Kajillionaire

In KAJILLIONAIRE rückt die vermutlich skurrilste Diebesbande der Filmgeschichte regelmäßig zu alles andere als aufregenden Diebstählen aus. Das Ergebnis ist ein Film, der sich kaum in eine Schublade stecken lässt. Und in der nächstgelegenen liegt dann schon der Oscar-Gewinner „Parasite“. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Das Leben der 26-jährigen Old Dolio (Evan Rachel Wood) ist viel skurriler als das anderer junger Frauen. Seit ihrer Kindheit haben ihre Eltern, die eigenbrötlerischen Trickbetrüger Theresa (Debra Winger) und Robert (Richard Jenkins), sie darauf trainiert, jede Gelegenheit zum Gaunern und Stehlen zu nutzen. Gemeinsam betrügt sich die kuriose Familie durch ein weitgehend ereignisloses Leben. Doch der penibel geplante Alltag der Lebenskünstler gerät ins Wanken, als sie für ihren nächsten Coup die liebenswert temperamentvolle Melanie (Gina Rodriguez) ins Boot holen, die Old Dolios überschaubare Welt gehörig auf den Kopf stellt. Denn während die behütet aufgewachsene Melanie die prickelnde Aufregung des Trickdiebstahls sichtlich genießt, beginnt die emotional vernachlässigte Old Dolio sich plötzlich nach der Wärme einer traditionellen Familie zu sehnen.
Kritik
Im vergangenen Jahr startete die südkoreanische Thrillerkomödie „Parasite“ einen beispiellosen Siegeszug durch die Lichtspielhäuser dieser Welt. Die Krönung, neben diversen herausragenden Kritikeranalysen sowie der aktuell höchsten Gesamtbewertung eines Films auf der Filmliebhaberplattform Letterboxd: der Oscar in der Königskategorie „Bester Film“. Zum aller ersten Mal ging der Anfang 2020 an einen Film aus dem asiatischen Raum. So einen Film wie „Parasite“ – da waren sich ziemlich schnell ziemlich viele Leute einig – gibt es eben kein zweites Mal. Oder etwa doch? Nun, da wäre zum einen Osker Roehlers „HERRliche Zeiten“, eine nicht minder bissige Gesellschaftssatire aus dem Jahr 2018, in der ebenfalls ein wohlsituiertes Pärchen mit vermeintlich nieder gestellten Eindringlingen von außen konfrontiert wird, woraufhin die gesellschaftlichen Stände einmal kreuz und quer durcheinandergewirbelt werden. Und nun ist da auch noch Miranda Julys „Kajillionaire“, für den sich die Filmemacherin ein ähnlich skurriles Ausgangsszenario zurecht legt wie Regisseur Bong Joon Ho, aus diesem dann allerdings ein Heist Movie der etwas anderen Art kreiert. Von einem Einfluss von „Parasite“ ist zwar allein deshalb schon nicht auszugehen, weil Miranda July ihren Film bereits Ende 2017 zu schreiben und Mitte 2018 zu drehen begann, aber sie und Joon Ho eint die Faszination für die Familie als Gemeinschaft aus Lebenskünstlern. Mit dem feinen Unterschied, dass die Familie in „Parasite“ fasziniert zu den Reichen hinaufschaut, während Old Dolio und ihre Eltern kaum ernsthafte Motivation besitzen, sich irgendwann von ihren prekären Lebensumständen zu verabschieden.

Debra Winger ist Theresa, Evan Rachel Wood ist Old Dolio und Richard Jenkins ist Robert. Zusammen sind sie die Familie Dyne.
Eine „Kajillion“ beschreibt das Urban Dictionary als einen nicht näher bestimmten Geldbetrag. Als Kajillionaire kann man also entweder richtig reich oder bettelarm sein, solange man nur überhaupt ein paar Münzen sein Eigen nennen kann. Die Bezeichnung „Kajillionaire“ sagt also überhaupt nichts über die materielle Situation der Titelträger aus. Das passt zu der generell sehr grobmaschig gestrickten Charakterisierung der Protagonistenfamilie Dyne, deren Motivation für die vielen kleinen und sehr kleinen Gaunereien sich einem nicht sofort erschließt. Wenn wir Old Dolio und ihre Eltern Theresa und Robert in einer der ersten Szenen vor einem Postamt beobachten, wie diese ihren nächsten Coup planen (was in diesem Fall bedeutet, dass Old Dolio mit einem Schlüssel ein Schließfach öffnet und dann von innen heraus in die benachbarten Schließfächer langt, in der Hoffnung, dass sich dort irgendetwas Ergaunernswertes befindet), dann unternimmt die junge Frau auf ihrem Weg zum Postamt zunächst ein paar krude Verrenkungen, wie man sie eher von einem Superspion erwarten würde – was so gar nicht im Verhältnis dazu steht, dass die „Beute“ auch diesmal wieder nur den Wert von ein paar Euros beträgt. Da wirkt selbst die Warnung, die Familie müsse sich verstärkt vor den Überwachungskameras in Acht nehmen, wie übertriebene Panikmache – die Gaunerfamilie könnte vermutlich auch erhobenen Hauptes in die Filiale spazieren und niemand würde sich sie scheren.
