergangenen Jahr nur deshalb so gehypt, weil er ja ach so brutal sei (die Szenen, in denen es blutig wird, nehmen nicht einmal fünf Minuten in Anspruch) und „Avengers: Endgame“ ist „das Superheldenspektakel des Jahres“ – und falsch ist an solchen sensationsgetriebenen Beschreibungen ja nun nichts. Schade ist nur, dass bei einer solchen Verkürzung oft das Wesentliche auf der Strecke bleibt. Das betrifft sowohl die detaillierten Stärken als auch etwaige Schwächen des Films. Kornél Mundruczós neueste Regiearbeit „Pieces of a Woman“, die ab dem 7. Januar auf Netflix abrufbar ist, könnte es auch so ergehen. Es würde nicht wundern, sollte das sich zentral mit dem Thema Verlust befassende Drama fortan darauf reduziert werden, „der Film mit der Geburt“ zu sein. Ebenjene Szene, auf die wir im Folgenden noch detaillierter eingehen werden, ist zweifelsohne brillant. Aber „Pieces of a Woman“ ist eben nicht nur diese Szene, sondern noch so viel mehr.
Besonderen Eindruck hinterlassen am Skript von Drehbuchautorin Kata Wéber (schrieb auch schon die Skripte zu Mundruczós Werken „Jupiter’s Moon“ und „Underdog“) zwei Szenen. Eine davon eröffnet „Pieces of a Woman“, die zweite beendet eine bestimmte Phase, die Hauptfigur Martha bis zu diesem Zeitpunkt durchschritten hat. Die in Zukunft garantiert noch vielzitierte Geburtsszene, die an zwei Tagen in insgesamt sechs Versuchen gedreht wurde, dauert sage und schreibe 23 Minuten von der ersten Wehe bis hin zum tragischen Unglück – erst dann folgen die Titeleinblendung und die eigentliche (Leidens-)Geschichte beginnt. Trotzdem ist alles davor nicht einfach nur ein Prolog, Mittel zum Zweck oder gar beides. Die in einer einzigen Einstellung (!) gefilmte Geburtsszene nimmt ihr Publikum mit auf einen erbarmungslosen Emotionsritt. Nun liegt es natürlich nahe, dass sämtliche Momente innerhalb dieser Szene vor allem deshalb so intensiv auf die Zuschauer:innen wirken, weil diese ja durch die Grundprämisse wissen, worauf „Pieces of a Woman“ hinausläuft. Man weiß einfach, dass dieser menschliche Akt nicht gut ausgehen wird und die Wahrnehmung ist davon eingefärbt, sodass man sie ganz automatisch intensiver wahrnimmt. Doch gleichsam gelingt Kornél Mundruczó das formidable Kunststück, innerhalb der ersten halben Stunde (und auch danach) so konsequent die Perspektive der Schwangeren und ihres Partners einzufangen, dass plötzlich nicht die Angst vor dem Kommenden dominiert, sondern das intensive Empfinden dessen, was Martha und ihr Sean gerade durchmachen.
„Die in Zukunft garantiert noch vielzitierte Geburtsszene, die an zwei Tagen in insgesamt sechs Versuchen gedreht wurde, dauert sage und schreibe 23 Minuten von der ersten Wehe bis hin zum tragischen Unglück – erst dann folgen die Titeleinblendung und die eigentliche (Leidens-)Geschichte beginnt.“
Das ginge natürlich nicht ohne die herausragende Leistung Vanessa Kirbys („Mission: Impossible – Fallout“), die ihres Filmehemannes Shia LaBeouf („The Peanut Butter Falcon“) und die von Molly Parker („Amerikanisches Idyll“). Letztere setzt als aufopferungsvolle Hebamme, die sukzessive mit der Situation überfordert ist und plötzlich ähnliche Todesängste durchsteht wie die von ihr betreuten Eltern, zunächst im Kleinen, später mit einem immer präsenteren Spiel Akzente und beeinflusst das Geschehen maßgeblich. Man spürt als Zuschauer:in förmlich ihren stetig steigenden Puls, der die Szenerie nach und nach verseucht. Ist Parkers Spiel eher unaufgeregt angelegt, ist Vanessa Kirbys Performance mit „Tour de Force“ am besten umschrieben. Kirby, die bislang selbst noch keine Geburt erlebte, bereitete sich vor, indem sie zahlreiche Dokumentationen und Reportagen zu dem Thema schaute, sich Informationen von diversen Hebammen einholte und sogar einer echten Geburt beiwohnte. Diese akribische Vorbereitung zahlt sich aus: Kirbys Spiel mit künstlichem Schwangerschaftsbauch gerät überwältigend intensiv und ist dabei stets vom Ablauf der Geburt selbst geprägt. Wenn sich ihr ganzer Körper und ihr Gesicht schmerzverzerrt zusammenziehen, Martha wimmert und fleht, dass es endlich vorbei sein möge, stehen die körperlichen Strapazen im Fokus. Zwischen den Wehen gelingen Kameramann Benjamin Loeb („Mandy“) aber auch immer wieder Aufnahmen puren Glücks; etwa wenn Ehemann Sean seine in der Badewanne sitzende Frau zärtlich zu sich zieht und sich das liebestrunkene Pärchen glücklich in den Armen liegt. „Pieces of a Woman“ zieht seine ganze Energie aus solch kleinen, überwältigenden Momenten, die nach dem tragischen Ende der Eröffnungsszene jedoch erst einmal nicht positiver Natur sind. Denn nicht nur der Zuschauer muss sich nach dem zermürbenden Auftakt erholen – „Pieces of a Woman“ handelt davon, wie die Mutter selbst dieses Erlebnis verarbeitet.
