Manchester by the Sea

Er brachte Casey Affleck seinen ersten Golden Globe ein, nun erobert Kenneth Lonergans weltweit gefeiertes Drama MANCHESTER BY THE SEA auch die deutschen Kinos. Weshalb der Film zu den besten des Jahres gehört, das verrate ich in meiner Kritik.Manchester by the Sea

Der Plot

Lee Chandler (Casey Affleck) ist ein schweigsamer Einzelgänger, der als Handwerker eines Wohnblocks in Boston arbeitet. An einem feuchtkalten Wintertag erhält er einen Anruf, der sein Leben auf einen Schlag verändert. Das Herz seines Bruders Joe (Kyle Chandler) steht still. Nun soll Lee die Verantwortung für seinen 16-jährigen Neffen Patrick (Lucas Hedges) übernehmen. Äußerst widerwillig kehrt er in seine Heimat, die Hafenstadt Manchester-by-the-Sea, zurück. Doch ist Lee dieser Situation und der neuen Herausforderung gewachsen? Kann die Begegnung mit seiner (Ex-)Frau Randi (Michelle Williams), mit der er einst ein chaotisches, aber glückliches Leben führte, die alten Wunden der Vergangenheit heilen?

Kritik

Kenneth Lonergan ist einer von der Sorte, den jeder kennt und zu dem trotzdem keiner ein Gesicht hat. Der 54-jährige New Yorker schrieb Drehbücher zu Filmen wie „Reine Nervensache“ oder „Gangs of New York“, verdingte sich als Schauspieler in „You Can Count on Me“ und „Margeret“ und wurde schon zweimal für den Academy Award nominiert. Sein neuestes Werk, das Charakterdrama „Manchester by the Sea“ sorgt nun für so viel Aufsehen, wie keiner seiner Filme zuvor. Derzeit gehen auf das Konto von Lonergans vierter Regiearbeit satte 182 Nominierungen für internationale Filmpreise, wovon er 86 gewinnen konnte. Casey Affleck („Triple 9“), Bruder von Ben Affleck und Hauptdarsteller in „Manchester by the Sea“, steht dabei im Fokus der Award-Vergaben. Am vergangenen Wochenende wurde er von der Hollywood Foreign Press mit dem Golden Globe ausgezeichnet und vermutlich wird es lediglich Denzel Washingtons bedrückend-erstklassiger Performance in „Fences“ noch gelingen können, ihm den Oscar in derselben Kategorie streitig zu machen. In „Manchester by the Sea“ spielt Affleck einen Mann, der alles hatte, alles verlor und ohne zu fragen die Chance dazu bekommt, das dadurch entstandene Trauma endlich aufzuarbeiten. Doch will man das wirklich, wenn man viele Jahre ganz gut damit gelebt hat, die schrecklichen Ereignisse zu verdrängen? Kenneth Lonergan konzipiert diese simple Geschichte als Meisterstück genreübergreifenden Erzählens, sagt sich von emotionalen Tabus los und lässt uns die vielschichtigen Figuren trotz ihrer Sperrigkeit ans Herz wachsen – knappe zweieinhalb Stunden lang.

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Patrick (Lucas Hedges) weiß nicht so recht, was er mit seinem Onkel Lee (Casey Affleck) anfangen soll. Umgekehrt ist es genauso.

In der US-amerikanischen Küstenstadt Manchester-by-the-Sea, die auch tatsächlich als Drehort für den Film diente, ist es kalt, die See ist rau und die Bewohner haben sich diesem ungemütlichen Charme angepasst. Für Hauptfigur Lee ist die Rückkehr in seinen Heimatort allerdings mit mehr verbunden, als einer Umstellung auf die Wetterbedingungen. Mit Manchester-by-the-Sea verbindet er gleichsam die schönsten, aber auch die schlimmsten Tage seines Lebens, die Regisseur und Drehbuchautor Kenneth Lonergan in Rückblenden an das Publikum heranträgt. Zu Beginn erweckt Lee Chandler noch den Eindruck eines verbitterten Zynisten – eine Charaktereigenschaft, die maßgeblich das Erscheinungsbild von „Manchester by the Sea“ beeinflusst. Denn trotz der thematischen Schwere, basierend auf dem erzählerischen Fokus, der sich vorzugsweise mit dem Thema Traumabewältigung befasst, erweckt der Film als solches nie einen schwermütigen Eindruck. Lees pechschwarzer Humor, einhergehend mit einem fast schon ironischen Pragmatismus ist es, der selbst den bittersten Zeiten glaubhaft humoristische Tendenzen zuspricht. Mit dieser Herangehensweise erinnert Lonergans Film an tragikomische Genrebeiträge der Marke „The Descendants“; selbst in den schwersten Stunden lässt das Leben es sich nicht nehmen, ein Augenzwinkern walten zu lassen. „Manchester by the Sea“ ist der Beweis dafür, dass man auch ohne gezielte Pointen für befreiendes Lachen sorgen kann – weniger, indem man es provoziert, als vielmehr, indem man die Situationen für sich sprechen lässt.

