Luca

Die Pixar Animation Studios entführen uns in ihrem Sommerfilm LUCA nach Italien und erzählen mit zwei an Land tollenden Seemenschen eine Geschichte von Akzeptanz und Freundschaft. Wie herzlich das geraten ist, verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Die italienische Riviera, irgendwann zwischen den Fünfziger-, Sechzigerjahren: Luca ist ein vorpubertäres Seewesen mit übervorsichtigen Eltern. Eines Tages überkommt Luca jedoch eine Mischung aus Neugier und rebellenhafter Stimmung, so dass er sich an Land begibt, wo er nicht nur erstaunt feststellt, dass er im trockenen Zustand wie ein Mensch aussieht. Nein, er macht obendrein Bekanntschaft mit dem abenteuerlustigen und etwas großmäuligen Alberto. Der bringt Luca bei, wie es ist, einfach mal an den Moment zu denken, seinen eigenen Kopf durchzusetzen und sich in die Menschenwelt einzufügen. Alsbald träumen Luca und Alberto davon, sich eine Vespa zu besorgen und frei durch die Gegend zu düsen. Also mischen sie sich unter die Bevölkerung von Portorosso und nehmen mit Fischertochter Giulia an einem Wettrennen teil, bei dem genug Geld winkt, um sich, naja, eine Beinahe-Vespa zu leisten. Aber nicht nur Lucas Eltern könnten sich diesem Traum in den Weg stellen, sondern auch Dorfrüpel Ercole oder Giulias Vater …
Kritik
Mit „Luca“ wird nun schon der zweite Pixar-Langfilm in Folge ohne Kinoauswertung bei Disney+ abgeladen. Laut den US-Branchenportalen sorgt es innerhalb der Animationsschmiede aus Emeryville für Unmut, dass der Disney-Konzern Familien und Animationsfans nicht einmal die Option gibt, „Soul“ und „Luca“ auf der großen Leinwand zu genießen (ein paar Sondervorführungen mal ausgenommen). Ganz davon zu schweigen, dass es firmenintern seltsame Signale sendet, wenn Disney manche Filme als so wertig empfindet, dass sie parallel zu einem „Im Kino, wo es möglich ist“-Start zunächst gegen Gebühr auf Disney+ erscheinen – während Pixars Filme pandemiebedingt wie der Totalfehlschlag „Artemis Fowl“ behandelt werden. Es ist ein Jammer, und es bleibt nur zu hoffen, dass erstens die während der Pandemie erdachten, sonderbaren Auswertungsmodelle bald der Vergangenheit angehören. Und zweitens bleibt zu hoffen, dass das Maushaus der Kreativschmiede Pixar wieder die ihr gebührende Wertschätzung gibt. Weitere Filme wie „Luca“ würden wir nämlich nicht missen wollen. Denn mit diesem Kunstmärchen liefert Regisseur Enrico Casarosa (inszenierte schon den Pixar-Kurzfilm „La Luna“) eine bezaubernde Verarbeitung von Kindheitserinnerungen ab.
Bevor Casarosa in die USA zog, um Filme zu machen, war er ein schüchterner Junge, der seine Kindheit in einem italienischen Küstenort verbracht hat und (wie der Titelheld in seinem Film) Eltern hatte, die aufgrund gut gemeinter Fürsorge zu gluckenhaft mit ihm umgingen. Als er den etwas älteren, aus sich herausgehenden Jungen Alberto kennenlernte, dessen Eltern ihn an einer zu langen Leine hielten, freundeten sich die Zwei sofort an. Sie beide sahen sich als Außenseiter, die einander den Rücken stärken, und stürzten sich in allerlei Eskapaden. Heute ist der wahre Alberto Kampfpilot und Colonel. Trotzdem verbindet ihn und Casarosa weiterhin eine innige Freundschaft. Eine wirklichkeitsnahe Verfilmung von Casarosas Sommerabenteuern wäre vielleicht auch reizvoll gewesen. Doch ähnlich wie schon beim mit magischem Realismus versetzten Kurzfilm „La Luna“, in dem er es verarbeitet hat, wie er als Knirps seinen Vater und seinen Großvater beim Streiten beobachtete, setzte Casarosa auf eine andere Herangehensweise: Er wollte den überwältigenden Gefühlen der Freude und Nostalgie Tribut zollen, die er beim Anblick von Polaroid-Fotos aus jener Zeit hat – und da die emotionale Wahrheit zeitloser und magischer ist als die Wirklichkeit, wurde aus der Geschichte zweier vorpubertärer Jungs in den Achtzigerjahren eine märchenhafte Erzählung über zwei Seemenschen, die in einem zwischen den Fünfzigern und Sechzigern gleitenden Italien an Land gehen.
