Happier Than Ever: Ein Liebesbrief an Los Angeles

Exklusiv für Disney+ formen Robert Rodriguez und Patrick Osborne aus Billie Eilishs von den Schattenseiten des Ruhms, Missbrauch und Misogynie handelndem Album HAPPIER THAN EVER eine Konzerterfahrung, die zugleich Liebesbrief an Los Angeles sein will. Ob das gelungen ist, verraten wir in unserer Kritik.

OT: Billie Eilish: Happier Than Ever (USA 2021)

Darum geht’s

Die mehrfache Grammy-Preisträgerin Billie Eilish gibt auf der Bühne des legendären Hollywood Bowl ein Konzert. Vor leeren Rängen spielt sie gemeinsam mit ihrem Bruder Singer-Songwriter Finneas, dem Los Angeles Philharmonic unter Dirigent Gustavo Dudamel, dem berühmten brasilianischen Gitarristen Romero Lubambo sowie mit dem Los Angeles Children‘s Chorus ihr zweites Studioalbum „Happier Than Ever“. Erst- und letztmals in der Reihenfolge, in der die Lieder auf der Platte zu hören sind, mit Orchesterarrangements von David Campbell. Währenddessen streift eine gezeichnete Billie Eilish durch Los Angeles. Sie besucht in einer träumerisch-assoziativen Abfolge ikonische Winkel ihrer Heimatstadt. Aber wo will sie hin?

Kritik

In Martin Schreiers Film „Unsere Zeit ist jetzt“ beauftragt Rapper Cro drei Fans damit, jeweils einen Film über ihn zu drehen. Diese Filme-im-Film sind ein intimer Tourneemitschnitt, ein Liebesbrief ans Kino und eine animierte Cro-Ursprungsgeschichte. Daher hatten Fans von „Unsere Zeit ist jetzt“ womöglich ein Déjà-vu, als Disney den Trailer zu „Happier Than Ever: Ein Liebesbrief an Los Angeles“ veröffentlichte. Darin düst eine gezeichnete Billie Eilish im Vintage-Cabrio durch die kalifornische Großstadt (unter anderem vorbei an der Restaurant-und-Kino-Meile, die Quentin Tarantino in „Once Upon a Time in Hollywood“ verewigt hat). All das, während die reale Billie Eilish auf einer der berühmtesten Open-Air-Bühnen unserer Zeit auftritt – The Hollywood Bowl. Zugegeben: „Happier Than Ever: Ein Liebesbrief an Los Angeles“ ist kein Genremischmasch, sondern durch und durch ein Konzertfilm. Wir wollten dennoch die Gelegenheit ergreifen, euch an den vergnüglichen Kassenflop „Unsere Zeit ist jetzt“ zu erinnern. Und wir wollten einen Kritikeinstieg wählen, der auch die Neugier jener packt, die keine Fans von Billie Eilish sind. Denn Konzertfilme sind ein kniffliges Genre.

Stets im Zentrum der Aufmerksamkeit: Ausnahmusikerin Billie Eilish.

Gewiss: So manche Regiegröße hat sich bereits daran versucht, ein Mehr zu bieten, das auf dem bloßen Konzertgenuss aufbaut. Wim Wenders etwa hat in „Buena Vista Social Club“ zwischen Konzertaufnahmen die Lebensumstände der titelgebenden kubanischen Gruppe dokumentiert. Martin Scorsese wiederum fing mit „The Last Waltz“ einen musikhistorischen Wendepunkt ein und kommentierte dies, durchzogen vom Abschiedskonzert der Rocktruppe The Band. Und „Das Schweigen der Lämmer“-Regisseur Jonathan Demme gelang mit dem Talking-Heads-Konzertfilm „Stop Making Sense“ ein kleines Kunstwerk: Er öffnet sukzessive den Fokus des Films, lässt aus einer anfänglich intimen Erfahrung, die uns in die Position eines Bandmitglieds versetzt, nach und nach ein kollektives Konzerterlebnis entwachsen, bei dem die Erfahrungen der Musiker und die Begeisterung des Saalpublikums verschmelzen. Dennoch: Filmbegeisterte, die nichts mit den genannten Bands anfangen können, werden wohl kaum Fans dieser Werke. Man muss einfach Genuss aus dem Konzert selbst ziehen können, sonst fruchten bei Konzertfilmen selbst maximale Ambitionen nur minimal. Existiert eine Bindung zwischen Publikum und der dargebotenen Musik, ist jedoch alles, was darüber hinausgeht, äußerst willkommener Bonus.

