Cuties

Ein Film über eine Handvoll lasziv tanzender Schulmädchen – CUTIES startete bei Netflix von der Plakatveröffentlichung an als Skandal. Doch wie berechtigt ist die Empörung? Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Die elfjährige Amy (Fathia Youssouf) wächst in einem streng muslimischen Familienumfeld auf. Als sie eines Tages an ihrer neuen Schule auf eine Clique junger Mädchen trifft, ist sie sofort fasziniert. Sie gehören einer selbst gegründeten Tanzgruppe an, die mit ihren lasziven Bewegungen und knappen Outfits so gar nichts mit Amys konservativen Familientraditionen zu tun hat. Sie beschließt, sich den anderen anzuschließen und damit auch ein Stückweit gegen ihre Familie zu rebellieren. Doch nicht nur zuhause bekommt Amy schnell Gegenwind.
Kritik
Was dem Disney+ sein „Mulan“ ist dem Netflix sein „Cuties“ – zumindest was die weltweite Wahrnehmung als Skandal angeht. Während sich zu Niki Caros Realfilmneuinterpretation des chinazentrischen Disneyklassikers gefühlt jeden Tag neue Empörungswellen auftürmen, sodass man mittlerweile überhaupt nicht mehr weiß, was jetzt eigentlich das Verwerflichste an dem 200 Millionen US-Dollar teuren Prestigeprojekt ist, lässt sich das Problem mit „Cuties“ dagegen ziemlich genau benennen: Alles begann mit einem Plakat, das die elfjährige Hauptfigur und ihre tanzenden Freundinnen leicht bekleidet und in lasziven Posen abbildet. Nun kommt diese Szene im Film zwar tatsächlich vor, aber man muss den genauen Kontext kennen, um sie moralisch bewerten zu können. Das wiederum geht natürlich nur, wenn man den Film bereits gesehen hat – als Werbematerial für einen Film, in dem es eigentlich darum geht, dass sich ein junges Mädchen aus ihren traditionellen Familienwerten freischwimmt und in einer sexy Tanzcombo vorgegaukelten Halt findet, eignet sich dieses Motiv daher nicht, da die Einordnung fehlt. Es ist eben einfach da – eine Momentaufnahme. Und zwar eine, die so ganz ohne Kontext mindestens fragwürdig ist. Das gilt übrigens auch für den Film, den die Regisseurin und Autorin Maïmouna Doucouré (Kurzfilm „Maman(s)“) zwar definitiv aus einer klar erkennbaren Erzählmotivation heraus inszeniert hat – der durch die sozialen Netzwerke spukende Vorwurf, „Cuties“ sei Kinderpornographie, ist also schon mal Quatsch. Aber ihr Stil ist definitiv provokant und das Skript leider nicht immer präzise genug, um die Provokation klar als solche herauszuarbeiten. Eine schwierige Angelegenheit.
Müsste man geistige Verwandte zu „Cuties“ benennen, fielen einem da als Erstes Filme wie „Kick it like Beckham“ oder in gewisser Weise auch der bereits zitierte „Mulan“ ein. Ein junges Mädchen stemmt sich gegen die strengen Auflagen von Religion und Herkunft; mal innerhalb klassischer Feel-Good-Konventionen, ein anderes Mal im ganz großen Märchenstil. Das Ziel dieser Reisen ist immer die weibliche Selbstbestimmung – das ist auch in „Cuties“ nicht anders. Maïmouna Doucouré gibt sehr früh sehr deutlich vor, in welcher Welt Protagonistin Amy aufwächst. Wenn der Zuschauer das erste Mal mit ihr und ihrer Familie in Berührung kommt, ist von religiöser Bestrafung die Rede, der man als Frau nur entgehen kann, wenn man sich züchtig verhält. Harter Tobak, der in Kombination mit der Beobachtung, dass der Glauben für die Hauptfigur keinerlei Vor- sondern ausschließlich Nachteile hat, fast schon die Stellung eines Antagonisten einnimmt – der Islam gegen ein unschuldiges Mädchen sozusagen; subtil ist das nicht. Aber die Regisseurin legitimiert diesen Eindruck damit, dass sie die Geschichte vollständig aus der Perspektive der Elfjährigen erzählt. Und dass diese sehr präsente Dinge ihrer Realität nicht ansatzweise so differenziert wahrnimmt, wie es der Zuschauer aus sicherer (analytischer) Entfernung tun kann, versteht sich von selbst. So mag die von Doucouré kreierte Welt zwar radikal und dadurch bisweilen plump anmuten, doch in letzter Konsequenz ist sie einfach nur so verwirrend und widersprüchlich wie von Amy wahrgenommen.