„Da die emotionale Wahrheit zeitloser und magischer ist als die Wirklichkeit, wurde aus der Geschichte zweier vorpubertärer Jungs in den Achtzigerjahren eine märchenhafte Erzählung über zwei Seemenschen, die in einem zwischen den Fünfzigern und Sechzigern gleitenden Italien an Land gehen.“
Das ist eine Herangehensweise, die an Hayao Miyazaki erinnert – was nicht von ungefähr kommt. Casarosa verschlang als Kind frühe TV-Serien Miyazakis und ist auch Fan seines Filmschaffens für Studio Ghibli, das sogleich mehrere Animeklassiker verantwortete, die uns (nicht unbedingt konfliktarm, wohl aber) ohne großen Konflikt einfach in das Leben ihrer Protagonist:innen blicken lassen. Die haben halt zufällig magische Wesen als Nachbarn, arbeiten mit ihnen oder sind selbst welche, selbst wenn es der Geschichte und deren Emotionen nur zusätzlich Textur verleiht. „Luca“ ist eine Pixar-Version dessen: Im Mittelpunkt dieses Films stehen Lucas sich erst intensivierende, später verändernde Freundschaft mit Alberto, sowie die Bemühungen Beider, sich in Portorosso einzugliedern. Dabei spielt dann auch der jährliche Portorosso-Triathlon mit abgewandelten Regeln eine Rolle, da Luca und Alberto an ihm teilnehmen, um sich den gemeinsamen Wunsch einer Vespa zu erfüllen, die ihnen Mobilität, Freiheit und motorisierte Spritztouren ins Unbekannte verspricht. Doch das gemeinsam mit der quirligen Giulia abgehaltene Wettbewerbstraining stellt Alberto und Luca auf unerwartete Proben, während derer sie erkennen müssen, dass sie trotz aller Sympathie füreinander unterschiedliche Persönlichkeiten haben und deshalb manchmal aufgrund variierender Hoffnungen, Bedürfnisse und Befürchtungen andere Prioritäten setzen. Das Seemonster-Element ploppt insofern auf, als dass Luca sich vor seinen Eltern versteckt, die ihn aus Sorge vor dem, was ihm blühen könnte, wenn er auffliegt, mahnend suchen. Luca und Alberto haben diese vorgelebte Angst derart verinnerlicht, dass auch sie an Land aufschrecken, wenn sie nass werden und daher wieder wie Seewesen aussehen. Letztlich spielt dieser Aspekt jedoch nur eine untergeordnete erzählerische wie thematische Rolle.