„Man muss einfach Genuss aus dem Konzert selbst ziehen können, sonst fruchten bei Konzertfilmen selbst maximale Ambitionen nur minimal.“

„Happier Than Ever: Ein Liebesbrief an Los Angeles“ bietet ein bewegendes Mehr. Allerdings wird dieser Bonus nicht unmittelbar ersichtlich. Es gibt keine ergänzende Dokumentarstrecke wie in „Buena Vista Social Club“, und Billie Eilish macht zwischen den Liedern keine ausführlichen, ihre Intention erklärenden Kommentare wie Taylor Swift in „Folklore: The Long Pond Studio Sessions“. Das Mehr ist ein nicht verbalisierter, emotional kraftvoller Bonus, der tief im künstlerischen Konzept dieses Konzertfilms verwurzelt ist. Insofern erinnert dieser Konzertfilm an „Stop Making Sense“ oder an „Pink Floyd: Live at Pompeii“, in dem die Rockband vor leeren Rängen vom eindrucksvoll-desolaten Panorama Pompejis erdrückt wird. Man muss sich vollauf auf die Musik und die Songtexte einlassen (oder bereits mit ihnen vertraut sein), um zu erkennen, wie sich Lieder und Inszenierung ergänzen. Jedoch ist der Lohn umso größer, sollte man diese Bedingung erfüllen. Womit wir den Bogen zurück zu „Unsere Zeit ist jetzt“ schlagen: Selbst wenn „Happier Than Ever: Ein Liebesbrief an Los Angeles“ keinen Metakomödie-Romanze-Zeichentrick-Mockumentary-Konzertmitschnitt-Mischmasch darstellt, mutet er durchaus wie die Art Konzertfilm an, die die Filmversion von Cro erstrebenswert fände. Inklusive Zeichentrickelement, Verneigung vor eigenen Passionen (in Billie Eilishs Fall ist es halt Los Angeles anstelle von Cros Kinoleidenschaft) und einer intensiveren Introspektive als sie ein handelsüblicher Konzertmitschnitt zu liefern fähig wäre.

Billie Eilishs Album „Happier Than Ever“ verhilft dem Film zu seiner Dramaturgie.

Es ist beeindruckend, wie die Filmregisseure Robert Rodriguez („Sin City“) und Patrick Osborne („Liebe geht durch den Magen“), Gastregisseur Robertino Zambrano („Love In The Time Of March Madness“, inszeniert hier das Segment „Not My Responsibility“), Bühnenregisseur Kerry Asmussen (13-facher Liveregisseur der Coachella-Hauptbühnenshows) und Lichtregisseur Tony Caporale gemeinschaftlich aus dem titelgebenden Studioalbum ein audiovisuelles Erlebnis formen, das mit den Inhalten von Eilishs zweitem Album räsoniert. Das Projekt gewinnt bereits dadurch enorm, dass Billie Eilish beschloss, auf eine übliche Konzertdramaturgie zu verzichten, sondern ihr Album „Happier Than Ever“ von Anfang bis Ende auszuspielen. Damit beschert sie uns ein rares Biest von einem Konzertfilm, das wegrückt vom „Wir halten für die Nachwelt fest, welches Event die Leute vor Ort mitgerissen hat“-Gedanken, sondern sich als Visualisierung der emotionalen Reise versteht, die das Album beschreibt. Im Zusammenspiel damit, dass sie Eilish in pompösen Bildern vor leeren Rängen eines popkulturell bedeutungsvollen Schauplatzes zeigen, erzeugen die Köpfe hinter „Happier Than Ever: Ein Liebesbrief an Los Angeles“ ein faszinierendes Paradoxon – epochale Intimität: Die gestochen scharfen Aufnahmen von Kameramann Pablo Berron („American Mustang“) gestatten einen unmittelbaren Eindruck von Eilishs kleinsten mimischen Reaktionen, ebenso wie ein Gefühl für die Wucht der Lichtshow und die Aura der leeren Hollywood Bowl.

„Es ist beeindruckend, wie die Filmregisseure Robert Rodriguez und Patrick Osborne, Gastregisseur Robertino Zambrano, Bühnenregisseur Kerry Asmussen und Lichtregisseur Tony Caporale gemeinschaftlich aus dem titelgebenden Studioalbum ein audiovisuelles Erlebnis formen, das mit den Inhalten von Eilishs zweitem Album räsoniert.“