Das Drehbuch zeichnet das vom Verlust der eigenen Tochter kurz nach der Geburt schwer gezeichnete Ehepaar als komplett konträre Trauerarbeitleister. Während sich Sean um eine offene Auseinandersetzung bemüht, die Nähe zu seiner Frau sucht und in seiner Verzweiflung zwecks Emotionsabfuhr in alte (schlechte) Gewohnheiten zurückzufallen droht, leidet Martha im Stillen. Wenn wir die junge Frau direkt nach der Filmtiteleinblendung in äußerlich scheinbar normalem Zustand in ein Bürogebäude gehen sehen, in dem sie erst einmal einen jungen Mitarbeiter zusammenfaltet, der an ihrem Schreibtisch sitzt, dann könnte man sogar kurz auf die Idee kommen, hier möglicherweise eine Szene vor dem tragischen Ereignis zu sehen. Zu abgeklärt gelingt es Martha, ihre seelischen Wunden zu verstecken. Und wieder ist es eine winzige Beobachtung (ein heruntergelassener Wöchnerinnenslip, der unter der Klotür hervorlugt), die für Klarheit sorgt: Martha versucht sich nach dem Verlust in ihr altes Leben zu flüchten – und stößt dabei nicht nur ihren Partner, sondern auch Teile ihrer Familie vor den Kopf. Das sukzessive Auseinanderbrechen der Ehe (Statistiken zufolge bleiben nach solch einem Schicksalsschlag nur rund 50 Prozent aller Paare zusammen) zeichnet Kornél Mundruczó weitestgehend gewöhnlich als einen Strudel aus Missverständnissen, gegenseitigen Anschuldigungen und Hoffnungslosigkeit. Insbesondere ein tragischer Akt des körperlichen Näherkommens veranschaulicht die tiefen Risse in der Bindung zwischen Martha und Sean. Eine weitere brillante Szene, von der „Pieces of a Woman“ noch viele zu bieten hat.
„Das Drehbuch zeichnet das vom Verlust der eigenen Tochter kurz nach der Geburt schwer gezeichnete Ehepaar als komplett konträre Trauerarbeitleister. Während sich Sean um eine offene Auseinandersetzung mit dem Thema bemüht, die Nähe zu seiner Frau sucht und in seiner Verzweiflung in alte Gewohnheiten zurückzufallen droht, leidet Martha im Stillen.“
Die zweite zentrale bekleidet Ellen Burstyn („Interstellar“) als Marthas Mutter an vorderster Front. Wenngleich die schwierige Beziehung zwischen ihr und ihrem Schwiegersohn ein wenig mehr Raum einnimmt als nötig, so ist ihr bitterer Appell an ihre Tochter, doch bitte nicht über die Situation zu zerbrechen, der zweite Filmmoment, der „Pieces of a Woman“ maßgeblich prägt. Burstyn schiebt die (seelischen) Entwicklungen ihrer Tochter an, greift dafür aber gleichsam zu Worten, die sich wie Nadeln unter die Haut der Empfängerin bohren müssen – und die Zuschauer:innen können nur fassungslos zusehen. Bei solch einnehmenden Worten gerät fast in den Hintergrund, was für geschichtliche Dimensionen Burstyns Monolog einnimmt. Stattdessen ist es die mütterliche Verzweiflung, die sich hier beim Zusehen einbrennt. Und die Unsicherheit, ob ihre Worte bisweilen einfach nur unachtsam gewählt sind, oder gar bewusst zynisch geraten. Es ist eine spektakuläre Show, die Burstyn hier bietet; vielleicht gar ihre beste seit „Requiem for a Dream“.
Sicher ist es auch der äußerst subjektiven Erzählweise geschuldet, dass „Pieces of a Woman“ nicht allen Erzählfacetten gleich viel Aufmerksamkeit schenkt respektive schenken kann. Der Film orientiert sich voll und ganz an Marthas geistiger Verfassung, rückt immer gerade das in den Fokus, das für sie wichtig ist. Schade ist daran lediglich, dass ein nicht unwesentlicher Storyteil nur am Rande behandelt wird. Dass sich die Hebamme vor Gericht für ihre vermeintliche Missetat (ob sie an dem Vorfall tatsächlich eine Mitschuld trägt, überlassen die Filmemacher:innen bis kurz vor Schluss der Beurteilung durch ihr Publikum) zu verantworten hat, besäße gleichermaßen genug emotionale wie faktische Zugkraft, um ein Gerichtsdrama auf den Schultern zu tragen. In „Pieces of a Woman“ ist dieser Part jedoch nur ein Teilaspekt. Alles andere hätte vermutlich den inszenatorischen Rahmen gesprengt; Und mit einer aus „Boyhood“ bekannten Mentalität spielen in dieser Geschichte vor allem die Dinge eine tragende Rolle, die für die Protagonistin wichtig sind. Ein wenig schade ist es dennoch – gerade durch das für den Film im Gesamten fast ein wenig zu rührselige Ende gewinnt man den Eindruck, „Pieces of a Woman“ könnte eigentlich noch so viel mehr erzählen. Doch vermutlich wäre das dann kaum noch auszuhalten.
Fazit: „Pieces of a Woman“ ist ein herausragendes Stück Dramakino, an dem Vanessa Kirby mit der bislang besten Leistung ihrer Karriere einen großen Anteil hat. Ihre Tour-de-Force-Performance einer Gebärenden und später einer im Stillen trauernden Mutter gehört zum Besten, was es darstellerisch in den letzten Jahren zu sehen gab. Das gilt auch für weite Teile der Veranschaulichung menschlichen Leids.
„Pieces of a Woman“ ist ab dem 7. Januar bei Netflix streambar.
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