Aufdringlicher würde es auch nicht zur Erzählfarbe des Films passen: „Luca“ legt den Schwerpunkt auf Freundschaft, Erkundungsdrang und Selbstakzeptanz, all dies vermittelt über sommerlich-kindliche Abenteuer. Das Seemonsterelement ist kaum mehr als eine diese Aspekte stützende Parabel, deren Bedeutung weit offen gelassen wird. Casarosa und die Autoren Jesse Andrews und Mike Jones überlassen es dem Publikum, welches „Wahres Ich“ Luca und Alberto verstecken, und gestatten so ein breit gefächertes Identifikationspotential. So oder so lebt „Luca“ durch den konfliktarmen Umgang sehr unaufdringlich vor, wie eine Welt aussieht, die diese Teilbotschaft des Films verfolgt: „Ja, gut, wir leben in einer Gesellschaft, in der solche Unterschiede auffallen, aber … sonst … *schulternzuckend lächeln*“ Dass dieser konfliktarme Ansatz funktioniert, liegt einerseits an Casarosas Regieführung, der die intime Natur des Films sowie der Figuren und die innige Passion des Regisseurs für das Setting durchweg anzumerken ist. Man fühlt sich in Casarosas fantasievoll verzerrte Kindheitserzählungen persönlich eingeladen, als würde er einem Focaccia, Eiscreme und Eistee reichend unter dem Sternenhimmel sein Herz ausschenken. Dieser Wohligkeit stünde mehr Dramatik im Weg.
Die wundervolle Optik des Films trägt dieses Gefühl konsequent weiter: Intensiv von ästhetischen Kleinigkeiten aus Miyazaki-Filmen und europäischen Stop-Motion-Produktionen wie „Mein Leben als Zucchini“ inspiriert, streift „Luca“ den nach einem Spagat aus Fotorealismus und Naturalismus strebenden Pixar-Hausstil ab. Die Figuren bewegen sich leicht stakkatoartig, das Wasser schlägt akzentuierte Bilderbuchwellen, die saftig-grüne Wiese und die pittoresken Steinbauten sehen so aus, als hätte jemand realistische Computertrickanimationen genommen und für die Extraportion Gemütlichkeit aufgepustet und abgerundet. Erzähl- wie animationstechnisch ist „Luca“ etwas ruhiger, gelassener, den Moment auskostender als bei Pixar üblich, so dass im Beinahestillstand die verzögerte Bewegung umso bedeutungsvoller wirkt – das ist nicht nur dem Einfluss Miyazakis und italienischer Filmklassiker der späten 1940er bis frühen 1960er zu verdanken, sondern passt auch perfekt zum „Es ist eine nicht mehr ganz so akkurate Erinnerung an einen so einschneidenden, aber eigentlich auch von viel Entspannung geprägten Sommer“-Grundgefühl des Films.
„Intensiv von ästhetischen Kleinigkeiten aus Miyazaki-Filmen und europäischen Stop-Motion-Produktionen wie „Mein Leben als Zucchini“ inspiriert, streift „Luca“ den nach einem Spagat aus Fotorealismus und Naturalismus strebenden Pixar-Hausstil ab.“
Vielleicht hätte es „Luca“ sogar gut getan, noch mehr erzählerische Ruhe und „Carpe diem“-Entschleunigung auszuleben. So würden wir noch deutlicher in Lucas Lage versetzt und mit ihm das Flair von Portorosso auskosten. Und enger nachfühlen, wie es ist, wenn einem der prahlerisch-exzentrische Alberto ans Herz wächst, und man dennoch erkennt, nicht nur ihn als Lehrer für Lebensstile haben zu wollen. Und, gewiss, schon jetzt lassen sich genug Artikel darüber finden, ob Pixar die Toleranz- und Selbstakzeptanzarabel von „Luca“ hätte spezifischer anlegen müssen oder nicht. Doch egal, wo ihr bei diesen Überlegungen auskommt, folgendes ist nahezu sicher: „Luca“ wird euren Tag aufhellen, Nostalgie für bestimmte Zeiten und Orte wecken, selbst wenn ihr sie nie erlebt habt, und der wunderschöne Schluss von „Luca“ lädt zum wohlig-blaumütigen Seufzen ein.
Fazit: Wunderschöne Optik, jede Menge Flair und sympathische Figuren machen „Luca“ zu einem entspannten, herzlichen Kleinod im Pixar-Kanon.
„Luca“ ist ab sofort auf Disney+ als Stream verfügbar.