The Woman in the Window

Nach der Übernahme von 20th Century Fox durch Disney fiel Joe Wrights THE WOMAN IN THE WINDOW durchs Raster. Nun hat sich Netflix seiner angenommen und kann auf einen hochkarätig besetzten und edel ausgestatteten Kammerspielthriller bauen, dessen Inhalt seinem äußeren Erscheinungsbild allerdings nicht ganz gerecht wird. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Der an Agoraphobie leidenden Kinderpsychologin Anna Fox (Amy Adams) ist es unmöglich, ihr mitten in New York gelegenes Haus zu verlassen. Also beobachtet sie tagein, tagaus die perfekte Familie Russell von gegenüber durch ihr Fenster. Gerade erst dorthin gezogen, sucht der Nachbarsjunge Ethan (Fred Hechinger) Kontakt zu Anna und versteht sich auf Anhieb mit ihr. Doch die junge Frau ahnt, dass in der Familie des Teenagers irgendwas nicht stimmt. Diese Vorahnung bestätigt auch seine Mutter Jane Russell (Julianne Moore), die kurze Zeit später ebenfalls auf Annas Matte steht und einen redseligen Abend mit ihrer neuen Nachbarin verbringt. Kurze Zeit später wird Anna durch ihr Fenster Zeugin eines brutalen Verbrechens, das sie und ihr Leben komplett aus der Bahn wirft. Als sich offenbart, dass nichts um sie herum so ist, wie es scheint, muss sich Anna selbst fragen: Ist sie verrückt oder sind es die Menschen um sie herum?
Kritik
Die Filmadaption von A.J. Finns Weltbestseller „The Woman in the Window“ durch „Die dunkelste Stunde“– und „Abbitte“-Regisseur Joe Wright hat eine bewegte Produktionsgeschichte hinter sich. Zunächst fiel das sich konzeptuell überdeutlich an reduzierten Krimiklassikern der späten Fünfziger- und Sechzigerjahre orientierende Kammerspiel im Zuge der Übernahme von 20th Century Fox – heute 20th Century Studios – durch die Walt Disney Company durchs Raster. Bedeutet: Anstatt den immerhin stargespickten Film wahlweise ins Kino oder wenigstens in der Erwachsenenabteilung Star des hauseigenen Streamingdienstes Disney+ unterzubringen, gab man die Rechte alsbald an Netflix ab. Zuvor hatte man infolge haufenweise verwirrte Zuschauer:innen zurückgelassener Testscreenings nicht nur umfassende Nachdrehs angeordnet, sondern auch den von Atticus Ross und Trent Reznor („Gone Girl – Das perfekte Opfer“) beaufsichtigten Score komplett gecancelt und durch Kompositionen von Kollege Danny Elfman („Justice League“) ersetzt. Es schien also irgendwie der Wurm drin, der ein Stückweit auch noch in jenem Film zu erkennen ist, der nun – über zwei Jahre nach den Dreharbeiten – bei Netflix abrufbar ist. Dabei ist „The Woman in the Window“ gar kein besonders schlechter Film. Er ist nicht einmal so chaotisch, wie es seine Produktionshistorie andeutet. Aber er lässt eben auch ziemlich viel Potenzial liegen. Und vielleicht wäre es so weit nicht gekommen, hätte die Produktion des Films unter einem etwas besseren Stern gestanden…
Wenn die Figur einer Geschichte ein Verbrechen durch ihr Fenster beobachtet und anschließend alles davon handelt, wie ebendieses Verbrechen aufgeklärt werden kann, kommt man unweigerlich zu der Erkenntnis, dass Alfred Hitchcock mit seinem Krimiklassiker „Das Fenster zum Hof“ genau diese Prämisse schon vor über einem halben Jahrhundert ausgereizt hat. Doch anstatt diesen vermeintlichen Nachteil stumm hinzunehmen, geht Drehbuchautor Tracy Letts („Im August in Osage County“) getreu dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung!