Kadaver

Ein neuer Genrefilm bahnt sich seinen Weg zum Netflix-Hit: Der norwegische Horrorthriller KADAVER startet mit unheilvoll-vielversprechender Prämisse, doch ihn ereilt dasselbe Schicksal wie so viele Eigenproduktionen des Streaminggiganten. Was wir damit meinen, das verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Als eine Nuklearkatastrophe eine Hungersnot verursacht, stehen Leonora (Gitte Witt), Jacob (Thomas Gullestad) und ihre Tochter Alice (Tuva Olivia Remman) am Rande des Überlebens. Eines Tages lädt das örtliche Hotel die Überlebenden zu einem Theaterstück ein, zu dem auch eine Mahlzeit gehört – als wohltätige Bemühung, um den Bedürftigen zu helfen. Die dreiköpfige Familie hat keine andere Wahl und beschließt, zum Hotel zu gehen, wo der Hoteldirektor Mathias (Thorbjørn Harr) das gesamte Hotel als Bühne präsentiert. Die Besucher erhalten Masken, die ihnen helfen sollen, sich von den Schauspielern zu unterscheiden, doch das Stück nimmt eine schaurige Wende, als die Publikumsmitglieder nach und nach verschwinden. Die Grenze zwischen Realität und Theater verschwimmt schnell, bis Alice unmittelbar vor Leonoras und Jacobs Augen verschwindet und es keine Zweifel mehr gibt: In Mathias‘ Hotel geht es nicht mit rechten Dingen zu.
Kritik
Bevor der Streamingdienst Netflix Ende Oktober weltweit den norwegischen Horrorthriller „Kadaver“ veröffentlichte, wurde die Regiearbeit des Langfilm-Debütanten Jarand Herdal mancherorts mit dem Genre-Geheimtipp „Der Schacht“ verglichen. Und ganz so weit hergeholt ist dieser Vergleich auch nicht. Die Geschichten beider Filme spielen in einer postapokalyptischen Welt. In beiden Filmen kommt es daraufhin zu einer Art Klassenkampf. Und in beiden Filmen spielt Essen eine nicht unwichtige Rolle. Nun hat „Der Schacht“ seine Gesellschaftsallegorie zwar reichlich plump vor sich hergetragen, höllisch unterhaltsam war der spanische Festivalliebling trotzdem. Ersteres trifft nun ebenfalls auf „Kadaver“ zu: Der auch für das Drehbuch verantwortliche Herdal lässt es sich nicht nehmen, seine ohnehin alles andere als subtile Symbolik mit jeder Menge analytischem Dialog zu unterfüttern – sodass am Ende auch wirklich jeder Zuschauer seine anvisierte Systemkritik versteht. Mit der Unterhaltsamkeit ist das dagegen so eine Sache. Ausgangslage und Setting stimmen, doch es gehört schon viel fragwürdiges Können dazu, eine derart vielversprechende Prämisse derart langweilig aufzubereiten wie hier geschehen.
Da sich die vom Streamingdienst für ein Netflix-Original beauftragten Filmemacher in der Regel ohne jedwede auferlegte Grenze austoben dürfen, kommen dabei nicht selten Werke mit äußerst üppiger Laufzeit zustande. Im Falle von Martin Scorseses „The Irishman“ fiel die Wahl der Regielegende sogar gerade deshalb auf die VOD-Plattform als Auswertungsportal, weil sein 209-Minuten-Epos klassischen Hollywoodstudios schlicht und ergreifend zu lang war. Kreative wie Michael Bay („6 Underground“, 128 Minuten), António Campos („The Devil all the Time“, 138 Minuten) oder Spike Lee („Da 5 Bloods“, 155 Minuten) dürften diese Freiheit zu schätzen wissen, auch wenn sich mittlerweile wiederholt die Beobachtung machen ließ, dass diese inszenatorische Carte Blanche aufgrund in Kauf genommener Längen nicht immer von Vorteil ist. Obwohl sich „Kadaver“ mit seinen 86 Minuten (Abspann inklusive) nicht in die Liste zu langer Netflix-Produktionen einreiht, lässt sich dennoch dieselbe Beobachtung machen, die sich auch im Falle von „The Irishman“, „The Devil all the Time“ und Co. anstellen ließ: Es hätte geholfen, vor der finalen Fertigstellung jemanden damit zu beauftragen, den Horrorthriller auf erzählerische Leerstellen abzuklopfen – auch wenn dabei am Ende vermutlich ein Film herausgekommen wäre, der gerade so mit Ach und Krach die 60 Minuten vollmacht.