Indem Kenneth Lonergan die Hintergründe von Lee Chandler ganz behutsam offenbart, steckt „Manchester by the Sea“ voller erzählerischer Entdeckungen. Auf Twist-ähnliche Überraschungsmomente verzichtet der Regisseur dabei ganz gezielt. Vielmehr legt er den Kern seiner Hauptfigur Schicht für Schicht frei und gewinnt ihr somit kontinuierlich neue Facetten ab. Tritt dann aber erst einmal Newcomer Lucas Hedges („Kill the Messenger“) auf die erzählerische Bühne, bekommt der bravourös-nuanciert aufspielende Casey Affleck echte Konkurrenz. Mitunter scheint Lonergan das Potenzial von Hedges‘ heranwachsendem, verunsichertem Waisen Patrick nicht ganz zu erkennen. Wann immer er Affleck und Hedges gemeinsame Zeit gönnt, geraten diese anklingenden Vater-Sohn-Momente ungemein intensiv. Die Unsicherheiten auf beiden Seiten summieren sich zu fast schon grotesken Einzelszenen, in denen keiner so recht weiß, was er vom anderen halten, respektive überhaupt mit seinem Dasein anfangen soll. Lonergans Feingefühl, kombiniert mit einer äußerst detailreichen Beobachtungsgabe machen es ungemein spannend, der Entwicklung dieser familiären Bindung zuzusehen. Leider bremst sich „Manchester by the Sea“ immer dann ein wenig selbst aus, wenn der Regisseur Patrick für eine Weile außen vor lässt.

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Casey Affleck liefert in „Manchester by the Sea“ die beste Leistung seiner bisherigen Karriere ab.

Mit seinen 137 Minuten fordert das Drama viel Sitzfleisch, bietet dafür aber nicht nur ein exzellentes Charakterporträt einer streitbaren Hauptfigur, sondern auch Szenen, die von einer Kraft, Wucht und Intensität sind, dass es fast schon schmerzt. So ist etwa Michelle Williams‘ („Die fantastische Welt von Oz“) Figur nur für wenige Szenen überhaupt zu sehen, legt jedoch ein Herzblut in die Momente ihrer Auftritte, dass ihre wenigen Minuten dazu in der Lage sind, knappe zweieinhalb Stunden Filmlaufzeit maßgeblich zu prägen. Doch es sind nicht bloß die Hauptdarsteller, die hier allesamt so phänomenal lebensecht agieren, dass zu keiner Sekunde zur Debatte steht, ob das Gezeigte nun echt ist oder nicht. In „Manchester by the Sea“ stimmt von der Ensemble- und Einzelleistungen der Akteure und Aktricen, über die technische Komponente bis hin zur Wahl der Kulissen nahezu alles, sofern man von den winzigen Schwächen im Skript einmal absieht. Die Inszenierung an sich hat trotz ihrer visuellen Kälte etwas Warmherziges, versprüht das wohlige Flair auffangender Arme und gibt dem Publikum zu jeder Zeit zu verstehen, von welcher Wichtigkeit die Figuren mit all ihren Probleme sind. „Manchester by the Sea“ ist mit Sicherheit kein Wohlfühlfilm. Gleichwohl gelingt es ihm, das inflationär gebrauchte Credo vom Silberstreif am Horizont hier unaufdringlich unters Volk zu mischen, eben indem auf klischeehafte Wendungen und Verwicklungen verzichtet wird. Kenneth Lonergan lässt uns daran teilhaben, wie Menschen aus einer Situation das Beste herausholen, in der es auf den ersten Blick nichts herauszuholen gibt. Doch manchmal kann es schon eine im Pub angefangene Prügelei sein, die einem Mann mit gebrochenen Herzen das Gefühl gibt, überhaupt noch am Leben zu sein. Das Wesentliche steckt eben im Detail. Im Detail dieses Films, wohlgemerkt.

Fazit: „Manchester by the Sea“ zelebriert die Faszination der Gegensätzlichkeit, indem Kenneth Lonergan einen warmen Film über ein kaltes Thema inszeniert, sich die Wogen glättende Gespräche vor der Kulisse eines rauen Küstenstädtchens abspielen lässt und die Unbeholfenheit von Teenagern Probleme vermeintlich weiser Erwachsenen lösen können. Eine Perle subversiven Erzählens, deren emotionale Bandbreite fast überfordert.

„Manchester by the Sea“ ist ab dem 19. Januar in den deutschen Kinos zu sehen.

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