“ auf Konfrontationskurs und macht aus seiner Protagonistin Anna nicht bloß eine aufgrund einer Agoraphobie an ihre Wohnung gefesselte Angstpatientin, sondern auch einen großen Fan ebendieser Filme. Bereits wenige Minuten nach Beginn von „The Woman at the Window“ sehen wir Anna Ausschnitte aus „Das Fenster zum Hof“ mitsprechen, so gut kennt sie den Film mit James Stewart und einer wunderschönen Grace Kelly in den Hauptrollen. Regisseur Joe Wright weiß ganz genau um die Vorbilder seines Films und scheut auch nicht davor zurück, seinen Kameramann Bruno Delbonnel, der für ihn schon das preisgekrönte Winston-Churchill-Biopic „Die dunkelste Stunde“ ablichtete, um eine mit zahlreichen Querverweisen an ähnliche Krimis und Thriller angereicherte, elegant-erlesene Kameraarbeit zu bitten, die aus dem reduzierten Setting eines gar nicht so reduzierten, sondern – im Gegenteil – mit hohen Decken und zahlreichen Zimmern ausgestatteten Hauses möglichst abwechslungsreiche Bilder herauszuholen. Obwohl „The Woman in the Window“ die meiste Zeit über in derselben Wohnung spielt und der Blick auf das gegenüberliegende Wohngebäude und die darunterliegende Häuserschlucht die einzige Abwechslung ist, hat man nie das Gefühl, Einstellungen würden sich wiederholen. Dafür ist das Setting letztlich auch nur Mittel zum Zweck. Im Zentrum steht ganz klar das Schicksal der von Amy Adams („Arrival“) verkörperten Anna.
„Die Protagonistin Anna ist nicht bloß eine aufgrund einer Agoraphobie an ihre Wohnung gefesselte Angstpatientin, sondern auch einen großen Fan von Krimiklassikern wie ‚Das Fenster zum Hof‘.“
Diese etabliert das Skript von der ersten Szene an als Angstpatientin, der es aufgrund einer Agoraphobie (umgangssprachlich auch Platzangst) unmöglich ist, ihr Haus zu verlassen. Ihr einziger Kontakt zu anderen Menschen sind die Telefonate mit ihrem getrenntlebenden Ehemann (Anthony Mackie) und ihrer Tochter Olivia (Mariah Bozeman). Dadurch findet „The Woman in the Window“ zwar einen nachvollziehbaren Grund dafür, weshalb die Hauptfigur ihre eigenen vier Wände auch dann nicht verlassen kann, wenn sich auf der anderen Straßenseite offenbar gerade ein tödliches Verbrechen abspielt. Gleichzeitig schienen die Verantwortlichen ihrer betont reduzierten Ausgangslage nicht recht zu trauen. So kommt es, dass Anna nicht bloß regelmäßig von ihrem Psychotherapeuten (Tracy Letts) besucht wird und ihr Untermieter David (Wyatt Russell) ihr häufig einen Besuch abstattet, sondern sie gleichermaßen nicht davor zurückscheut, ihren bis dato fremden Nachbarsjungen Ethan sowie ihre ihr nicht weniger unbekannte Nachbarin Jane hineinzubitten respektive sich auf einen entspannten Abend mit Wein und langen Gesprächen einzulassen, wenn letztere ihr nach einem Schwächeanfall bei dem Versuch, das Haus zu verlassen, zurück in die Wohnung geholfen hat. So gerät Annas psychischer Zustand zunehmend ins Hintertreffen. Erst wenn sich in der zweiten Hälfte die Ereignisse überschlagen, spielt das Skript etwas aus, was bis dato kaum eine Rolle spielt, „The Woman in the Window“ allerdings deutlich stärker hätte machen können: die Frage, ob Anna ihren von Medikamenten und Alkohol vernebelten Sinnen überhaupt noch trauen kann, ob sich die Ereignisse um sie herum tatsächlich so abgespielt haben, oder sie das Ergebnis von Wahnvorstellungen sind.

Annas Nachbar Alistair Russell (Gary Oldman) verhält sich betont verdächtig. Detective Little (Brian Tyree Henry) versucht derweil, den Ereignissen auf den Grund zu gehen.