Anregung und Auswirkung eines Songs existieren in diesem Film gleichzeitig, intimste Gedanken werden in eine riesige akustische und visuelle Echokammer geleitet und maximiert. Rodriguez‘ Regie der Konzertmomente lässt uns hautnah daran teilhaben, wie die sich in ihren Liedern verlierende Eilish erneut den Gefühlstumult durchmacht, den sie in ihrem Album besingt, während das Produkt dieses Tumults furios zur Schau gestellt wird. Das Konzert beginnt mit Wehmut darüber, wie sehr die junge Künstlerin seit ihrem Durchbruch gealtert ist – im Sinne dessen, wie viele private Rückschläge sie erlitt, oder wie sehr Erwartungsdruck und die Schattenseiten des Ruhms drohten, ihre Passion fürs Musikmachen zu verderben. Lied für Lied ackert sich Eilish davon ausgehend durch Anstrengungen, sich Jugend und Leichtfüßigkeit wiederzuerobern, durch Augenblicke der Leichtigkeit, die sie ins Stolpern bringen, und durch detaillierte Reflexionen ihrer Prominenz sowie verletzliche, traurige und erzürnte Verarbeitungen emotionalen Missbrauchs. Mit dem entnervt-abgeklärten Ambient-Sound-Gedicht „Not My Responsibility“ erkämpft sich Eilish in der zweiten Hälfte dann einen wohlverdienten Gänsehaut-Trotzmoment, der zugleich als Wendepunkt im Konzertfilm dient.

Billie Eilish trat selbst schon auf den größten Bühnen der Welt auf. Diesmal wird es intimer…

Wenn Eilish später mit befreitem Lächeln auf der Bühne vor Freude zum Titellied tanzt und sich die darin besungenen Sorgen förmlich vom Leib schüttelt, springt ihre Katharsis geradezu aus dem Bildschirm heraus. Wir sehen das Konzert über eine ihre Lieder lebende Billie Eilish, die sich beim Singen in die Emotionen ihres lyrischen Ichs zurückversetzt. Doch nunmehr strahlt auch die Entertainerin Billie Eilish durch, die voller Genuss und Ehrfurcht die Freilichtbühne bespielt und dabei voller Passion eine aus distanzierter Haltung erfolgte Selbsttherapie mit Freude an dem Unterhaltungspotential dieses ungewöhnlichen Konzerts vereint. Ein Triumph, den sie sich auf dem Pfad zum Titelsong hart erarbeitet. Der emotional doppelbödige Epilog des Albums, „Male Fantasy“, entfaltet daraufhin einen völlig neuen Nachhall, weil seine Melancholie und resignierten Textpassagen trotz einer versöhnlichen Inszenierung vorführen: Man kommt aus dem Schmerz heraus, aber man kommt verändert aus dem Schmerz heraus. Die Trickfilmelemente werden auf dieser musikalischen und emotionalen Reise sporadisch eingesetzt, was ihre Bedeutung allerdings nicht schmälert. Osbornes gezeichnete Billie wirkt eingangs wie ein schlichtes Bindeglied zwischen einzelnen Liedern, jedoch arbeiten ihre punktgenau gewählten Auftritte auf einen gefühlvollen Pay-off hin.

„Wir sehen das Konzert über eine ihre Lieder lebende Billie Eilish, die sich beim Singen in die Emotionen ihres lyrischen Ichs zurückversetzt.“

Ob das zugleich ausreicht, um diesen Konzertfilm ruhigen Gewissens als Liebesbrief an Los Angeles zu bezeichnen, stellen wir zur Debatte. Die Mischfilmsequenzen atmen zumindest stark kondensiertes L.A.-Flair. Darüber hinaus ist „Happier Than Ever: Ein Liebesbrief an Los Angeles“ für Disney+ ein großer Schritt: Das Wort „Fuck“ wird zwar ausgeblendet, doch selbst Zeilen wie „Home alone, tryin‘ not to eat / Distract myself with pornography“ bleiben unangetastet. Nach dem rustikal-gemütlichen, zugleich einsichtsvollen Privatkonzert „Folklore: The Long Pond Studio Sessions“ und Beyoncés Bombast-Experiment „Black is King“ ist Billie Eilishs Konzertfilm „Happier Than Ever“ also der nächste außerhalb des disneyalltäglichen Rahmens gedachte Disney+-Musikbeitrag. Einer mit gewollt aus der Balance geratenem Schwerpunkt: Rau und ungeschönt, auf Hochglanz durchgestylt und ästhetisch erfüllend zugleich.

Fazit: Einen Draht zu Billie Eilishs Musik vorausgesetzt, bietet „Happier Than Ever: Ein Liebesbrief an Los Angeles“ allen Interessierten eine gekonnte Visualisierung und Intensivierung der rauen emotionalen Reise, die das titelgebende Album ausmacht.

„Happier Than Ever: Ein Liebesbrief an Los Angeles“ ist ab dem 3. September 2021 auf Disney+ zu sehen.

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