„Maïmouna Doucourés Stil ist definitiv provokant und das Skript leider nicht immer präzise genug, um die Provokation klar als solche herauszuarbeiten. Eine schwierige Angelegenheit.“
Als genaues Gegenteil zu den sehr strengen, züchtigen Konventionen in Amys muslimischem Umfeld funktioniert die offenherzige Tanzgruppe als Objekt ihrer Begierde natürlich hervorragend. Dass die Mädels allesamt als sehr extrovertiert und körperbetont dargestellt werden, ist da als konsequenter Gegenentwurf zu der kopftuchtragenden Amy nur nachvollziehbar. Darüber hinaus wirkt das Gebaren der drei heranwachsenden Frauen stark von äußeren Einflüssen geformt. Die Tanzschritte der Combo setzen sich aus diversen Moves gängiger Hip-Hop- und RnB-Musikvideos zusammen – und solange solch zweideutige Videoclips wie zu Nikki Minajs „Anaconda“ überall frei zugänglich sind, wundert es auch nicht, wenn sich schon junge Mädchen ihre Tanzinspiration von dort holen. Unterstützt wird dieser Eindruck von einer plastikhaften Bildsprache. Die grelle Ausleuchtung sorgt für eine billige Soap-Ästhetik, die starken Kontraste wirken wie ebenjene Musikvideos – oder wie irgendein Film von Bora Dagtekin. „Cuties“ ist kein schöner Film, sondern schon rein visuell äußerst anstrengend. Kameramann Yann Maritaud („Train Station“) hält die Kamera nie still. Wenn er seine junge Protagonistin von hinten verfolgt, werden mitunter gar Erinnerungen an Darren Aronofskys Lieblingsperspektive auf den Hinterkopf seiner davoneilenden Charaktere wach. Durch seine Linse wirkt alles in Amys Leben wie ein Rausch. Und in den steigert sich das Mädchen im Laufe der 96 Minuten immer weiter hinein, bis am Ende jedwede Persönlichkeit der puren Sexualisierung weichen muss.
Dass Maïmouna Doucouré mit all diesen extremen Stilmitteln arbeitet, um das Kernproblem einer körperfixierten Welt, in der schon Kleinkinder auf die Bühne von Schönheitswettbewerben gezerrt werden und Teeniemädels aufreizend für Katalog-Bademode posieren müssen, eins zu eins auf die Filmwahrnehmung zu übertragen, ist provokant, verfehlt sein Ziel, den Zuschauer mit dieser kranken (Entertainment-)Welt zu konfrontieren, dagegen nicht. Fraglich ist jedoch, ob die Regisseurin ihr Anliegen nicht auch hätte ebenso denkwürdig präsentieren können, ohne direkt derart in die Vollen gehen zu müssen. Muss Yann Maritaud den minderjährigen Darstellerinnen wirklich in Nahaufnahme durch die gespreizten Beine filmen? Müssen die Close-Ups auf wackelnde Mädchenhintern wirklich so lange und so prominent im Bild sein? Und bis zu welchem Grad ist das Gefühl des unangenehm berührt Seins von den Filmemachern noch intendiert oder aber bereits die Reaktion darauf, dass sie es mit ihrer Veranschaulichung von gesellschaftlichen Missständen schlicht und ergreifend übertrieben haben? Wann immer „Cuties“ mehr zeigt als es für die eindringliche Vermittlung der Botschaft notwendig wäre, rutschen die Aufnahmen ins Selbstzweckhafte – und der Film damit hinein in seinen nachvollziehbaren, wenngleich zu heiß gekochten Skandal. Denn Maïmouna Doucouré prangert mit ihrem Film ja genau das an, was die vielen Kritiker im Netz dem Film selbst vorwerfen: die Ausbeutung von Kindern und ihrer Körper. Aber sie tut dafür eben auch genau das, von dem sie sagt, dass man es nicht darf. Ein (zweifelsohne faszinierender) Widerspruch.
„Wann immer „Cuties“ mehr zeigt als es für die eindringliche Vermittlung der Botschaft notwendig wäre, rutschen die Aufnahmen ins Selbstzweckhafte – und der Film damit hinein in seinen nachvollziehbaren, wenngleich zu heiß gekochten Skandal.“
Und einer, der von solchen Szenen genährt wird, in denen Amys Handlungen mit jenen aus ihrem Umfeld kollidieren. Wenn wir als Zuschauer ihre Familiensituation als derart unterdrückend wahrnehmen, wie es sich für Amy eben anfühlt, dann wirkt die Tanzgruppe umso reizvoller und die skeptischen Erwachsenenstimmen gegenüber den lasziven Bewegungen wie ein Teil der „Gegenseite“. Doch wenn gen Ende ebenjene als Postermotiv herhaltende Tanzperformance stattfindet und die Zuschauer vor der Bühne (zu Recht!) buhen und mit dem Kopf schütteln, schüren die Macher die falschen Sympathien. In diesem Moment kann man eben nicht mehr auf Amys Seite sein, denn die Form des hier präsentierten Tanzes ist für eine Elfjährige einfach nicht tragbar. Der Film suggeriert indes, dass die, die den Mädels nicht zujubeln, ein Teil des Problems sind. Was fehlt ist die Grauzone. Denn natürlich soll jedes Mädchen auf der Welt frei über sich und seinen Körper entscheiden dürfen. Aber zwischen „Verschleiere dich!“ und „Tanz halbnackt wie eine Stripperin!“ gibt es eben auch noch ganz viele, jedes Alters entsprechende Abwandlungen.
Fazit: Ist der Skandal um „Cuties“ nun angebracht oder nicht? Die Antwort: jein. Die Regisseurin setzt auf eine provokative Stilistik, mit deren Hilfe sie auf soziale Fehlentwicklungen aufmerksam macht. Aber sie wendet sie zum Teil auch so an, dass sie genau das tut, wovor sie eigentlich warnen will.
„Cuties“ ist ab sofort bei Netflix streambar.