„Obwohl sich „Kadaver“ mit seinen 86 Minuten nicht in die Liste zu langer Netflix-Produktionen einreiht, lässt sich dennoch dieselbe Beobachtung machen, wie bei „The Irishman“, „The Devil all the Time“ und Co.: Es hätte geholfen, vor der finalen Fertigstellung jemanden damit zu beauftragen, den Horrorthriller auf erzählerische Leerstellen abzuklopfen“
Dabei etabliert Jarand Herdal sein Szenario mehr als zügig: Nach einer rudimentären Einführung der Protagonistenfamilie sind wir bereits mittendrin im Hotel, das im Anbetracht der prekären Situation vor den verschlossenen Türen einem Paradies gleichkommt: Während draußen die Hungersnot tobt, dürfen die Gäste drinnen als Teil eines Theaterstücks ausgiebig schlemmen – Krimidinner à la Netflix, sozusagen. Mit seinen meterhohen Decken, dem edlen, mit vielen goldenen Akzenten versehenden Interieur und den darin umherwandelnden Maskenträgern erinnert das Setting unweigerlich an Stanley Kubricks Erotikdrama „Eyes Wide Shut“, wenngleich die Hochglanzbilder aufgrund der (zu) starken Ausleuchtung billiger wirken als es sein müsste. Die Optik von „Kadaver“ wirkt maximal clean – selbst bei der Inszenierung von nackter Haut oder – noch stärker – Gewalt bleiben die Bilder sauber und geordnet. Eine Körperlichkeit wie man sie von einem Netflix-Film mit dem nicht gerade subtilen Titel „Kadaver“ hat erwarten dürfen, spürt man hier nicht. Dabei gilt die unbändige kreative Freiheit für Netflix-Regisseure ja nicht bloß im Hinblick auf die Lauflänge, sondern auch darauf, was im Film gezeigt wird. Und nach „Tyler Rake: Extraction“, „Apostle“ oder auch „The Night comes for us“ (genaugenommen kein Netflix-Original, aber ein Film, der bei einer regulären Kino- respektive Heimkinoauswertung niemals ungekürzt hätte erscheinen können) hat sich Netflix der Darstellung physischer Gewalt gegenüber bislang äußerst aufgeschlossen gezeigt.
In „Kadaver“ dagegen eskaliert die Situation nach einem viel zu langen ersten Akt des ziellosen Umherirrens im Hotel und der schnell redundant werdenden Fragestellung, ob Szenerien von Sex und Gewalt wirklich Teil des Theaterstücks oder doch echt sind, zwar auch, aber ebenjene Eskalation beschränkt sich in erster Linie darauf, Hauptdarstellerin Gitte Witt („The Impossible“) dabei zuzusehen, wie sie wiederum Maskierten dabei zuschaut, wie diese nach und nach Hotelgäste verschleppen. Zu welchem Zweck dies geschieht, sei dem offensichtlichen Titel zum Trotz zwar nicht verraten, aus welchem Grund man für diesen Zweck ein derartiges Theaterszenario benötigt, können wir derweil gar nicht verraten – einfach, weil die Macher ihre an den Haaren herbeigezogene Begründung selbst nicht recht zu glauben scheinen, sodass das gebetsmühlenartig von Hoteldirektor Mathias wiederholte Credo mit der Zeit immer lächerlicher anmutet. Dabei besitzt „Kadaver“ durchaus Ansätze, die Potenzial offenbaren. Wenn die kleine Alice zu Beginn des Films vom Veranstalter in sein Wunderland geladen wird, schürt diese Anspielung an den Lewis-Carroll-Klassiker „Alice im Wunderland“ große Erwartungen – aufgegriffen wird sie später jedoch nicht mehr.
„Aus welchem Grund man für diesen Zweck ein derartiges Theaterszenario benötigt, können wir derweil gar nicht verraten – einfach, weil die Macher ihre an den Haaren herbeigezogene Begründung selbst nicht recht zu glauben scheinen.“
Dafür, dass man aufgrund der von Anfang an arg zwielichtigen Attitüde des Hoteldirektors niemals ernsthaft in Erwägung zieht, dass es sich bei der Inszenierung tatsächlich bloß um ein Theaterstück handelt (und somit keine Fallhöhe zur endgültigen Erkenntnis existiert, dass hier etwas gewaltig im Argen liegt), können die Schauspieler nichts. Genauso wenig für einige hanebüchene Drehbuchentscheidungen, die die Charaktere selbst an Genrefilmverhältnissen gemessen arg dumm aussehen lassen. Viele von ihnen fallen offensichtlich nur, weil der Plot sonst bereits nach wenigen Minuten zu Ende wäre. So aber stolpert Leonora – mal mit, mal ohne Familie – oft einfach nur minutenlang durch die zahlreichen verwinkelten Hotelgänge, um anschließend erneut irgendeine abscheuliche Entdeckung zu machen. Und trotzdem bleibt der Shock Value bis zuletzt erstaunlich niedrig – alles hier hat man irgendwo schon mal besser gesehen.
Fazit: Ein vielversprechendes Setting trifft auf eine mangelhafte Umsetzung – der norwegische Horrorthriller „Kadaver“ ist trotz gesellschaftspolitischer Brisanz zu zäh, zu vorhersehbar und zu zahm, um der bissigen Intention der Macher gerecht zu werden.
„Kadaver“ ist ab sofort bei Netflix abrufbar.
Sehr überzeugend der Mittelteil der Kritik über exzessive Filmlängen, durch Netflix etc. ermöglicht. Man missachtet, dass ca. 100 Minuten ideal sind für die Aufnahmefähigkeit ‚moderner‘ Zuschauer. Wenn der Stoff nicht in diesen Zeitrahmen passt, dann eben Mehrteiler. Die Problematik ist mir schon bei einigen DIRECTORS CUTS aufgefallen. Zum Beispiel AMADEUS. Abgesehen davon, dass die neue Synchroni-sation einfach schlecht ist, alle neu eingefügten Szenen sind überflüssig, eine sogar geschmacklos.