„Und nun ist da auch noch Miranda Julys „Kajillionaire“, für den sich die Filmemacherin ein ähnlich skurriles Ausgangsszenario zurecht legt wie Regisseur Bong Joon Ho in „Parasite“, aus diesem dann allerdings ein Heist Movie der etwas anderen Art kreiert.“
Bei dieser einen skurrilen Szene bleibt es nicht. Stattdessen versteht sich „Kajillionaire“ gleich als eine ganze Ansammlung an Absonderlichkeiten. Mal geht Miranda July auch darauf ein, wie diese bizarren Situationen auf das Umfeld der Dynes wirken: Dass sich Old Dolio und ihre Eltern etwa mehrmals täglich ihren Wecker dafür stellen, plötzlich durch ihre Wohnungswände quellenden Schaum mit Plastikeimern aufzufangen, ist eben die exzentrische Antwort auf Bong Joon Hos Insektenvernichtungsmittel-Sprühodysseen. So skurril die Situation auch anmutet, so treffend umschreibt sie doch die prekären Lebensumstände der Dynes – und selbst für die kann die dreiköpfige Bande kaum genug Geld aufbringen. Dass ihr Vermieter um die Schaum-Situation weiß, verortet dieses Szenario als eines von wenigen in der Realität; Old Dolios akrobatische Anflüge, ein Raubzug im Haus eines alten, bettlägerigen Mannes, der sich von den Eindringlingen ein paar Alltagsgeräusche gegen die Einsamkeit wünscht, oder eine Szene auf einer öffentlichen Toilette, von der an sich plötzlich der gesamte Tonfall des Films ändert dagegen sind inszenatorisch immer gerade so überstilisiert genug, um im nächsten Moment als Traum oder Fantasie entlarvt zu werden. „Kajillionaire“ ist äußerlich kein Abbild der Realität, wenngleich Miranda July im Kern von tief verwurzelten, menschlichen Ängsten und Gefühlen erzählt. Auch wenn die Filmemacherin dann und wann Gefahr läuft, den emotionalen Kern ihrer Geschichte zu Gunsten von noch mehr Skurrilität aus den Augen zu verlieren. Das beginnt beim exzentrischen Äußeren der Hauptfiguren und endet dabei, dass selbst die unwichtigste Nebenfigur (Beispiel: Vermieter) irgendeinen amüsanten Spleen verpasst bekommt. Manchmal ist weniger mehr.
Doch der rosafarbene Schaum und die viel zu großen Jogginganzüge verdecken im Wesentlichen das Porträt einer sukzessive zerrütteten Familie. Miranda July wirft die Frage auf, was es genau benötigt, um eine Familie zu sein. „Wir teilen alles durch drei!“ sagt Old Dolio einmal und beschreibt sich zudem selbst nicht als Tochter, sondern als Komplizin. Für ihre Mutter ist die Pflicht mit dem gerechten Aufteilen der Beute erfüllt. Geburtstagsgeschenke und Kosenamen hält sie dagegen für unwichtigen Firlefanz, denn so etwas würde das Mädchen nur unnötig von ihrer Arbeit ablenken. Harte Worte, denen Debra Winger („Zeit der Zärtlichkeit“) und Richard Jenkins („Shape of Water – Das Flüstern des Wassers“) kaum Gesten der Liebe und Zuneigung entgegenzusetzen haben. Es ist schon schwierig, einen Zugang zu den beiden zu finden. Erst recht, weil es kaum Szenen gibt, in denen die beiden mal nicht mit ihrer Tochter interagieren und es somit möglich wäre, sie losgelöst von ihrer (missverstandenen) Elternrolle zu beurteilen. Erst im letzten Drittel widmet sich July der Läuterung; der dann allerdings auch im „Kajillionaire“-Style – und damit immer so, dass man davon ausgehen könnte, dass ihr Film doch nur auf einen einzigen, großen Coup hinausläuft. Nicht umsonst sagt ja auch Neuzugang Melanie, dass ihre Lieblingsfilme die „Ocean’s“-Filme seien.
„Doch der rosafarbene Schaum und die viel zu großen Jogginganzüge verdecken im Wesentlichen das Porträt einer sukzessive zerrütteten Familie.“
Gina Rodriguez („Auslöschung“) wirkt neben der passend zu ihrer Rolle vollkommen ohne Körperspannung und Selbstbewusstsein agierenden Evan Rachel Wood („Dreizehn“) wie ein Wirbelwind aus einem anderen Film. Ihre Begeisterung für die Dyne-Familie wirkt absolut ansteckend, wenngleich man sich abseits ihrer Vorliebe für Heist-Movies nicht wirklich erklären kann, wo diese denn überhaupt herrührt. Insgesamt erfährt man nur wenig über ihre Figur und auch darüber, inwiefern sie das absonderliche Auftreten überhaupt als solches wahrnimmt. Zumindest für den finalen emotionalen Punch ist das allerdings überhaupt nicht notwendig. Es genügt voll uns ganz, sie im Zusammenspiel mit Evan Rachel Wood zu erleben und wie sie einer Lebenskünstlerin selbst noch ein wenig was über das Leben beibringt.
Fazit: Hin und wieder läuft „Kajillionaire“ Gefahr, absurd um der Absurdität Willen zu sein, ohne dass es den Film inhaltlich besonders bereichern würde. Trotzdem – oder gerade deswegen – liefert Miranda July einen tragikomischen Film ab, dessen Figuren und Story mit kaum einem anderen Film vergleichbar sind.
„Kajillionaire“ ist ab dem 22. Oktober in den deutschen Kinos zu sehen.