Nach einer knappen Stunde gibt es eine Szene, die genau diesen Umstand ausspielt und die dadurch zu den stärksten des Films gehört. Einen Moment, in dem Annas Realität für ein paar Minuten in sich zusammenstürzt und Joe Wrights Inszenierung dafür sorgt, dass sich auch das Publikum nicht mehr sicher sein kann, in welche Richtung „The Woman in the Window“ wohl noch gehen wird. Zugleich entpuppt sich diese Szene aber auch als qualitative Wendemarke für den Film, der nach dem ruhigen, im Hinblick auf Annas Geisteszustand vielleicht nicht ganz konsequenten aber letztlich doch gleichermaßen spannenden als auch undurchschaubaren Film einen wüsten Twistride macht und plötzlich auch Details aus dem Plotkonstrukt infragestellt, deren reales Dasein überhaupt nicht zur Debatte stand. Während sich der eigentliche Krimiplot fortan weitestgehend spannungsarm voranschiebt und nach gängigem Whodunit-Prinzip eine:n Verdächtige:n nach dem/der anderen vorstellt (von denen sich manch einer so gezielt verdächtig verhält, dass man genau weiß, dass es diese Person garantiert nicht sein kann), schmeißt das Skript stattdessen in allen anderen Bereichen plötzlich mit neuen Erkenntnissen und Enthüllungen um sich, die „The Woman in the Window“ sukzessive seiner Glaubwürdigkeit berauben. Das mag zu weiten Teilen auch daran liegen, dass manche Passagen aus der Buchvorlage arg eingedampft oder gar ganz weggelassen wurden. Im besten Fall merkt man einer Romanverfilmung eine zu Filmadaptionszwecken angestrengte Verknappung nicht an. Im Falle von „The Woman in the Window“ fehlen zwar keine eklatanten Handlungsdetails wie etwa in einem solchen Negativbeispiel wie Tomas Alfredson „Schneemann“-Verfilmung. Dafür kommen die überraschenden Enthüllungen auf der Zielgeraden in einer solchen Schlagzahl, dass es um die Authentizität schließlich nicht mehr allzu gut bestellt ist.
„Während sich der eigentliche Krimiplot weitestgehend spannungsarm voranschiebt und nach gängigem Whodunit-Prinzip eine:n Verdächtige:n nach dem/der anderen vorstellt, schmeißt das Skript stattdessen in allen anderen Bereichen mit neuen Erkenntnissen und Enthüllungen um sich, die ‚The Woman in the Window‘ sukzessive seiner Glaubwürdigkeit berauben.“
Dieses wackelige Konstrukt aus wenig glaubwürdigen Wendungen, einer unausgegorenen Charakterstudie, einem soliden Kriminalfall und einer erlesenen technischen Aufmachung zusammenzuhalten, ist im Falle von „The Woman in the Window“ die Aufgabe des Ensembles. Während Amy Adams einen Großteil der Handlung vollständig auf ihren Schultern stemmt und sich hochengagiert in ihre Rolle der angsterfüllten Anna hineinversetzt, fallen Großkaliber wie Gary Oldman („Mank“) oder Julianne Moore („Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“) dagegen überraschend deutlich ab. Vor allem Oldman agiert durchgehend an der Grenze zum Overacting, wenn er den Vorzeigeverdächtigen spielt. Julianne Moore dagegen kann nie verbergen, dass ihre Rolle nicht die ist, die sie vorgibt, was Anna fast schon als naive Person darstellt, ihrer Darbietung auf den Leim zu gehen. Wyatt Russell („22 Jump Street“) als Annas undurchsichtiger, aber sympathischer Nachbar sowie Brian Tyree Henry („Beale Street“) spielen dem Film entsprechend solide auf. Lediglich von Fred Hechinger („Eighth Grade“) hätten wir gern mehr gesehen, da dieser in seinen wenigen Szenen voll und ganz in seiner Rolle aufgeht und daher letztlich einen besseren Film verdient hätte, um das Potenzial seiner Figur voll ausspielen zu können.
Fazit: Ganz so chaotisch wie es die schwierige Produktionsgeschichte von „The Woman in the Window“ andeutet, ist der fertige Film zwar nicht geworden. Doch leider lässt sich der edel fotografierte, stargespickte Thriller in zwei Hälften Teilen. Während die erste als intensiv inszenierter Mix aus Charakterstudie und Krimi überzeugt, verliert sich der Film in der zweiten Hälfte in wüsten Twists, halbgar erzählten Handlungssträngen und wenig glaubwürdigen Darstellerperformances. Das Endergebnis ist noch immer halbwegs unterhaltsam, bleibt aber weit hinter seinem Potenzial zurück.
„The Woman in the Window“ ist ab sofort bei Netflix streambar.